Russlands neue konservative Staatsideologie war nicht als Mobilisierungsideologie gedacht, die die Massen politisch aktivieren soll. In den offenen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Februar 2022 ziehen daher selten Rekruten aus Enthusiasmus für die »Russische Welt«, sondern aufgrund von Zwang und materiellen Anreizen. Ein gewöhnlicher Soldatensold beträgt inzwischen 196.000 Rubel (Ende Dezember 2023: rund 2000 Euro) und damit fast das Dreifache eines Durchschnittsverdienstes (https://www.dekoder.org/de/article/krieg-ukraine-soldaten-besoldung-entschaedigung). Hinzu kommt eine umfangreiche Absicherung der Soldaten und deren Familien sowie ein soziales Aufstiegsversprechen. Vertragssoldaten und Wehrpflichtige werden damit gleichermaßen zu Söldnern, die man inzwischen auch im Ausland zu gewinnen sucht.
Russlands Krieg in der Ukraine kommt allerdings nicht ohne Ideologie aus. Mehr noch, er führt zu einer weiteren Stufe der Ideologisierung des Regimes. Am symbolträchtigen 9. November 2022, an dem nach dem Gregorianischen Kalender die Oktoberrevolution begann, unterzeichnete der Präsident der Russländischen Föderation Wladimir Putin das Dekret Nr. 809 über die »Festlegung der Grundlagen der staatlichen Politik zur Bewahrung und Stärkung der traditionellen russischen geistigen und moralischen Werte« (http://publication.pravo.gov.ru/Document/View/0001202211090019). Dieses Dekret hat eine interessante Vorgeschichte. Schon Anfang 2021 veröffentlichte das Kulturministerium einen Entwurf auf einer Onlineplattform, den registrierte Bürger:innen dort kommentieren durften (derzeit noch abrufbar auf der Webseite der Veteranen Russlands https://veteransrussian.ru/novosti/novosti-ood/proekt-ukaza-prezidenta-rf-osnovy-gosudarstvennoy-politiki-po-sokhraneniyu-i-ukrepleniyu-traditsionn/). Offenbar hielt der Kreml es für erforderlich, den Geist der 2020 de facto neuen Verfassung nicht nur in neue Gesetze und Strategiepapiere zu gießen, sondern auch noch einmal durch ein Werte-Dekret von dem Präsidenten als höchste »öffentliche Macht« im Staat bekräftigen zu lassen. Anfang 2021 konnte das Vorhaben noch angehalten werden. Ein Jahr später reichte die Kraft der verbliebenen »System-Liberalen« offenbar nicht mehr aus, um das Werte-Dekret noch zu verhindern. Ihm folgten eine Verschärfung des Gesetzes gegen die »Propaganda von Homosexualität«, das Verbot von Geschlechtsumwandlungen und eine Wiederauflage der sowjetischen Auszeichnung von »Mütter-Heldinnen« ab der Geburt von zehn Kindern, die Stalin 1944 eingeführt hatte. In der Staatsduma, im Gesundheitsministerium und in einigen russischen Regionen werden wieder Forderungen laut, das nach wie vor liberale Abtreibungsgesetz weiter einzuschränken, wobei eine erste Region im August 2023 ein Gesetz zum Verbot von »Propaganda für Abtreibung« beschlossen hat (https://www.rbc.ru/politics/03/08/2023/64cb63b99a794754a38336ff).
Gleichzeitig erreicht die Indoktrination eine neue Qualität. So wurde das bereits bestehende Schulfach »Grundlagen der Lebenssicherheit« in »Grundlagen der inneren Sicherheit und der (Landes-)Verteidigung« umgewandelt sowie ein neues einheitliches Geschichtsbuch für die Oberstufe für die Periode ab 1945 eingeführt. Ab September 2023 lehren Hochschulen ein neues fächerübergreifendes Modul über die »Grundlagen der russländischen Staatlichkeit und Zivilisation«. 2023 stellte die russische Regierung für die »Erziehung zum Patriotismus« 39,7 Milliarden Rubel (ca. 385 Millionen Euro) im Rahmen eines »Nationalen Projektes« bereit. Ein Jahr zuvor waren es lediglich 6,47 Milliarden Rubel.
