Das Leben russischer Wissenschaftler:innen als »Relokant:innen« in Deutschland

Von Nikolay Petrov (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin)

Zusammenfassung
Der Beitrag liefert die Skizze zu einem kollektiven Portrait russischer Wissenschaftler:innen im Exil (»Relokant:innen«). Dabei wird ihre Situation analysiert und eine Reihe von Empfehlungen für Verbesserungen formuliert. Der Beitrag stützt sich auf die Ergebnisse einer Umfrage, die im Sommer 2023 unter russischen Wissenschaftler:innen durchgeführt wurde, die seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine nach Deutschland und in andere Länder emigrierten. Die wichtigste Schlussfolgerung lautet, dass die philanthropischen Anstrengungen für die vom andauernden Krieg Betroffenen, die traditionell von westlichen Ländern unternommen werden, beträchtlich verlängert wurden. Es ist dringend notwendig, die Ansätze zu ändern und Strategien zu entwickeln, die auf eine Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen abzielen. Anstatt lediglich finanzielle Hilfe zu leisten, sollte man sich auf den Aufbau einer Infrastruktur konzentrieren, um das Potenzial der emigrierten Wissenschaftler:innen maximal auszuschöpfen.

Allgemeine Situation und Entwicklungsperspektiven

Seit Beginn des großangelegten russischen Krieges in der Ukraine haben Hunderttausende Russ:innen ihr Land verlassen. Das Portal »Re: Russia« schätzt nach einer Analyse der verfügbaren Daten aus den Aufnahmeländern die Zahl der Russ:innen, die das Land seit dem 24. Februar 2022 verlassen haben, auf zwischen 820.000 und 920.000.

Daten von Eurostat zufolge haben sich zwischen 100.000 und 105.000 in der Europäischen Union niedergelassen, was etwas mehr sind als die rund jährlich 70.000 in früheren Jahren. Es ist aber festzuhalten, dass wegen der abrupten Unterbrechung diverser Austauschprogramme in Bildung und Wissenschaft zu erwarten war, dass die standardmäßige Zahl von Russ:innen, die eine Niederlassungserlaubnis erhalten, 2022 drastisch zurückgehen würde. Daher schätzen Expert:innen den »kriegsbedingten« Zustrom von Migranten nicht auf 30–35.000, sondern eher auf über 50.000 (https://re-russia.net/review/347/).

Es gibt allerdings auch eine entgegengesetzte Migrationsbewegung von Russ:innen, die ihr Land nach Kriegsbeginn verlassen hatten und nun zurückkehrten. Expert:innen des »European University Institute« (EUI) schätzen die Zahl dieser Rückkehrer:innen unter den »kriegsbedingten« Emigrant:innen aufgrund einer Umfrage unter 5.000 Personen auf rund 15 Prozent. Das würde insgesamt 120.000 Personen entsprechen bzw. 7–8.000 aus der EU.

Die Dimensionen der Abwanderung von Wissenschaftler:innen aus Russland sind beträchtlich, sollten aber nicht übertrieben werden. Dieser Exodus erfolgte vorwiegend aus den beiden Hauptstädten Moskau und St. Petersburg, wo die führenden Universitäten und wissenschaftlichen Institutionen des Landes ihren Sitz haben. Diese waren zudem intensiv in eine internationale Zusammenarbeit eingebunden, weswegen dort mehr Verbindungen zu ausländischen Kolleg:innen bestehen – und mehr Möglichkeiten fortzugehen.

Die Abwanderung von Wissenschaftler:innen aus Russland hatte zwei Höhepunkte, einen zu Beginn des Krieges im Februar 2022, und einen nach Verkündung der Mobilmachung im September 2022. Der Strom ist nicht vollständig versiegt. Da aber neue Push-Faktoren fehlen (wie eine erneute Mobilmachung oder eine Welle von Repressionen), wird die Abwanderung in nur geringem Maße weitergehen. Dann wird es sich vor allem um jene handeln, die nicht sofort gegangen waren und jetzt einen Platz an einer ausländischen Universität suchen, Visa beantragen wollen oder Familienangelegenheiten zu regeln haben.

