Die Brüsseler Erklärung

Einleitung von Meduza

Mitte März 2023 erließ der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin wegen des Vorwurfs, die illegale Deportation von Kindern aus den besetzten Teilen der Ukraine nach Russland angeordnet zu haben. Der Internationale Strafgerichtshof arbeitet jedoch auf der Grundlage des Römischen Statuts, das Moskau nicht ratifiziert hat, was bedeutet, dass Russland die Zuständigkeit des Gerichts nicht anerkennt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat mehrfach die Einrichtung eines internationalen Tribunals zur Untersuchung und Verfolgung des Aggressionsverbrechens gefordert. Offizielle Vertreter:innen der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union haben ihre Unterstützung für diese Initiative zum Ausdruck gebracht, und der US-Senat prüft bereits einen Plan zur Schaffung eines internationalen Gerichtsgremiums, das russische Beamte für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Verantwortung ziehen könnte. 26 russische Jurist:innen, Rechtsgelehrte und Menschenrechtsaktivist:innen haben sich in einer Erklärung zusammengeschlossen, um den Vorschlag von Präsident Selenskyj zu unterstützen, die russische Invasion in der Ukraine als einen Akt der Aggression zu verurteilen und ihre Bereitschaft zum Ausdruck zu bringen, diese Untersuchung auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen. Diese weiter unten aufgelisteten Personen haben die Brüsseler Erklärung Anfang Juni 2023 unterzeichnet. Meduza veröffentlicht den Text und die Liste der Unterstützer:innen.

Brüsseler Erklärung

Der aggressive Krieg, den das russische Regime gegen die Ukraine begonnen hat, hat den internationalen Frieden und die Sicherheit in Europa erschüttert und untergräbt die Achtung der Menschenrechte und des Völkerrechts. Wir verurteilen diesen rechtswidrigen Krieg, den der Kreml unter Missachtung der Beschlüsse der beiden wichtigsten Organe der Vereinten Nationen—der Generalversammlung und des Internationalen Gerichtshofs—weiterhin führt, aufs Schärfste. Darüber hinaus nehmen wir die Feststellungen der Internationalen Unabhängigen Untersuchungskommission zur Ukraine zur Kenntnis, wonach Russland im Verlauf dieses bewaffneten Konflikts Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat.

Wir halten es für unsere moralische Verpflichtung gegenüber den Opfern dieser grausamen Verbrechen, dass Recht gesprochen wird, was eine unabdingbare Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden ist. Die Verantwortlichen für diese Verbrechen müssen insbesondere mit Hilfe geeigneter internationaler Mechanismen zur Rechenschaft gezogen werden. In diesem Zusammenhang unterstützen wir die Untersuchung der Situation in der Ukraine durch den Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs. Wir weisen die Drohungen der russischen Behörden gegen den Ankläger und die Richter:innen des Gerichtshofs zurück.

Wir betonen die zentrale Rolle des Verbrechens der Aggression, das die Begehung anderer völkerrechtlicher Verbrechen in großem Umfang ermöglicht hat. Die strafrechtliche Verfolgung der politischen und militärischen Führung, die diesen aggressiven Krieg geplant und begonnen haben und diesen weiterhin führen, sowie ihrer Mittäter:innen ist unerlässlich, um einer großen Zahl von Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Wir verweisen darauf, dass die Planung, Vorbereitung, Einleitung und Durchführung dieses aggressiven Krieges ein Verbrechen nach dem allgemeinen Völkerrecht und dem Strafrecht der Ukraine und Russlands darstellt.

In Anbetracht der Tatsache, dass das Verbrechen der Aggression per definitionem von der politischen und militärischen Führung eines Staates begangen wird, sowie der Unfähigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs, in der Ukraine die Gerichtsbarkeit über dieses Verbrechen auszuüben, unterstützen wir die Initiative der Ukraine, anderer Staaten und internationaler Organisationen, ein internationales Tribunal für das Verbrechen der Aggression einzusetzen. Diese Initiative stützt sich auf das Völkerrecht und die Einstufung der russischen Invasion in der Ukraine als Aggression durch die überwältigende Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten. Ein solches Tribunal wäre in der Lage, seine Gerichtsbarkeit auszuüben, ungeachtet der Dienststellung der Angeklagten und den Immunitäten, die sie nach dem Völkerrecht und nationalem Recht genießen.