Die Formulierung und Institutionalisierung einer konservativen Staatsideologie setzte nach der Rückkehr Putins in das Präsidentenamt 2012 ein. Jedoch begann die illiberal-konservative Ideologiearbeit bereits in den 1990er-Jahren. Sie wurde auch nicht von einigen wenigen »Vordenkern« mit einem besonderen Zugang zum Präsidenten geleistet. Es handelte sich vielmehr um eine breite politische Gegenbewegung zur neoliberalen Schocktherapie unter Jelzin und der mit ihr verbundenen forcierten Westintegration Russlands, wie ich in meiner Monografie »Russland und der Westen. Ideologie, Politik und Ökonomie seit dem Ende der Sowjetunion« ausführlich zeige (https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/russland-und-der-westen.html?lid=2). Dieser Konservatismus, der sich gegen den Liberalismus und Kommunismus (s. Karl Mannheim 1927/1964) wendet, sollte das alternative hegemoniale Projekt werden. Alexander Dugin, der von der westlichen Presse mitunter sogar als »Hirn« Putins bezeichnet wurde, ist ein prominenter Kopf dieser Gegenbewegung, aber weder ihr Anführer noch ihr »Chef-Ideologe«. An ihr waren Neoeurasier, orthodoxe Konservative, neoimperiale und ethnische Nationalisten und Nationalkonservative beteiligt, die sich in der »nationalen Frage« alles andere als einig sind. Zu dieser illiberal-konservativen Gegenbewegung gehören zudem die Russisch-Orthodoxe Kirche und ihr ultrakonservatives Netzwerk aus Politiker:innen, Stiftungen und gesellschaftlichen Aktivist:innen, die sich für die »traditionellen Werte« und die »Russische Welt« stark machen. Dieses Netzwerk hat zum Beispiel in enger Kooperation mit dem US-amerikanischen World Congress of Families (WCF) die homophobe Gesetzgebung in Russland vorangetrieben (s. Stoeckl/ Uzlaner 2022).
Den Protagonisten des neuen russischen Konservatismus geht es nicht nur um die Restauration vergangener Größe, sondern ganz wesentlich um den zukünftigen Platz Russlands in einer sich verändernden multipolaren Welt mit den aufsteigenden Mächten China und Indien. Ihrer Überzeugung nach könne Russland nur als Großmacht mit legitimen Einflusszonen existieren, und das mache ihnen der Westen streitig. Deshalb sehen sich die konservativen Ideologen schon lange vor der Invasion in die Ukraine 2014 und 2022 in einem »hybriden Krieg« mit dem Westen. Um eine Großmacht zu bleiben, brauche Russland in der Welt einen eigenen Pol, das heißt eine eigene Makroregion unter seiner Führung, für die aus russischer Sicht die Ukraine und Belarus unverzichtbar sind. Der neoimperiale Nationalist Jegor Cholmogorow bezeichnet diese Ausrichtung des neuen russischen Konservatismus in einem Manifest von 2006 als die »Restauration der Zukunft« (http://www.intelros.org/lib/statyi/holmogorov2.htm). Dabei fungieren eine militante Orthodoxie und die russisch-imperiale Kultur als die zentralen Traditionsanker.
Aber die ideengebenden Ideologen des neuen russischen Konservatismus haben auch eine politökonomische Agenda. Diese entwicklungsetatistische Agenda setzt auf eine Wirtschafts-, Geld- und Sozialpolitik, die die Entwicklung strategisch wichtiger Sektoren aktiv fördert, Wertschöpfung der heimischen Wirtschaft erhöht, heimische Nachfrage in der Breite stärkt und so die Abhängigkeit vom Rohstoffexport reduziert, die sich unter Putin massiv verschärft hat. Dieses auf den – um die Eurasische Wirtschaftsunion erweiterten – Binnenmarkt gerichtete Wachstumsmodell soll gezielte Autarkie mit internationaler Wettbewerbsfähigkeit verbinden. Dafür bedürfe es massiver staatlicher Investitionen, einen »klugen« Protektionismus, Lohnwachstum sowie eine stärkere staatliche Kontrolle über die Kapitalströme, wie sie im Bretton-Woods-System auch im Westen bis Anfang der 1970er-Jahre bestand. Nur so ließe sich Russlands Größe wiederherstellen. Ohne eine fundamentale moralische Erneuerung der Eliten sei das nicht zu schaffen.
