Hintergrund
Die großangelegte russische Invasion in die Ukraine brachte eine Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen mit sich. In den ersten Tagen nach Beginn der Invasion hatte auch die Ukraine ihre Häfen vermint, um ein Fortschreiten der Invasion zu vermeiden. Das Endergebnis war zunächst, dass die Getreideexporte über das Schwarze Meer real auf null zurückgingen. Im Laufe des Handelsjahres 2020/21 war die Ukraine ein bedeutender Weizenexporteur. Auf sie entfielen acht Prozent des weltweiten Handels und 13 Prozent der weltweiten Maisexporte (siehe: USDA, 2022a).
Aus der angespannten Lage auf dem globalen Getreidemarkt ergaben sich drei Folgen. Zum einen erließ über ein Dutzend Länder Exportverbote, um die Versorgung ihres Landes sicherzustellen. Zweitens führte der Ausfall ukrainischer Exporte zu einer Verschärfung der engen Versorgungslage, wobei der weltweite Verbrauch das Angebot überstieg und dies zu steigenden Preisen führt. Im März 2022 stiegen die Weizen-Futures in der Europäischen Union sprunghaft auf 460 US-Dollar pro metrische Tonne an, und in den USA auf 539 US-Dollar. Von diesen Höchstpreisen trudelten die Weizenpreise im Laufe des Restjahres langsam abwärts (siehe: USDA, 2022b). Im Dezember 2022 dann lagen die Future-Preise in der EU bei 332 US-Dollar pro Tonne und in den USA bei 385 US-Dollar (siehe: USDA, 2022c). Drittens erhielt das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen in der ersten Jahreshälfte 2022 nur die Hälfte der üblichen Menge an Getreidespenden. Darüber hinaus war das WFP wegen der gestiegenen Preise nicht in der Lage, die gleiche Menge Getreide anzukaufen wie zuvor. Im Juni 2022 war das WFP genötigt, die Getreidelieferungen an 1,7 Millionen Menschen in Südsudan einzustellen, einer Region, die sich am Rande einer weitreichenden Hungersnot befand. Wegen der Nachwirkungen des Krieges gegen die Ukraine stieg die Zahl der Menschen, die von Nahrungssicherheit betroffen sind, um geschätzte 181 Millionen in 41 Ländern (siehe: FAO, 2022).
Ende Juli 2022 ermöglichte ein durch die Türkei und die Vereinten Nationen vermitteltes Abkommen, dass ukrainisches Getreide über drei Schwarzmeerhäfen des Landes exportiert werden konnte, nämlich über Odessa, Tschornomorsk und Piwdennyj. Diesem Abkommen zufolge, dessen vollständiger Titel »Initiative für den sicheren Transport von Getreide und Lebensmitteln aus ukrainischen Häfen« lautet, wird ukrainischen Getreidefrachtern erlaubt, bis zur Türkei zu fahren und dort ihre Ladung zu kontrollieren. Allerdings erlaubte es Russland nicht, dass Schiffe ein Auslaufen aus Piwdennyj anmelden, dem größten der drei Häfen. Von der Türkei aus würden die Schiffe in die Ukraine zurückkehren, nachdem sie von Teams aus Russland, der Türkei und der Vereinten Nationen inspiziert wurden, um sicherzustellen, dass keine Waffen in die Ukraine gebracht werden. Das ursprüngliche Abkommen vom Juli 2022 wurde für einen Zeitraum von 120 Tagen abgeschlossen, aber im November 2022 um weitere 120 Tage und im März und im Mai 2023 für jeweils 60 Tage verlängert. Durch das Getreideabkommen konnte die Ukraine von August 2022 bis Juli 2023 rund 33 Millionen Tonnen Getreide über seine Häfen ausführen, darunter 27 Millionen Tonnen Mais; aber auch Weizen wurde exportiert (siehe: Seddon, Foy und Samson, 2023).
