Russisches Nuklearroulette? Die Atomschlagdebatte in der russischen Think-Tank-Fachöffentlichkeit

Von Lydia Wachs (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin)

Russland flankiert seinen Krieg gegen die Ukraine von Beginn an regelmäßig mit Nuklearrhetorik. Bisher gingen diese nuklearen Anspielungen vor allem von russischen Eliten und Entscheidungsträger:innen aus. Gleichzeitig sind scharfe Debatten über den Einsatz von Nuklearwaffen in Talkshows im Staatsfernsehen schon zu einem Gemeinplatz geworden. Seit Mitte Juni führt nun auch die strategische Expert:innen-Fachgemeinschaft in Moskau eine intensive Diskussion darüber, ob Russland seine Eskalationsstrategie verschärfen und präemptiv Nuklearwaffen einsetzen sollte. Dieser Meinungsaustausch zeugt vor allem davon, dass der bisherige Kriegsverlauf diese Fachexpert:innen enttäuscht hat und die russische Einschüchterungsstrategie aus ihrer Sicht gescheitert ist. Einige Annahmen dieser konservativen Think-Tanker über die Rolle von Nuklearwaffen und das Risiko von Eskalationsdynamiken dürften aber dem Verständnis der russischen Führung widersprechen. So bleibt es äußerst fraglich, ob sie mit ihrer Argumentation die Politik des Kremls beeinflussen können.

Es war ein provokanter Beitrag des russischen Intellektuellen Sergej Karaganow, der diese intensive Nukleardebatte auslöste. Mittlerweile haben sich eine Vielzahl russischer Expert:innen zu Wort gemeldet, und dabei haben sich zwei Lager herausgebildet.

Die Hauptaussagen des ersten Lagers, zu dem Sergej Karaganow, Dmitrij Trenin sowie Andrej Frolow gehören, lassen sich grob in drei Punkten zusammenfassen. Erstens beklagen sie, dass westliche Eliten und Bevölkerungen die Angst vor Nuklearwaffen verloren haben. Russlands Nuklearwaffenpotenzial habe trotz Moskaus regelmäßiger Warnungen und Einschüchterungsversuche die USA und andere NATO-Staaten nicht davor abgeschreckt, die Ukraine zu unterstützen und einen Krieg an der »Flanke einer nuklearen Supermacht« zu führen. Daraus ziehen sie zweitens den Schluss, dass Moskau seine Strategie anpassen müsse. Um das westliche Engagement für Kyjiw zu unterbinden und einen direkten Zusammenstoß zwischen Russland und der NATO zu verhindern, sollte Moskau die Schwelle zum Nuklearwaffeneinsatz reduzieren. Insbesondere sollte Moskau mit intensivierten Drohgebärden die Furcht vor einem russischen Nuklearwaffeneinsatz im Westen wiederbeleben. Sollte dies nicht ausreichen, um den Willen des Westens zu brechen, so müsse Russland mehrere Ziele in europäischen NATO-Mitgliedstaaten, die die Ukraine am stärksten unterstützen, nuklear angreifen (Karaganow spricht dabei bildlich von der polnischen Stadt Posen, Anm. d. Red.). Eine derartige Wiederbelebung der Angst vor Nuklearwaffen würde nicht nur Russland, sondern die gesamte Menschheit retten. Dabei argumentieren Karaganow und Trenin drittens, dass das Risiko eines nuklearen Gegenschlags der NATO und einer Eskalation extrem gering sei und äußern große Zweifel an der Beistandsverpflichtung der westlichen Allianz und Washingtons nuklearen Sicherheitsgarantien gegenüber seinen Verbündeten. Die USA würden gegebenenfalls konventionell auf einen russischen Nuklearwaffeneinsatz in Europa reagieren. Russland würde daraufhin jedoch einen Nuklearschlag gegen die USA durchführen, woraufhin ihrer Ansicht nach keine weitere Eskalation folgen würde.

Das Lager der Kritiker:innen, welches sich insbesondere aus Alexej Arbatow, Konstantin Bogdanow, Fjodor Lukjanow, Dmitrij Stefanowitsch und Iwan Timofejew zusammensetzt, äußert hingegen große Zweifel an der Argumentation von Karaganow und Trenin und weist auf die Risiken einer verschärften russischen Eskalationsstrategie und einem Nuklearwaffeneinsatz hin. Ein Nuklearwaffeneinsatz würde Russlands strategische Probleme nicht lösen. Vielmehr würde dieser Schritt die westliche Position verhärten, eine unkontrollierte und katastrophale Eskalationsdynamik auslösen und auch von Staaten wie China abgelehnt werden.

Karaganow und Trenin sind bereits in der Vergangenheit durch kontroverse Thesen aufgefallen. Ihre jüngsten Debattenbeiträge erreichen jedoch ein neues Maß der Provokation. Welche Motive sie verfolgen, bleibt vorerst unklar. Sie könnten versuchen wollen, die Politik des Kremls zu beeinflussen, den Westen einzuschüchtern oder lediglich Aufmerksamkeit in den Medien oder der strategischen Fachgemeinschaft in Moskau zu erregen. Es bleibt jedenfalls fraglich, ob sie mit ihrer Argumentation den Kreml derzeit überzeugen und die russische Nuklearwaffenpolitik beeinflussen können.