Was diejenigen anbelangt, die bereits emigriert sind, so haben viele von ihnen kurzfristige Hilfsprogramme in Anspruch genommen. Nun befinden sie sich im ersten oder zweiten Jahr ihrer Anstellung. Selbst wenn diese Programme verlängert würden, so laufen sie gleichwohl aus. Dann steht der/die »Relokant:in« vor der Frage: Wie weiter? Dabei geht es nicht nur um finanzielle Unterstützung, sondern es betrifft auch den rechtlichen Status und die Möglichkeit, im derzeitigen Aufenthaltsland bleiben zu können. Gleichzeitig ist in vielen Fällen eine Rückkehr nach Russland keine Option, und zwar nicht nur wegen der großen Unwägbarkeiten im normalen Leben, sondern auch mit Blick auf die eigene Freiheit. Einige Personen haben bereits politisches Asyl beantragt und warten auf den Ausgang ihres Verfahrens. Sie befinden sich in Ungewissheit. Bei einer Ablehnung des Asylantrags gebe es immerhin die Möglichkeit, in ein Land mit Visafreiheit für Russ:innen zu ziehen, wie eine:r der Befragten meinte, dessen/deren Visumsverlängerung abgelehnt wurde, und der/die deshalb Asyl beantragen musste.

Methodologie

Der Autor hat gemeinsam mit Nikita Sokolow 48 Tiefeninterviews mit Angehörigen der Wissenschaftscommunity geführt, die Russland nach dem Februar 2022 verlassen haben. Es war nicht das Ziel, eine repräsentative Stichprobe zu befragen. Die ausgewählten Interviewpartner:innen bildeten eher eine erweiterte Fokusgruppe, die aus Personen bestand, die den Interviewern bekannt waren und von ihnen ausgesucht wurden. Der Vorteil dieses Ansatzes gegenüber einem Setup per Stichprobe besteht in der vertraulichen Atmosphäre der Interviews, und in der Möglichkeit, Respondent:innen zu erreichen, die sonst zögern würden, sich auf einen unbekannten Interviewer einzulassen. Die Umfrage wurde mit Hilfe eines speziellen Fragebogens unternommen, als individuelle Interviews über Zoom. Die Interviews dauerten im Schnitt zwischen 30 und 50 Minuten.

»Relokant:innen« – Allgemeine Charakteristik und Typologie

Insgesamt wurden 48 Personen interviewt, 38 Männer und 10 Frauen. Die größte Gruppe stellten Personen, die in ihren Vierzigern waren, gefolgt von denen zwischen 30 und 40 und jenen, die 50 und älter waren. Der/die jüngste Respondent:in war 27, der/die älteste 73. Die Verteilung nach Aufnahmeländern sieht wie folgt aus: Deutschland: 25, USA: 6, Israel: 3, Armenien: 2, Lettland: 2, Litauen: 2, Österreich, das Vereinigte Königreich, Georgien, Dänemark, Kasachstan, Polen, die Tschechische Republik und Finnland: jeweils 1. Aufgrund ihrer wissenschaftlichen Spezialisierung lassen sich die Respondent:innen wie folgt differenzieren: Geschichtswissenschaft: 15, Politikwissenschaft: 9, Soziologie: 8, Wirtschaftswissenschaften: 4, Internationale Beziehungen: 4, Kommunikationswissenschaft: 2, Linguistik: 2, und andere: 4. 28 der Respondent:innen haben einen Doktortitel (erster akademischer Titel nach dem Universitätsabschluss), fünf wurden habilitiert (zweiter akademischer Titel) und eine Person ist Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. Vier Personen sind Doktorand:innen und zehn haben keinen akademischen Titel. Auch wenn der Kreis der von uns Interviewten relativ klein ist, lassen sich bestimmte Typen von »Relokant:innen« unterscheiden, die sich vor allem aus dem Alter und der Phase der jeweiligen akademischen Karriere ergeben.

1. Junge Kosmopolit:innen (6 Personen): Junge Personen am Beginn ihrer akademischen Karriere, unter anderem Doktorand:innen und frisch Promovierte. Sie haben Anstellungen als PhD-Student:innen inne oder sind in PhD-Projekte eingebunden, wobei sie oft Stipendien erhalten. Ihre Emigration birgt allgemein und aus verschiedenen Gründen weniger Herausforderungen: Sie sind für gewöhnlich nicht durch familiäre Verantwortungen oder Kinder beeinträchtigt. Für sie sind sprachliche Probleme kein Thema, weder im Alltag noch im wissenschaftlichen Umfeld. Sie sind in die globale wissenschaftliche Community eingebunden, leicht auszubilden und für Forschungsprojekte anpassungsfähig, die nicht notwendigerweise mit Russland zu tun haben.

2. Nachwuchs im Exil (10 Personen): Zu einer weiteren Kategorie von Wissenschaftler:innen gehören jene, die nach der Verkündung der Mobilmachung im September 2022 und angesichts einer möglichen Grenzschließung eilig das Land verlassen haben. Sie hatten keine Zeit für eine eingehende Stellensuche oder Visaverfahren und zogen oft in »visafreie« Länder wie Armenien, Georgien, Kasachstan, Serbien oder Montenegro. Von dort aus suchten sie Orte für einen ständigen Wohnsitz. Sie springen von einem Stipendium zum nächsten, und sie wechseln dabei nicht nur oft die Stadt, sondern auch das Land, weil sie keine langfristige Anstellung finden können.