Ab dem 26. Juni 2023 stellte das Gemeinsame Koordinierungszentrum in Istanbul (engl. Abk.: JCC) keine Genehmigungen zum Auslaufen der Schiffe im Rahmen des Getreideabkommens aus, weil Russland die vereinbarte Inspektion der Schiffe einstellte. Nach dem 26. Juni 2023 erhielt nicht eines der 29 Schiffe, die eine Durchfahrt beantragt hatten, eine Genehmigung. Und lediglich 13 Schiffe, die ihre Genehmigung zuvor erhalten hatten, konnten passieren (siehe: TASS, 2023a). Am 17. Juli 2023 erklärte Russland, dass es sich aus dem Getreideabkommen zurückzieht. Dieser Schritt wurde von der US-Regierung unter Joe Biden als »unverantwortlich« und »unerhört« bezeichnet (siehe: Birnbaum und Lamothe, 2023). Russland hielt allerdings die Aussicht aufrecht, es könne zu dem Abkommen zurückkehren, falls bestimmte Bedingungen erfüllt würden (siehe: Masih, 2023).
Russische Beschwerden
Russland hatte von Anfang an Zweifel hinsichtlich des Getreideabkommens. Moskaus Skepsis über das Abkommen zeigte sich an dessen Aussetzung durch Russland im Oktober 2022, nachdem es einen Angriff auf die russische Schwarzmeerflotte gegeben hatte. Auch im November 2022 setzte Russland das Abkommen für einen Tag außer Kraft, wodurch es auf den Weltmärkten umgehend einen sprunghaften Anstieg der Getreidepreise gab. Russland monierte, das Getreide aus der Ukraine werde nicht in ärmere Länder geliefert, sondern vielmehr in die reichen Länder der EU, wobei die erzielten Einnahmen für den Krieg eingesetzt werden könnten. Im Detail behauptete Russland, dass nur 10 Prozent der ukrainischen Maisexporte und 40 Prozent des Weizens in ärmere Länder geliefert würden, während der Rest in wohlhabendere Länder wandere.
In der Tat hatte die Ukraine auch mit dem geltenden Getreideabkommen vom Juli 2022 ihren Getreidehandel stärker nach Europa ausgerichtet, da die Transporte dorthin leichter zu bewerkstelligen waren (auf der Schiene, per LKW oder Binnenschiff). Ein weiterer Grund war die gestiegene Nachfrage in Europa. Aufgrund der Zerstörung und Verminung von ukrainischen Agrarbetrieben, der Beschlagnahmung von ukrainischem Getreide und landwirtschaftlichem Gerät sowie der Rekrutierung von Männern, die sonst in der Landwirtschaft tätig wären, ist die Getreideproduktion der Ukraine 2022 zurückgegangen. Wegen des Krieges blieben in der Saison 2022/23 zwischen 20 und 30 Prozent der Flächen, auf denen Winterweizen gesät war, ungeerntet. Dadurch gingen die Exporte im Vergleich zur Vorkriegszeit um über ein Drittel zurück. Die ukrainischen Gesamtexporte von Weizen wurden für die Saison 2022/23 auf 16,8 Millionen Tonnen beziffert, bei Mais waren es 30,3 Millionen Tonnen (siehe: Sobolev, 2023).
Russland beschwerte sich, dass die Ukraine ihr Getreide exportieren könne, während Russland gleichzeitig Schwierigkeiten habe, sein eigenes Getreide zu exportieren. Während des vergangenen Jahres hat Russland das Abkommen stets dafür kritisiert, dass es allein der ukrainischen Seite zu Gute komme. Allerdings werden die russischen Beschwerden nicht durch konkrete Daten gestützt. 2022 gab es in Russland zum ersten Mal eine Weizenernte von über 100 Millionen Tonnen, wodurch das Land im Agrarjahr 2022/23 der weltweit führende Weizenexporteur war, mit über 45 Millionen exportierten Tonnen Weizen, was für Russland ebenfalls einen Rekord darstellt. Russland verschiffte Getreide in mehr als 100 Staaten. Diese Zahlen deuten nicht gerade darauf hin, dass Russland unter den Beschränkungen seiner Getreideexporte litt.