Gerade mit ihren politökonomischen Forderungen konnte sich die illiberal-konservative Gegenbewegung jedoch im staatlichen Machtzentrum lange nicht durchsetzen. Gleichzeitig hat sie zur Genese der neuen Staatsideologie beigetragen und das »Arsenal« der Kriegspropaganda bestückt. Die Institutionalisierung des neuen Staatskonservatismus vollzog sich in zwei großen Schüben: von der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt 2012 bis 2016 sowie ab 2020 mit der »neuen« Verfassung und der überarbeiteten Sicherheitsstrategie von 2021 (http://publication.pravo.gov.ru/Document/View/0001202107030001). Letztere widmet sich ausführlich den »traditionellen Werten« und formuliert erstmals explizit, dass Russland vor einer »Westernisierung« zu schützen sei.
Der Weg des Putin-Regimes von einem vermeintlich anti-ideologischen Pragmatismus hin zu einer um die traditionalen Werte einer russländischen Großnation kreisenden Staatsideologie korrespondiert mit der Abwendung der herrschenden russischen Eliten vom transatlantischen Westen, bei der der Kampf um die Ukraine seit der Orangen Revolution von 2004 eine zentrale Rolle spielt. Allerdings kann die Ablehnung des Westens nicht bei einer einfachen Negation stehen bleiben, sondern verlangt eine positive inhaltliche Füllung, die mit dem Rückgriff auf das Zivilisationskonzept erfolgt. Die Berufung auf die eigenen »traditionellen Werte« haben aber einen willkommenen Nebeneffekt. Sie sind zwar historisch konkret und einzigartig auf eine spezifische Kultur bezogen; gleichzeitig aber eignen sie sich als universale Antwort auf den liberalen Universalismus. Die russischen »traditionellen Werte« bilden daher nicht zufällig eine Art Spiegel- und Zerrbild des zeitgenössischen westlichen kulturellen Liberalismus, das gegen die Ideologie des »Globalismus«, des »Multikulturalismus« und der expansiven Auslegung der Menschenrechte in Stellung gebracht wird. In dieser Abgrenzung unterscheidet sich der neue russische Konservatismus nicht grundsätzlich von den Argumentationsweisen der Rechtspopulisten und der christlichen Rechten in Europa und den USA (s. Laruelle 2022).
Die illiberal-konservative Gegenbewegung feierte die erste Invasion in die Ukraine 2014 als »russischen Frühling« und forderte, dass die Armee den ganzen Donbas einnimmt. Als das russische Militär sich dafür noch nicht bereit fühlte, verloren wichtige Protagonisten ihren Zugang zu den staatlichen Medien. Der Krieg 2022 brachte sie dorthin zurück. Ihre politökonomische Agenda wird nun – zumindest in wichtigen Teilen – zum neuen Mainstream. Dennoch ist es wichtig zu sehen, dass die innerrussischen Elitekonflikte über den richtigen russischen Weg der soziökonomischen Entwicklung des Landes damit keineswegs beendet sind, wie ich in meiner Monografie verdeutliche. Während die Zentralbankchefin Elwira Nabiullina auf dem Petersburger Wirtschaftsforum 2023 vor der »Rückkehr zur Planwirtschaft« warnt (https://www.rbc.ru/economics/15/06/2023/648ab8ad9a7947f53f2fdb2c), beklagen ihre unversöhnlichen Gegner aus dem illiberal-konservativen Lager, dass die russische »Offhore-Aristokratie« nach wie vor dafür sorgt, dass zuallererst neue Rohstoffkanäle geöffnet werden, statt Getreide in Mehl zu verwandeln oder Erdöl zu veredeln und dann erst zu exportieren (https://delyagin.ru/articles/183-sobytija/109275-ofshornaja-aristokratija-sdelaet-rossiju-pridatkom-kitaja). Russlands konservative Ideologen fürchten sich vor einem Russland an der »Peripherie« Chinas fast genauso wie vor der »Kolonialisierung« durch den Westen bzw. die USA, der man gerade entronnen sei. Denn auch dies würde Russland einer »souveränen« Entwicklung berauben (https://www.litres.ru/book/sergey-urevich-glaze/ryvok-v-buduschee-rossiya-v-novyh-tehnologicheskom-i-50184650/chitat-onlayn/).