Erstens unterscheidet sich ihr breites Verständnis über die Rolle von Nuklearwaffen von der derzeitigen russischen Abschreckungsstrategie. Dem Denken von Karaganow, Trenin und Frolow liegt offensichtlich die Annahme zugrunde, dass Russlands Atomwaffen die NATO vor jeglichen Schritten abschrecken sollten, die Moskau missfallen könnten. Hierzu gehören etwa die NATO-Osterweiterung oder das westliche Engagement für die Ukraine. Dies hat offensichtlich nicht funktioniert, und so erklären die Experten Abschreckung als befriedendes Element in den internationalen Beziehungen für tot. Lediglich eine verschärfte Eskalationsstrategie könne nukleare Abschreckung wiederbeleben.

Unter politisch-militärischen Eliten des russischen Generalstabs scheinen jedoch bereits seit langem Zweifel an der Glaubwürdigkeit von nuklearer Abschreckung und Drohungen gegenüber nicht-nuklearen und nicht-existenzgefährdenden Bedrohungen zu bestehen. Dies verdeutlichen strategische Debatten in Zeitschriften des Generalstabs wie Woennaja Mysl. So hat Moskau spätestens seit den 2000er Jahren versucht, durch die Modernisierung seiner konventionellen Streitkräfte die bisherige starke Gewichtung von Nuklearwaffen in der eigenen Abschreckungsstrategie zu reduzieren. Stattdessen umfasst Moskaus heutiges offizielles Konzept der strategischen Abschreckung (»strategitscheskoje sdershiwanije«) neben nuklearen Waffen auch konventionelle und nicht-militärische Mittel, um Russlands Abschreckung auch unterhalb der nuklearen Schwelle zu stärken. Auch die russischen Abschreckungsprinzipien aus dem Jahr 2020 unterstreichen, dass Kernwaffen Russland vor allem vor einem atomaren Angriff sowie einer konventionellen Aggression, die die Existenz des Staates bedroht, schützen sollen.

Moskaus Erfahrung im Krieg gegen die Ukraine dürfte dieses Verständnis über den begrenzten Nutzen von Atomwaffen stärken. Zwar scheint Moskau mittels nuklearer Drohgebärden versucht zu haben, neben der Abschreckung einer westlichen Intervention auch die Unterstützung für die Ukraine zu verhindern und Kyjiw zu erpressen. Dabei realisierte Moskau jedoch nur das erste Ziel, denn eine westliche Intervention blieb aus. Die russische Führung dürfte daraus den Schluss ziehen, dass nukleare Drohgebärden zur Unterbindung von westlichen Waffenlieferungen und anderen Unterstützungsmaßnahmen kaum glaubwürdig und damit ineffektiv sind, solange Moskau nicht bereit ist, höhere Risiken auf sich zu nehmen. Moskau hat jedoch seine Drohungen, Nuklearwaffen einzusetzen, weder verschärft und schon gar nicht ausgeführt. Ganz im Gegenteil, die russische Staatsführung hat die Nuklearrhetorik in den vergangenen Monaten eher wieder zurückgefahren. Wladimir Putin kommentierte beim Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg Mitte Juni zu den Forderungen Karaganows, dass er derzeit keine Notwendigkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes sehe und allein die Diskussion darüber gefährlich sei.

Darüber hinaus scheint die russische Führung auch nicht Karaganows und Trenins Annahme über das geringe Eskalationspotenzial eines russischen nuklearen Präemptivschlags zu teilen. Russlands Verhalten im Ukraine-Krieg zeigt stattdessen nicht nur deutlich, dass der Kreml die Folgen eines Atomwaffeneinsatzes einzuschätzen weiß. Auch sucht der Kreml tunlichst, eine direkte Konfrontation mit der NATO zu vermeiden. Und er scheint sogar vor dem Eskalationspotenzial eines direkten Zusammenstoßes und der Reaktion der USA zurückzuschrecken. Daher scheint es derzeit unwahrscheinlich, dass Karaganow und andere Verfechter:innen der Idee einer Absenkung der Nuklearschwelle den Kreml von der Glaubwürdigkeit und Durchführbarkeit einer intensivierten Eskalationsstrategie überzeugen können.

Das Risiko einer nuklearen Eskalation dürfte erst dann steigen, sollte das russische Regime angesichts einer drohenden Niederlage in der Ukraine massiv unter Druck geraten und Putin einen unmittelbaren Machtverlust befürchten. Unter diesen Umständen stiege auch die Glaubwürdigkeit von nuklearen Drohgebärden. Solange dies jedoch nicht der Fall ist, erscheinen die Forderungen der konservativen Think-Tanker auf den ersten Blick bedrohlich. Derzeit bleibt es aber unwahrscheinlich, dass der Kreml dieser rhetorischen Eskalation Taten folgen lässt.

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