3. Renommierte Wissenschaftler:innen (15 Personen): Wissenschaftler:innen in der mittleren Phase ihrer Karriere mit einem gewissen akademischen Kapital und Verbindungen zu Kolleg:innen an westlichen Universitäten und Forschungszentren. Die Kolleg:innen haben eine helfende Hand ausgestreckt, aber in vielen Fällen war es dann lediglich möglich, ein halbes oder ein Jahr über die Runden zu kommen, ohne Aussicht auf eine Verlängerung. Für diese »Relokant:innen« wird die Situation dadurch verschärft, dass sie 1) nicht ganz von vorn anfangen und stattdessen das Kapital einsetzen wollen, das sie akkumuliert haben; das engt die Beschäftigungsmöglichkeiten für sie ein; 2) die meisten haben Familie und Kinder und müssen sich der Herausforderung stellen, diese unterzubringen.

4. Etablierte Wissenschaftler:innen im Exil (5 Personen). Eine eigene Kategorie bilden politisch aktive Wissenschaftler:innen, die sich in ihrer Heimat administrativem Druck gegenübersahen, was zum Verlust der Position und einer drohenden strafrechtlichen Verfolgung führte. Für sie ist die Auswanderung eher eine Flucht als ein Umzug in ein vorbereitetes Umfeld. Sie haben Verbindungen und Kolleg:innen, die bereit sind zu helfen. Jene jedoch, die in NGOs gearbeitet haben, was gewöhnlich für diese Gruppe der Fall war, können jetzt weder ihre Universitätslaufbahn wiederaufnehmen noch im vollen Maße bei westlichen NGOs mitarbeiten.

5. Teammitglieder (7 Personen). Eine andere Gruppe besteht aus Forscher:innen verschiedenen Alters, die oft in Thinktanks oder NGOs gearbeitet haben, die als unerwünscht eingestuft oder von der Regierung geschlossen wurden. Beispiele sind »Memorial«, wo viele ehrwürdige Mitglieder in oder kurz vor der Rente stehen, das »Sacharow-Zentrum«, das »Moscow Carnegie Center« und »Transparency International«. Aufgrund der massenhaften Emigration schaffen sie es, ihre Teams im Kern zusammenzuhalten oder sogar den institutionelle Rahmen zu bewahren. Hier ist die »Moskauer Schule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften« (meist »Schaninka« genannt) ein prominentes Beispiel: Die ehemaligen Mitarbeiter:innen bauen derzeit in Montenegro ein College auf.

6. Im Westen befindliche Forschende (4 Personen). Einige Wissenschaftler:innen befanden sich zu Beginn des Krieges im Ausland, im Rahmen eines Praktikums oder eines kurz- oder mittelfristigen Vertrags. Sie mussten das Land nicht verlassen; sie kehrten einfach nicht zurück, was die Probleme im Zusammenhang mit der Ausreise und der anfänglichen Eingliederung milderte. Dadurch waren sie den »renommierten Professor:innen« einen Schritt voraus, als der ursprüngliche Vertrag auslief und sie dringend etwas Neues finden mussten.

Die größten Herausforderungen bei der Emigration

Die größte Herausforderung, vor der die meisten Emigrant:innen stehen, ist deren rechtliche Status, insbesondere das Visum oder die Aufenthaltsgenehmigung. Die Beantragung eines Visums ist meist mit großen Schwierigkeiten verbunden: die Wartezeiten sind lang, bei der Verlängerung des Visums, bei der Beantragung eines Folgevisums, nachdem der alte Aufenthaltstitel abgelaufen ist, oder bei der Aufenthaltsgenehmigung sind weitere Hürden zu überwinden. Für jene in Deutschland, die kurzfristige Stipendien erhalten, ist das besonders belastend, da der Wechsel von einem Stipendium zum anderen es teils erfordert, das Land zu verlassen, um ein neues Visum zu beantragen. Das alles trägt zur Ungewissheit bei hinsichtlich eines langfristigen Aufenthalts im Land.

Das Problem, das am häufigsten genannt wurde, betrifft die Anmietung von Wohnraum. Das umfasst die komplexe Frage, eine Unterkunft zu finden, die besonders in Berlin eine Herausforderung darstellt. Hinzu kommen Verhandlungen mit dem/der Vermieter:in, wobei auch eine Unsicherheit in Bezug auf Anmeldung, den russischen Pass, Bankkonto, Arbeitsvertrag und anderem besteht. Viele der Befragten haben das mit unkonventionellen Mitteln geschafft, etwa durch persönliche Beziehungen oder die Unterstützung deutscher Kolleg:innen.

Ein beträchtlicher Anteil der Befragten hatte Probleme, eine Anstellung zu finden, wobei fast ein Viertel von ihnen sich gegenwärtig als »unabhängige Forscher:innen« positionieren. Im Grunde bedeutet das: Sie haben keine dauerhafte Anstellung. Die Betroffenen sind dazu gezwungen, sich von einem einmaligen Projekt zum nächsten entlang zu hangeln. Diese Situation kann auf objektive Probleme zurückzuführen sein, etwa auf eine mangelnde Beherrschung der Sprache. Und es hängt oft auch mit deutschen Kolleg:innen zusammen, die in den Anfangsphasen beträchtliche Unterstützung geleistet hatten, und die die begrenzten Ressourcen ihrer Institutionen nun ausgeschöpft haben. Die zentralisierten Unterstützungsprogramme für diese Emigrant:innen sind unzureichend.

Es gibt nur ganz wenige Befragte, die nicht von Schwierigkeiten mit der deutschen Bürokratie berichten, die von vielen als fremd und ungewöhnlich wahrgenommen wird. Unterstützung durch Kolleg:innen, von deutschen wie von anderen Emigrant:innen, die früher angekommen waren, ist hier von unschätzbarem Wert. Deutsche NGOs, besonders jene, die politische Migrant:innen unterstützen, reichen hier helfend ihre Hand.

Die Eröffnung eines Bankkontos ist eine weitere Hürde, vor der fast jede:r steht. Es gibt Vorschriften – allgemeine und bei gewissen Banken spezifische –, die es extrem schwierig oder nahezu unmöglich machen, mit einem russischen Pass in einer deutschen Bank ein Konto zu eröffnen. Das ist zwar unangenehm, aber irgendwie verständlich. Schwerer nachvollziehbar ist, dass bestehende Einschränkungen umgangen und dann Bankkonten eröffnet werden können, wobei jedes Mal auf persönliche Beziehungen und Bekannte zurückgegriffen wird.

Durch den Umstand, dass die Zahlungssysteme Kreditkarten russischer Banken blockieren, fallen die Schwierigkeiten, bei einer deutschen Bank ein Konto zu eröffnen, noch mehr ins Gewicht. Dadurch fehlt es Personen, die dem russischen Regime entkommen sind oder gar unter ihm zu leiden hatten, praktisch an Mitteln, den eigenen Lebensunterhalt zu gewährleisten. Ihre Ersparnisse, sofern vorhanden, sind in Russland verblieben. Das bekommen die Emigrant:innen besonders schmerzlich zu spüren, wenn sie frisch angekommen sind (und sei es mit einem Vertrag) und dann beträchtliche Mittel benötigen, um verschiedene Dinge im Zusammenhang mit der Abwanderung zu regeln. Wenn sie etwa eine Wohnung anmieten, diese einrichten wollen oder einfach für den Lebensunterhalt bis zur ersten Gehaltszahlung.

Einige der Befragten zählten zu den Problemen bei der Eingewöhnung das Gefühl des »Verlustes ihrer Mission«, die ihrer Arbeit in Russland den Sinn verlieh. Neben den praktischen, alltäglichen Problemen, vor denen jede:r Migrant:in steht, sollte die veränderte Motivationslage nicht vergessen werden: Viele der Relokant:innen haben in Russland in ihrem Fachbereich gearbeitet, weil sie sich für die Zukunft des Landes einsetzen wollten. Jetzt aber müssen sie neben grundlegenden Notwendigkeiten wie Brot und Unterkunft ihrem Berufsleben auch einen neuen Sinn geben. Dieses Gefühl wird von drei Befragten im Alter von 44, 53 und 59 Jahren – alle aus der Kategorie »renommierte Wissenschaftler:innen« – mit nahezu identischen Worten ausgedrückt: »Wir haben die Möglichkeit verloren, strategisch und patriotisch über die Zukunft nachzudenken. Unsere Anstrengungen sind entwertet worden. Wir haben unsere Mission verloren.«

Die Situation der Relokant:innen und ihre Selbstwahrnehmung

Jede Migration, besonders wenn sie eilig erfolgt, bringt für gewöhnlich einen Statusrückgang mit sich. Unsere Respondent:innen sind da keine Ausnahme. Eine zusammenfassende Einschätzung ihres Status im Wissenschaftssystem auf einer Fünf-Punkte-Skala (mit 1 als geringstem Status, 5 als höchstem) wird in Tabelle 1 gezeigt. Insgesamt sind russische Wissenschaftler:innen in Bezug auf ihren Status um eine Stufe abgesunken.