Vertreter der russischen Führung klagten darüber hinaus, dass russische Firmen Schwierigkeiten hätten, Transaktionen, Transporte und Versicherungen abzuwickeln. Für Russland war es schwierig, Getreide- oder Düngemittelgeschäfte umzusetzen, weil diese nicht mehr Teil des SWIFT-Systems waren. Um dieses Problem zu umgehen, bestand Russland ursprünglich darauf, dass die Transaktionen in Rubel vollzogen werden. Später verwies Moskau darauf, dass man eine Alternative zu SWIFT entwickeln werde. Diese Initiative kam jedoch nicht weit. Westliche Frachtreedereien weigerten sich, russisches Getreide zu transportieren oder zu löschen, während westliche Versicherungen sich weigerten, russische Fracht zu versichern. Letzten Endes schufen westliche Länder Schlupflöcher, durch die russisches Getreide transportiert und gelöscht werden konnte. Im Dezember 2022 verkündete das russische Getreideexportunternehmen United Grain Company seine Pläne, eine eigene Flotte von Schüttgutfrachtern für Getreidetransporte aufzubauen. Es wurde der Bau von 14 Schiffen in Auftrag gegeben, wobei die erste Auslieferung für Ende 2025 oder Anfang 2026 erwartet wird (siehe: Oreanda News, 2022). Das Unternehmen beabsichtigt darüber hinaus, auf dem internationalen Markt fünf gebrauchte Schüttgutfrachter zu erwerben. Russische Exporteure versuchten, bei russischen und nichtwestlichen Unternehmen Versicherungen abzuschließen.
Was Russland will
Russland hat seit langem geklagt, dass das Getreideabkommen die Ukraine bevorzuge und Russland durch das Abkommen nur wenige spürbare Vorteile erhalte. Moskau hat darauf verwiesen, dass es eine Wiederaufnahme des Abkommens in Betracht zieht, falls eine Reihe von Bedingungen erfüllt sind: 1) die Wiederangliederung der russischen Agrarbank »Rosselchosbank« an das globale SWIFT-Zahlungssystem; 2) Aufhebung der Sperrung von Auslandsguthaben russischer Nahrungsmittel- und Düngerexporteure; 3) freier Zugang zu westlichen Märkten für russische Getreide- und Düngemittellieferungen (obwohl der Zugang zu westlichen Agrarmärkten für Russland nicht durch westliche Staaten blockiert ist, gibt es einige Beschränkungen für Einzelpersonen, die Getreide- oder Düngeunternehmen besitzen); 4) Wiedereröffnung der Ammoniak-Pipeline, die in Piwdenny beginnt; 5) Aufhebung der Beschränkungen für den Kauf von landwirtschaftlichen Maschinen und Ersatzteilen aus dem Westen; und 6) die Zusicherung, dass das Getreide aus der Ukraine zu humanitären Zwecken und nicht für kommerzielle Gewinne exportiert wird.
Gewinner und Verlierer
Ein Gewinner durch den russischen Rückzug aus dem Abkommen ist Präsident Wladimir Putin, zumindest in dessen eigener Vorstellung. Putin hatte das Abkommen monatelang als einseitig gebrandmarkt und behauptet, dass Russland durch das Abkommen wenig Nutzen erfährt, wenn man von positiver PR aufgrund der »humanitären Geste« absieht. Im Juli 2023 lud Putin zu einem Gipfeltreffen mit afrikanischen Staatschefs nach St. Petersburg. Er hoffte, dass dabei eine afrikanische Unterstützung für seinen Krieg gegen die Ukraine deutlich würde. Allerdings kamen nur 17 afrikanische Staatschefs, deutlich weniger als die 43 im vergangenen Jahr. Putin machte hierfür den Westen verantwortlich, der sich aktiv eingemischt habe. Er verkündete auf dem Gipfeltreffen, Russland werde in den kommenden drei bis vier Monaten jeweils zwischen 25.000 und 50.000 Tonnen kostenloses Getreide nach Burkina Faso, in die Zentralafrikanische Republik, nach Eritrea, Mali, Somalia und Simbabwe liefern (siehe: Troianovski und Walsh, 2023). Sein Angebot, kostenloses Getreide an bestimmte afrikanische Staaten zu liefern, wird von Putin selbst wohl als Gewinn betrachtet, auch wenn die versprochenen Mengen eher gering sind und Russland bei humanitärer Hilfe nicht sonderlich viel Positives vorweisen kann (siehe: Dixon und Houreld, 2023).