Dieser Krieg wurde möglich, weil frühere schwere Verbrechen, die von der russischen Führung und dem russischen Militär auf eigenem Boden und im Ausland begangen wurden, ungestraft blieben. Diese Verkettung von Straflosigkeit, die dazu führt, dass erneut Verbrechen begangen werden, muss durchbrochen werden. Wir sind bereit, dazu beizutragen, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen und ihre Opfer entschädigt werden.

Liste der Personen, die die Brüsseler Erklärung unterzeichnet haben (die Schreibweise der Namen, die der englischen Transkription aus dem Russischen folgt, wurde beibehalten, Anm. d. Redaktion der Russland-Analysen):

Grigor Avetisyan, Rechtsanwalt, zugelassener Rechtsbeistand vor dem ICC

Nikolai Bobrinsky, LL.M.

Gleb Bogush, promovierter Jurist, internationaler Rechtsanwalt

Andrey Buzin, promovierter Jurist, außerordentlicher Professor

Anastasia Burakova, Juristin, Gründerin des »Arche«-Projekts

Sergey Vasiliev, promovierter Jurist, außerordentlicher Professor und Direktor des Amsterdam Center for Criminal Justice, Juristische Fakultät der Universität Amsterdam

Grigory Vaypan, promovierter Jurist, Rechtsanwalt

Sergei Golubok, promovierter Jurist, Rechtsanwalt, zugelassener Rechtsbeistand vor dem ICC

Dariana Gryaznova, Menschenrechtsverteidigerin, LL.M. in Menschenrechtsfragen

Dmitry Gurin, internationaler Rechtsanwalt

Sergey Davidis, Leiter des Projekts »Unterstützung für politische Gefangene: Memorial«

Juri Dzhibladze, Experte für internationales Recht und internationale Beziehungen, Mitglied des Rates der russischen Menschenrechtsverteidiger

Stanislav Dmitrievsky, Menschenrechtsaktivist

Dmitry Dubrovskiy, Ph.D., Forscher an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karls-Universität (Prag)

Dmitry Zakhvatov, Rechtsanwalt

Ekaterina Mishina, promovierte Juristin, Professorin an der Freien Universität

Karinna Moskalenko, Rechtsanwältin, Menschenrechtsverteidigerin

Maksim Olenichev, Menschenrechtsanwalt

Vadim Prokhorov, Rechtsanwalt

Sergey Ross, Rechtsanwalt, Gründer des Collective Action Center, Direktor des Forschungszentrums Freies Russland in Brüssel

Nataliya Sekretareva, Mitglied des Rates, Leiterin der Rechtsabteilung des Zentrums zur Verteidigung der Menschenrechte »Memorial« (in persönlicher Eigenschaft)

Stanislav Stanskikh, russischer Verfassungsrechtler im Exil, Forscher an der University of North Carolina at Chapel Hill, Gastwissenschaftler an der Fletcher School of Law and Diplomacy

Maxim Timofeev, promovierter Jurist, internationaler Rechtsanwalt

Darya Trenina, Rechtsanwältin

Alexander Cherkasov, Mitglied des Rates des Zentrums für die Verteidigung der Menschenrechte »Memorial« (in persönlicher Eigenschaft)

Denis Shedov, Mitglied des Rates des Zentrums für die Verteidigung der Menschenrechte »Memorial« (in persönlicher Eigenschaft)

Ivan Pavlov, promovierter Jurist, Rechtsanwalt

Olga Gnezdilova, Rechtsanwältin

Elena Lukyanova, Professorin an der Freien Universität

Olga Salomatova, internationale Menschenrechtsanwältin, spezialisiert auf die Dokumentation von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Ilya Nuzov, internationaler Rechtsanwalt, Leiter des Osteuropa- und Zentralasienreferats der Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH) (in persönlicher Eigenschaft)

Igor Galiayev, Rechtsanwalt

Michael Korobkov-Voeikov, Rechtsanwalt, NGO »Freedom for Eurasia« (Freiheit für Eurasien)

Aleksandr Stepanov, Rechtsanwalt

Igor Niederer, Rechtsanwalt

Mariia Chashchilova, Menschenrechtsverteidigerin

Dmitri Glinski, Ko-Vorsitzender des Vorstands der Amerikanischen Russischsprachigen Vereinigung für Bürger- und Menschenrechte (ARA) (in persönlicher Eigenschaft)