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Die Selbsteinschätzung der aktuellen Situation auf einer Skala von 1 (vollkommen unzufrieden) bis 5 (vollkommen zufrieden) stellt sich wie folgt dar:

  • 1 – 6 Personen
  • 2 – 11 Personen
  • 3 – 12 Personen
  • 4 – 6 Personen
  • 5 – 11 Personen

Es kann angenommen werden, dass diese Selbsteinschätzung zu optimistisch ist, da die Menschen ihre jetzige Situation mit derjenigen vergleichen, wovor sie geflohen sind.

Als die Befragten ihre jetzige Situation anhand verschiedener Faktoren damit verglichen, wie sie vor der Abwanderung war, bezeichneten 13 Personen ihre Situation jetzt als besser, 23 als schlechter und 12 Personen als gleichwertig. Was den finanziellen Aspekt anbelangt, so berichteten 11 Personen von einer Besserung und fünf von einer Verschlechterung; für die meisten (31) gab es keine Veränderung. Das gleiche Muster ergibt sich bei der Einschätzung des sozialen Status: zehn Befragte gaben an, er habe sich verbessert, sieben sahen eine Verschlechterung, während 30 sagten, er sei unverändert geblieben. Die Verteilung stellt sich anders dar, wenn es um das berufliche Umfeld und die Möglichkeiten dort geht. Hier lauten die Werte 10, 19 und 18. Insbesondere mit Blick auf das moralische und psychologische Wohlergehen haben 35 Befragte eine Verbesserung angegeben, fünf eine Verschlechterung und sieben keine Veränderungen.

Gleichzeitig sei es so, wie eine:r der Befragten aus der Kategorie »Teammitglieder« es formulierte, dass die bürgerlichen und politischen Freiheiten den verringerten Lebensstandard mehr als kompensieren. Grafik 1 unten stellt die Selbsteinschätzung der Veränderungen nach Kategorien der Befragten dar.

»Im Westen befindliche Forschende« (4. Kategorie) und junge Kosmopolit:innen (1. Kategorie) erlebten die größten Zugewinne und die geringsten Verluste durch die Migration, wobei nur die im Westen befindlichen Forschenden eine positive Veränderung auch hinsichtlich des sozialen Umfelds erfuhren. Deren Selbsteinschätzung in Bezug auf den professionellen Status ist unter allen Kategorien die höchste. Und ihr moralisches und psychologisches Wohlergehen ist fast am größten. In finanzieller Hinsicht haben »renommierte Wissenschatler:innen« (3. Kategorie) und junge Kosmopolit:innen (1. Kategorie) geringere Verluste als andere erlitten, während »Wissenschaftler:innen im Exil« (4. Kategorie) größere finanzielle Einbußen verzeichneten. Letztere berichten rekordverdächtig niedrige Werte in Bezug auf sämtliche anderen Aspekte der Situation nach der Migration im Vergleich zu der, die sie in Russland hatten.

Die größte Unterschied bei der Selbsteinschätzung ist bei der beruflichen Komponente zu beobachten, wobei diese bei den Kategorien »Im Westen befindliche Forschende« (6.), »junge Kosmopolit:innen« (1.) und »renommierte Wissenschaftler:innen« (3.) positiv ausfielen und bei den anderen negativ. Der geringste Unterschied ergab sich bei der Einschätzung des moralischen und psychologischen Wohlergehens, wo alle das Gefühl haben, dass es nach der Migration eine Verbesserung gab. Ähnliches gilt für die Einschätzung des sozialen Umfelds, wo bei fünf von sechs Emigrant:innen-Kategorien fast im gleichen Maße das Gefühl eines Verlustes vorherrschte. Nur bei »im Westen befindlichen Forschenden« wurde hier eine Verbesserung wahrgenommen.

Für Migrant:innen in Deutschland und in anderen Ländern fällt die Bewertung des finanziellen Status und des sozialen Umfelds geringer aus. Die Einschätzung des moralischen und psychologischen Wohlergehens sowie der beruflichen Möglichkeiten ist merklich positiver.

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Bewahrung und Wiederaufbau der wissenschaftlichen Gemeinschaft

Migration unterbricht bestehende Verbindungen in einer Gemeinschaft von Wissenschaftler:innen und sorgt – im Prinzip – dafür, dass die Migrant:innen Einzug in eine andere Gemeinschaft halten. Die Integration dauert sehr viel länger als der Abschied von der alten. Die Verbindungen zu jenen, die geblieben sind, werden im Allgemeinen aufrechterhalten, allerdings in beträchtlich verringertem Umfang. Bei der Kommunikation mit Kolleg:innen, die in Russland blieben, zeigen die Befragten mehr Zurückhaltung und Vorsicht; das Thema Krieg wird vermieden. Einerseits versuchen sie, den Kolleg:innen in Russland, die sich in engmaschig überwachten sozialen Netzwerken bewegen, nicht zu schaden. Andererseits ist der Krieg ein unangenehmes, gefährliches Thema, das in Russland in der öffentlichen Kommunikation unterdrückt wird. In einigen Fällen werden zuvor angestoßene Projekte, unter anderem in Arbeit befindliche Publikationen, fortgeführt. Die Verbindung zu russischen Institutionen wurde in mehreren Fällen beibehalten, unter anderem durch Online-Vorlesungen oder Führungsrollen in Forschungszentren.