Der zweite Gewinner sind die russischen Getreideproduzenten und -exporteure. Nachdem das vorläufige Ende des Abkommens verkündet wurde, unterstützte der Russische Getreideverband diese Entscheidung eindeutig. Einige Tage nach der Aufkündigung behauptete Putin, dass die russischen Getreideproduzenten durch das Abkommen über 1,2 Milliarden US-Dollar verloren hätten, weil die Preise im Inland niedriger sind, im Ausland gesunken waren, und weil die Kosten für Versicherung und Transaktionen gestiegen seien (siehe: TASS, 2023b). Einen Tag nach der Verkündung des Rückzugs aus dem Abkommen machten die inländischen Getreide-Futures einen Sprung von neun Prozent in Russland, was den Getreideproduzenten zugutekam. Im August begannen die Preise allerdings wieder zu sinken.
Neben der Ukraine sind die ärmeren afrikanischen Staaten, die von Nahrungsmittelhilfen und -importen abhängig sind, vielleicht die größten Verlierer. 2023 erlebte das Horn von Afrika eine heftige Dürre, weswegen dort Nahrungsmittelhilfen vonnöten sind. Auf dem Petersburger Gipfel signalisierten afrikanische Staatschefs eine Unterstützung für ein Getreideabkommen und Hoffnung auf eine Wiederaufnahme (siehe: Dixon, 2023).
Optionen der Ukraine
Das Ende des Getreideabkommens erzeugte für die Ukraine Schwierigkeiten. Am Tag nach der Aufkündigung hat Russland die Ukraine gewarnt, dass jedes ukrainische Schiff, das das Schwarze Meer befährt, als militärisches Ziel betrachtet werde. Die Ukraine stellte sich umgehend darauf ein. Ohne ein Abkommen ist es für ukrainische Schiffe sehr schwierig, die Häfen des Landes anzulaufen oder zu verlassen. Bis Mitte September 2023 hatte die Ukraine nur zwei Getreideschiffe über das Schwarze Meer nach Istanbul geschickt, doch waren die Getreidemengen im Vergleich zu früheren Transporten und hinsichtlich der notwendigen Abwicklung der überschüssigen Mengen winzig.
Eine Option für die Ukraine besteht in einer Verschiffung über die Donauhäfen. Seit Beginn der Invasion sind die Kanäle zu den Donauhäfen ausgebaggert worden, um größeren und schwereren Schiffen eine Passage zu ermöglichen. Mit Stand von Mai 2022 transportierte die Ukraine über zwei Millionen Tonnen pro Monat über die Donau. Das ist jedoch ein geringer Wert, wenn man berücksichtigt, dass 2023 eine Getreideernte von insgesamt rund 44 Millionen Tonnen erwartet wird (siehe: Hudson und Galouchka, 2023). Einen Tag nach dem Ende des Getreideabkommens griffen russische Raketen den Donauhafen Reni an der Grenze zu Rumänien an. Das war ein Signal, dass diese Route nicht mehr vollkommen sicher ist. Bis kurz vor dem Krieg entfielen auf die Donauhäfen nur 1,5 Prozent des ukrainischen Getreidehandels (siehe: The Economist, 2023). Falls die Route über das Schwarze Meer nicht realisierbar ist, dürfte die Bedeutung der Donauhäfen zweifellos zunehmen. Allerdings wird sich das Getreide dort eher ansammeln, weil der Transport über den Fluss nicht die gleichen Kapazitäten bietet wie der über das Schwarze Meer.
Eines der damit verbundenen Probleme besteht darin, dass es bei den Landtransporten zwischen den Donauhäfen und der übrigen Ukraine oft zu Engpässen kommt. Es gibt nur eine einzige Eisenbahnverbindung und zahlreiche Brücken, die von Russland aus wiederholt mit Drohnen und Raketen angegriffen wurden. Falls diese außer Betrieb gesetzt werden, gibt es eine Straße parallel zur Eisenbahnlinie, doch können sich die Staus wegen erhöhten Verkehrsaufkommens zu Dutzenden Kilometern aufbauen. Es gibt Pläne, diese Straße auszubauen und die Kapazitäten der Eisenbahnlinie zu erweitern, doch werden solche Projekte Zeit erfordern. Die Donauhäfen tragen zwar dazu bei, den Druck abzumildern, doch sind die Kosten für einen Export von dort von 12 auf 150 US-Dollar pro Tonne gestiegen, und die ukrainischen Getreideproduzenten haben bereits mit geschmälerten Gewinnspannen und verringerter Produktion zu kämpfen (siehe: The Economist, 2023).