Maria Issaeva, geschäftsführende Gesellschafterin, Threefold Legal Advisors LLC

Evgeniia Abroskina, Rechtsanwältin bei der Menschenrechts-NGO »Every Human Being«

Andrei Bratchenko, Rechtsanwalt

Arseniy Lytar, Mitglied der Russischen Vereinigten Demokratischen Partei »Jabloko«

Vladimir Lyamin, LL.M. in internationalem Privatrecht, Rechtsanwalt

Elena Shikhova, Rechtsanwältin

Daria Ivanova, LL.M., Rechtsanwältin

Nikolai Zboroshenko, LL.M., Rechtsanwalt

Asya Ostroukh, promovierte Juristin, Dozentin, Juristische Fakultät, Cave Hill Campus, University of the West Indies

Daniil Khaymovich, Rechtsanwalt

Shamil Magomedov, Rechtsanwalt, Menschenrechtsverteidiger

Andrei Suslov, Doktor der Geschichte, Professor

Timur Filippov, Rechtsanwalt

Artem Nemov, LL.M., Rechtsanwalt

Timofei Vaskin, Menschenrechtsverteidiger

Wladimir Bagajew, MJur, Rechtsanwalt

Dinar Idrisov, Menschenrechtsverteidiger

Sergei Salazkin, Rechtsanwalt

Andrei Golubenko, Seniorpartner der Anwaltskanzlei »Europäisches Zentrum für Menschenrechte«

Konstantin Potupalo, Unternehmensanwalt

Julia Krotova, Rechtsanwältin, stellvertretende Vorsitzende des Verwaltungsrats der Amerikanischen Russischsprachigen Vereinigung für Bürger- und Menschenrechte (ARA) (in persönlicher Eigenschaft)

Anzhelika Prokhorova, Rechtsanwältin

Vladimir Lincautan, Rechtsanwalt in Brüssel, Menschenrechtsanwalt, Gründer der Justice for Ukraine Foundation (Brüssel)

Aleksandr Popkov, Rechtsanwalt

Sergey Tsukasov, LL.M. in internationalem Recht

Elena Timoshenko, Rechtsanwältin

Maria Kolesova-Gudilina, promovierte Juristin, nicht zugelassene belarussische Rechtsanwältin, Vertreterin der unabhängigen belarussischen Vereinigung von Menschenrechtsanwälten

Vladimir Zhbankov, promovierter Jurist, Leiter der Rechtshilfeprogramme der Stiftung Freies Russland

Tatyana Stavley, Unternehmensjuristin

Ilya Shablinsky, promovierter Jurist, Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe

Svetlana Gromova, Rechtsanwältin

Inna Smirnova, Rechtsanwältin mit Spezialisierung auf internationales Recht und Menschenrechte

Aleksandr Pachkov, Rechtsanalytiker

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Analyse

Russland vor Gericht bringen: Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen

Von Gleb Bogush
Der Beitrag fasst die Debatte über die Ermittlungen und Strafverfolgung von völkerrechtlichen Verbrechen zusammen, die russische Offizielle und Militärs während der Aggression gegen die Ukraine mutmaßlich begangen haben. Die Analyse geht auf die Anstrengungen von Staaten und internationalen Institutionen ein, das Aggressionsverbrechen, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord strafrechtlich zu ahnden. Der Artikel beleuchtet die Ermittlungen zur Situation in der Ukraine durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) und analysiert die anhaltende Debatte zur Errichtung eines internationalen Sonderstraftribunals für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine.
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Analyse

Optionen der Übergangsjustiz für Russland

Von Monika Nalepa, Thomas F. Remington
Im Laufe des Krieges in der Ukraine haben die russischen Streitkräfte zahlreiche Grundsätze der rechtmäßigen Kriegsführung verletzt. Nach dem Ende des Krieges werden sich vor allem zwei Fragen stellen: 1) Wie können normale diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu Russland wiederhergestellt werden? und 2) Wie können die Schuldigen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden? Die Literatur zur Übergangsjustiz ist in Bezug auf beide Fragen aufschlussreich. Wir schlagen in diesem Artikel vor, wie die Grundsätze der Übergangsjustiz im Nachkriegsrussland angewendet werden könnten, indem wir uns auf die Anwendung von Grundsätzen der Übergangsjustiz im Zuge der Konfliktbewältigung in einschlägigen historischen allbeispielen stützen.
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