Die Interaktion unter den Migrant:innen selbst ist intensiver. Sie umfasst nicht nur freundschaftliche Beziehungen, sondern auch eine Zusammenarbeit bei Projekten. Zu den Projekten, an denen mehrere Befragte beteiligt sind und die zum Teil an Startups erinnern, zählt die Gründung eines College in Montenegro durch Personen, die früher zur »Schaninka« in Moskau gehörten. Darüber hinaus gibt es ein komplexes Projekt zur Zukunft Russlands, das auf eines der informellen Seminare an der Higher School of Economics (HSE) zurückgeht. »Einsame überleben nicht«, sagte eine:r der Befragten zur Frage der Zusammenarbeit mit emigrierten Kolleg:innen. Es bestehen verschiedene Formen der Selbstorganisation von Relokant:innen in Netzwerken. In unseren Interviews wurde »Scholars without borders« (https://scholarswithoutborders.humboldt.edu/) genannt: »Ich behalte sie im Auge, bin dort aber nicht aktiv. Sie bieten Schulungen, Treffen auf neutralem Boden und erteilen Mini-Stipendien.« Ein anderes Netzwerk ist »Academic Bridges« (http://www.academicbridges.sbs/, https://www.youtube.com/@academic_bridges): »[…] wir arbeiten seit 2023; es begann alles mit einer Konferenz, und dann mit einem Kernteam von sechs Personen unter einigen Dutzend Teilnehmer:innen (zwei in Deutschland, zwei in Armenien, drei in Russland); eine Person ist noch hinzugekommen, auch in Deutschland; wir haben bereits 6–7 Seminare abgehalten.«

Ausblick in die Zukunft und Rückkehrabsichten

Die meisten Befragten verwiesen bei der Frage nach einer Rückkehr darauf, dass dafür nicht nur ein Regimewechsel in Russland vonnöten sei, sondern auch eine Normalisierung der gesamten Situation im Land. Das sei aber in der näheren Zukunft nicht zu erwarten. Viele Befragte, besonders jüngere, meinten, sie wollten sich im Westen niederlassen und mindestens zehn Jahre bleiben, um sich zu integrieren, die Staatsbürgerschaft zu erlangen und für die Bildung ihrer Kinder sorgen.

Eine:r der Befragten unter 60 aus der Gruppe der »renommierten Wissenschatler:innen« (3) sagte: »Zurückkehren? Wenn du damit rechnest, wirst du enttäuscht sein. Beim Pflügen soll man nicht zurückschauen. Du musst leben, als ob es keine Rückkehr gibt.«

Andererseits meinte ein:e 37-jährige:r aus der Kategorie »junge Kosmopolit:innen« (1): »Ich kann mir im Prinzip eine Rückkehr vorstellen, es ist aber unklar, wann. Ich investiere in die Integration, ich lerne die Sprache, statt Artikel zu schreiben; ich suche nach Möglichkeiten, die Wissenschaft zu verlassen, wo alles überbevölkert ist. Es ist aber noch unklar, wohin ich gehen soll.«

Für Respondent:innen über 50, deren Karrieren nicht in erster Linie in der Wissenschaft erfolgen, ist die Situation anders. Sie haben ihre »Blase ohne viel Integration in das Leben vor Ort«. Ein:e 48-jährige Respondent:in aus der Gruppe der »Teammitglieder« (5) meinte: »Du musst dich auf eine lange Zeit einstellen, aber es gibt noch Hoffnung, und wir haben beschlossen, unsere Wohnung in Moskau nicht zu verkaufen. Ich arbeite vor allem mit Russ:innen zusammen; wenn ich mich in Deutschland mit der Sprache usw. integrieren wollte, müsste ich aus allen unseren Projekten aussteigen, und das will ich nicht.«

Die gegenwärtige Situation ist nur für knapp über ein Drittel der Befragten akzeptabel oder eher befriedigend, während ebenfalls ein Drittel eher unzufrieden oder gar nicht zufrieden ist.

Die Erfahrungen der 2000er Jahre, als der russische Staat sich dafür einsetzte, dass erfolgreiche russische Wissenschaftler:innen aus dem Ausland zurückkehren, und diejenigen die zurückkehrten, oft negative Reaktionen von Kolleg:innen erlebten, die in Russland schwierige Zeiten durchgemacht hatten, legen nahe, dass Rückkehrpläne heute trügerisch sind und womöglich gar nicht verwirklicht werden könnten.

Schlussfolgerungen und Politikempfehlungen

Die Entwicklung von Russlands Überfall auf die Ukraine zu einem anhaltenden und unabsehbar langen Krieg erfordert eine Neubewertung der Strategie des Westens, sowohl gegenüber Russland insgesamt wie auch gegenüber Russ:innen, die ihr Land verlassen haben.

Die philanthropischen Bemühungen für die vom derzeitigen Krieg Betroffenen, die traditionell von Ländern des Westens übernommen wurde, sind beträchtlich verlängert worden. Es ist wichtig, neue Ansätze zu finden und Strategien zu entwickeln, die sich an einer gegenseitig nutzbringenden Zusammenarbeit orientieren. Anstatt lediglich finanzielle Hilfe zu leisten, sollte der Fokus auf der Schaffung einer Infrastruktur liegen, mit der die Potenziale der ankommenden Wissenschaftler:innen maximal genutzt werden könnten. Eine mögliche Lösung wäre, die Netzwerke zu bewahren und deren strukturelle Größenvorteile zu nutzen, indem aus Russland migrierte Wissenschaftler:innen, besonders jene aus großen Forschungseinrichtungen wie der »Schaninka« oder dem »International Center for the Study of Institutions and Development« (ICSID) der HSE, gewissermaßen gebündelt werden. Es wäre überlegenswert, ob die deutsche Bundesregierung nicht einige Hundert Stipendien in den Bundesländern einrichten könnte, um bestehende Forschungszentren durch Russ:innen zu stärken, die nach Deutschland emigriert sind. Um die Belastung für den deutschen Haushalt auszugleichen, sollten russische Oligarchen in die Finanzierung dieser Zentren eingebunden werden, womöglich unter der Bedingung, dass persönliche Sanktionen gegen sie gelockert werden.

Der Aufbau eines Netzwerks solcher Forschungszentren würde helfen, das Problem der Russland-Expertise anzugehen, das zunehmend akut wird. Es sollte erkannt werden, dass der Kreis fähiger Expert:innen in Russland kleiner wird, also eine Ressource, die traditionell von westlichen Expert:innen angezapft wurde. Gleichzeitig scheint es keine große Nachfrage nach Expert:innen zu geben, die Russland verlassen haben. In Russland vollzieht sich ein rapider Wandel, und Entscheidungen westlicher Politiker:innen stützen sich auf Expert:innen-Analysen, die aus der Vorkriegszeit stammen und schnell veraltendes Wissen darstellen. Die Expert:innen wiederum geraten lediglich zu Kommentator:innen, wenn sie keine Forschung betreiben. Es ist sehr wichtig, verschiedene Forschungsprojekte zu initiieren, auch vernetzte, die Bereiche wie Wirtschaft, Soziales, die innenpolitische Entwicklung, die politischen Eliten, sozioökonomische und politische Prozesse in den Regionen, das Verhältnis zwischen den Regionen und dem Zentrum und die lokale Regierungsführung abdecken.

Die Situation der Abwanderung aus Russland hat sich in gewissem Sinne stabilisiert. Die meisten, die zur Auswanderung bereit waren, haben das inzwischen getan. Eine neue Emigrationswelle wird es nur geben, wenn es zu plötzlichen Veränderungen im Innern (Mobilmachung, Repressionen, keine Möglichkeiten mehr, sich beruflich über Wasser zu halten) und/oder externen Anstößen kommt. Zu den externen Veränderungen gehört der Beginn von transparenteren, langfristigen Programmen, die es Einzelpersonen ermöglichen, ohne beträchtliche Ersparnisse und ohne eine Grundlage (in Form einer etablierten Reputation und Beziehungen ins Ausland) ein neues Leben zu beginnen.

Bislang sind Push-Faktoren wirksam gewesen, und diejenigen, die es nicht mehr ertragen konnten und einen Ort hatten, wo sie hinkonnten, zogen dann auch fort. Jetzt bedarf es Pull-Faktoren, um starke, fähige und initiativreiche Personen anzuziehen – um die Qualität der Russlandexpertise zu erhöhen und das Putin-Regime zu schwächen, in dem ihm die Zukunft entzogen wird.

Ein besonderes Problem ist die Aufenthaltsverlängerung für jene, die zuvor im Rahmen von schnell aufgelegten Kurzzeitstipendien gekommen waren und in den paar Monaten keine langfristige Anstellung finden konnten. Das Problem wird durch den Umstand verschärft, dass Ausschreibungen für Förderprogramme einen recht langen Zyklus haben. Und wenn ein:e Forscher:in diesen Zeitraum nicht mit einem Visum oder einer Aufenthaltsgenehmigung abdecken kann, muss er oder sie das Land verlassen und in einem Land mit Visafreiheit für Russ:innen auf den Bescheid warten. Zudem wird das Bankkonto mit Erlöschen des Aufenthaltstitels geschlossen. Es werden spezielle Langzeitprogramme für Russ:innen benötigt, um deren Integration in die deutsche Wissenschaftswelt zu befördern, wobei unter anderem eine direkte Konkurrenz zu Ukrainer:innen beseitigt werden muss – dass die Aufmerksamkeit für Ukrainer:innen Vorrang hat, ist nur verständlich und gerecht.

Es ist wichtig, in Zukunft das unweigerlich zunehmende Problem des rechtlichen Status der nach Deutschland zuwandernden Russ:innen anzugehen, wobei man von reaktiver Taktik zu einer proaktiven Strategie übergehen sollte. Viele sind wegen der zunehmenden politischen Repressionen in Russland nicht in der Lage, zurückzufahren und ihre Papiere – vor allem Pässe – zu erneuern, wenn sie auslaufen.

Es ist wichtig anzumerken, dass die Klagen über die schwerfällige und strenge deutsche Bürokratie, die nur schwerlich effizienter zu machen ist, nicht immer begründet sind. Viele Migrant:innen finden Wege, dieses Problem zu umgehen, indem sie mit Hilfe von Bekannten einen früheren Termin bekommen und ein Bankkonto einrichten oder eine Wohnung mieten. Gleichwohl ist es notwendig, die geltenden Vorschriften und Regeln für russische Relokant:innen kritisch zu analysieren und mit Blick auf eine Lockerung zu überdenken.

Viele der Befragten haben die bedeutende Rolle unterstrichen, die diverse Freiwillige und zivilgesellschaftliche Organisationen spielten, um ihnen bei der Eingliederung und Integration in eine neue und ungewohnte Umgebung zu helfen. Daher könnte es effizienter sein, bereits bestehende zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich als effektiv erwiesen haben, staatlich zu unterstützen, statt das Eingreifen des Staates zu verstärken.

Die Wahrnehmung, wie lange die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen anhalten wird, hat sich verändert. Nun ist mit einem viel längeren Planungshorizont zu rechnen, deswegen müssen die ursprünglichen Programme verändert werden. Diese hatten jene unterstützen sollen, die migriert sind, um das Ende des Albtraums abzuwarten. Jetzt braucht es langfristigere Initiativen, die auch für Deutschland von Nutzen sind.

Dieser Artikel stützt sich auf Ergebnisse des Projekts »Russia 2022/2023. Persecution in the academic sphere and forced emigration«, das von Mai bis Oktober 2023 vom Russland-Team bei »Science at Risk: Emergency Office« (Akademisches Netzwerk Osteuropa e.V., Berlin) durchgeführt wurde (https://science-at-risk.org/wp-content/uploads/2024/01/SAR-Monitoring-Report_Russia-Dec-2023-1.pdf">https://web.archive.org/web/20240123210559/https://science-at-risk.org/wp-content/uploads/2024/01/SAR-Monitoring-Report_Russia-Dec-2023-1.pdf). Der Autor möchte sich persönlich und im Namen der Befragten bei Deutschland, seiner Regierung und seinen Bürger:innen für die Unterstützung bedanken, die wir in dieser für uns und das demokratische Russland schwierigen Zeit erfahren.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Zum Weiterlesen

Analyse

Emigration von Wissenschaftler:innen aus Russland:
 Kollektive und individuelle Strategien

Von Alexander Kalgin
Nach dem 24. Februar 2022 mussten viele Russ:innen, die dem Krieg kritisch gegenüberstanden, aus dem Land fliehen, wobei ihnen oft die Mittel für den Beginn eines neuen Lebens im Ausland fehlten. Diese Emigrant:innen hatten den Status von »nicht vollwertigen Flüchtenden«, da sie nicht vor Krieg oder unmittelbar drohender physischer Gewalt flohen, sondern vor bevorstehenden Repressionen durch »das Regime«. Unter diesen Migrant:innen war ein beträchtlicher Anteil Wissenschaftler:innen. Diese Analyse untersucht die kollektiven und individuellen Strategien bei der Migration von Wissenschaftler:innen, und versucht, die Kriterien für einen erfolgreichen institutionellen Standortwechsel russischer Forschungsteams zu konzeptualisieren.
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