Die Getreideexporte werden zusätzlich durch wiederholte russische Raketenangriffe gegen die Getreide-Infrastruktur der Ukraine erschwert, gegen Häfen und Getreide-Terminals, in denen das Getreide seit dem Ende des Abkommens gelagert wird. Ein Motiv hierfür besteht offensichtlich darin, die Fähigkeiten der Ukraine zu Getreideexporten zu unterbinden. Ein weiteres ist die Stärkung der russischen Position als globaler Getreidelieferant, indem ein wichtiger Wettbewerber geschädigt wird.
Die Ukraine sieht sich auch bei der politischen Unterstützung durch die EU einem Druck durch bestimmte Mitgliedstaaten gegenüber: Im Frühjahr 2023 schränkten Polen, Ungarn, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien Getreideimporte aus der Ukraine ein, nachdem Bauern dagegen protestierten, dass die Importe zu einer Getreideschwemme und Preiseinbrüchen geführt hätten. Die Europäische Kommission verabschiedete ein Moratorium auf den Verkauf von ukrainischem Getreide, das bis zum 5. Juni galt (und später bis zum 15. September verlängert wurde). Nach dem Ende des Getreideabkommens mit Russland rief Präsident Selenskyj die EU auf, ukrainische Getreideexporte nicht zu beschränken. Polen machte jedoch deutlich, dass es seine Blockade gegen ukrainische Getreideverkäufe in Polen über den 15. September hinaus verlängern werde, falls die Europäische Kommission keine Verlängerung beschließt. Die polnische Regierung erklärte, sie sei nicht gegen Transittransporte von ukrainischem Getreide durch Polen. Man sage aber »nein zu einer Destabilisierung der polnischen Landwirtschaft« (siehe: TASS 2023c). Am 12. September stellte der polnische Ministerpräsident ein Ultimatum an die Europäische Kommission: Entweder das Verkaufsverbot für ukrainisches Getreide wird über den 15. September hinaus verlängert oder man werde das selbst tun (siehe: TASS 2023e). Rumänien schloss sich Polen an. Dort hatten die Bauern mit einem landesweiten Streik gedroht, wenn das Verkaufsverbot nicht verlängert wird (siehe: TASS 2023f). Ungarn und Bulgarien beschlossen eine Verlängerung des Verbots bis zum Jahresende, ohne auf Anweisungen der Europäischen Kommission zu warten (siehe: TASS 2023g). Kurz vor dem 15. September verwies die Ukraine darauf, sie könnte gezwungen sein, eine Beschwerde bei der Welthandelsorganisation (WTO) einzureichen (siehe: TASS 2023h). Am 15. September hob die Europäische Kommission das Verbot für ukrainische Getreideimporte auf. Die Entscheidung wurde von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten unterstützt (siehe: Bond et al., 2023). Polen, die Slowakei und Ungarn erklärten, sie würden das Importverbot einseitig verlängern (Ives and Gupta 2023). Polen gab zu verstehen, dass es nicht an einer kurzfristigen Verlängerung des Verbots interessiert sei, und sprach stattdessen von einer »unbeschränkten« Zeit, um die polnischen Bauern zu schützen (siehe: TASS 2023i). Das Verbot erstreckt sich nicht auf den Transit durch diese Länder.
Ausblick
Seitdem Russland im Juli 2023 das Getreideabkommen aufkündigte, haben die Türkei und die UNO versucht, einen Wiedereinstieg Russlands zu erreichen. Die Präsidenten Erdoğan und Putin trafen sich Anfang September, um einen Neustart des Abkommens zu erreichen. Ohne Erfolg. Putin und seine Sprecher*innen haben angedeutet, dass Russland bereit sei, dem Abkommen wieder beizutreten, wenn der Westen den Versprechungen nachkommt, die aus russischer Sicht nicht eingehalten wurden. Im Grunde will Russland als Gegenzug für ein neues Abkommen eine Aufhebung der aktuellen Sanktionen. Ein solches Ergebnis ist unwahrscheinlich.
Moskau hat zudem klargemacht, dass es keine Absicht hat, ein neues Abkommen abzuschließen, wenn nicht seine Bedingungen in Bezug auf Zahlungssysteme, Transport und Versicherung erfüllt werden. Der Kreml möchte, dass die Zugeständnisse gleich zu Beginn gemacht werden. So verwies die UNO Anfang September darauf, dass eine Tochter der russischen Agrarbank (»Rosselchosbank«) einen Zugang zu SWIFT beantragen und diesen innerhalb von 30 Tagen haben könnte, und zwar als Teil eines neuen Abkommens über ukrainische Getreideexporte. Der Kreml lehnte das Angebot ab, wobei er erklärte, dass es »keinerlei neue Elemente enthält« und »nicht als Fundament« zur Wiederherstellung von Russlands Exporten auf einem normalen Niveau dienen könne (siehe: Reuters 2023a).
Gleichzeitig geht Russland einseitig vor. Es hofft, der ukrainischen Wirtschaft so viel Schaden wie möglich zuzufügen. Russlands Angriffe gegen die Getreide-Infrastruktur der Ukraine sollen die Fähigkeit der Ukraine untergraben, zu exportieren und Einnahmen zu erzielen. Das Ende des Getreideabkommens bedeutet, dass der Großteil des ukrainischen Getreides nach Europa geht, wo der innenpolitische Widerstand gegen dieses Getreide groß ist. Wenn die Ukraine ihr Getreide nicht exportieren kann, wird sich die Motivation der Bauern verringern, die Saat von 2024 auszubringen, weil jeder derart genutzte Hektar finanzielle Verluste bedeutet. Vor dem Krieg entfielen 10 Prozent des ukrainischen BIP auf die Landwirtschaft. Die Ukraine versucht, eine alternative Route zu etablieren, indem Schiffe von Tschornomorsk nach Istanbul entsandt werden, die dabei eng in Küstennähe fahren und in ukrainischen Hoheitsgewässern bleiben. Mitte September erreichten die ersten Frachtschiffe Tschornomorsk. Es gibt natürlich keine Garantie, dass Russland Hoheitsgewässer respektieren wird, da das gesamte Schwarze Meer zunehmend militarisiert ist. Nach der Einstellung des Getreideabkommens bis zum Zeitpunkt Anfang November verließen mehr als 700.000 Tonnen Getreide die ukrainischen Häfen über alternative Routen (Reuters 2023b).
Darüber hinaus hat Russland auf Märkten in Afrika gewildert. Russland hat mit der Türkei und Katar ein Abkommen geschlossen, dem zufolge Russland eine Million Tonnen Getreide zu günstigen Preisen an die Türkei verkauft und die Türkei es unter katarisch finanzierter Verfrachtung und Versicherung an ärmere Länder liefert. Russische Offizielle verwiesen darauf, dass dieses Getreide keinen Ersatz für das Getreideabkommen mit der Ukraine darstelle, sondern ärmeren Ländern helfen soll (siehe: TASS 2023d). In Wirklichkeit wollte Russland jedoch damit die Ukraine als Lieferant ersetzen und Kyjiw die benötigten Exportmärkte abnehmen. Putin arbeitet im Grunde an einem Zusammenbruch der ukrainischen Landwirtschaft.
Den Handel mit Nahrungsmitteln als Waffe einzusetzen, ist das Gleiche wie der Einsatz von Energielieferungen als Waffe, wenn diese im Winter zurückgehalten oder bei »unfreundlichen« Staaten gedrosselt werden. Und es unterscheidet sich im Grunde nicht von der Verschleppung ukrainischer Kinder oder der wahllosen Bombardierung von Wohngebieten, Krankenhäusern und Schulen. Wir sollten erkennen, dass das Ende des Getreideabkommens den Beginn einer neuen Phase der Aggression gegen die Ukraine markiert.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder