Gewissensfreiheit und Anti-Extremismus-Gesetzgebung in Russland

Von Olga Sibirewa, Natalija Judina (beide Sowa-Zentrum)

Jahresbericht 2023: Probleme bei der Verwirklichung der Gewissensfreiheit in Russland

»Im Zusammenhang mit Bauvorhaben ist uns nur ein weiterer Konflikt bekannt: Die Behörden in Sotschi verweigerten die Genehmigung für die religiöse Nutzung eines Grundstücks, auf dem ein jüdisches Kulturzentrum einschließlich einer Synagoge gebaut werden sollte. Der Ablehnung waren Proteste von Anwohner:innen vorausgegangen, die auf dem Grundstück einen öffentlichen Garten bevorzugten und befürchteten, dass die Synagoge die Verkehrssituation verkomplizieren würde.«

[…]

»Es ist nur ein Fall von Vandalismus gegen eine jüdische Stätte bekannt (zwei Fälle waren es im Jahr 2022): im Oktober setzten Teilnehmer:innen antisemitischer Aktionen, die eine Reaktion auf die Eskalation des palästinensisch-israelischen Konflikts waren, ein im Bau befindliches jüdisches religiöses national-kulturelles Gemeindezentrum in Naltschik [die Hauptstadt der nordkaukasischen Republik Kabardino-Balkarien, Anm. d. Red.] in Brand, warfen brennende Reifen auf das Gelände und hinterließen die Aufschrift ›Tod den Jahudis‹ an der Hauswand.«

Quelle: Sowa-Zentrum, Jahresbericht 2023: Probleme bei der Verwirklichung der Gewissensfreiheit in Russland, 5. März 2024, https://www.sova-center.ru/religion/publications/2024/03/d49416/.

Rechtsanwendung der Anti-Extremismus-Gesetze in Russland im Jahr 2023

[…]

»In diesem Bericht verzeichnen wir 23 Verurteilungen von 23 Personen, in denen Artikel 3541 des Strafgesetzbuchs (Rehabilitierung des Nationalsozialismus) genannt wird; in 18 dieser Fälle war er der einzige Artikel im Urteil. In den meisten Fällen wurden diese Personen wegen Leugnung des Holocaust oder antisemitischer Veröffentlichungen verurteilt, die Hitlers Judenvernichtung während des Zweiten Weltkriegs rechtfertigten.«

[…]

»In den im Jahr 2023 ergangenen Urteilen haben wir die folgenden Adressaten identifiziert, gegen die Feindseligkeiten gerichtet waren (die belastenden Materialien der Verurteilten konnten Feindseligkeit gegenüber mehreren Gruppen zum Ausdruck bringen):

  • ethnische Feinde – 54, darunter: Jüd:innen – 15, Russ:innen – 7, Kaukasier:innen – 8, Zentralasiat:innen – 4, Roma – 2, Pol:innen – 1, Personen nicht-slawischer Herkunft – 2, Iraner:innen und ihre Sympathisant:innen – 1, unbekannte ethnische Feinde – 14;
  • religiöse Feinde – 32, darunter: orthodoxe Christ:innen, einschließlich Priester – 3, Jüd:innen – 2, Katholik:innen – 2, Muslim:innen – 3, Ungläubige aus der Sicht das Islams (Romantisierung von Kämpfern, Aufrufe, zu ISIS zu gehen und sich dem Dschihad anzuschließen) – 17, unbekannte religiöse Feinde – 5;
  • Vertreter:innen des Staates – 134, darunter: Staat und Behörden im Allgemeinen – 59, FSB-Beamt:innen – 4, Polizeibeamt:innen – 5, Strafverfolgungsbeamt:innen im Allgemeinen – 19, Militär – 33, der Präsident persönlich – 9, Abgeordnete – 2, Beamte im Allgemeinen – 2, Leiter der Region Komi – 1;
  • Einwohner:innen der Luhansker und Donezker Volksrepubliken – 1;
  • Russen und alle, die die ›Militärische Spezialoperation‹ unterstützen – 5;
  • Staatsangestellte im unteren Dienst, die als Beamt:innen wahrgenommen werden – 3, darunter: Angestellte der Wohnungs- und Versorgungswirtschaft – 1, Angestellte des Gesundheitswesens – 1, Gemeindeangestellte – 1;
  • Schulkinder (im Zusammenhang mit der Columbine-Bewegung) – 1;
  • unklarer Gegenstand der Feindseligkeit, ausgedrückt durch das Zeigen von Nazi-Symbolen und Porträts von Nazi-Führern – 23;
  • völlig unbekannt – 44.

Für Äußerungen im Zusammenhang mit Militäraktionen in der Ukraine im Jahr 2023 gab es nach unseren Schätzungen mindestens 70 Verurteilungen (d. h. etwa 30 Prozent) der in diesem Bericht gezählten Fälle.

In den letzten drei Jahren sind die Hauptgruppen der Personen, denen Feindseligkeiten entgegengebracht wurde, dieselben geblieben: ethnische, religiöse und staatliche Vertreter:innen. Der Anteil der staatlichen Vertreter:innen ist mit 56,5 Prozent erneut deutlich gestiegen (46 Prozent der Verurteilungen im Vorjahr, 41 Prozent im Jahr 2021).«

[…]

»Gemäß Artikel 20.3.1 des russischen Verwaltungsstrafbuches traten im Jahr 2022 etwa 1200 Entscheidungen in Kraft. Leider ist es nicht möglich, genauere Angaben zu machen, da der Oberste Gerichtshof seit 2022 die Daten zu Artikel 20.3 und 20.3.1 zusammenfasst. Aber wir haben anhand unserer Daten und der Daten von OVD-Info das ungefähre Verhältnis zwischen ihnen ermittelt. Im Jahr 2023 wurden offenbar weniger als 900 Strafen mittels dieses Artikels verhängt. Das Sowa-Zentrum hat für das Jahr 2023 328 Entscheidungen nach diesem Artikel überprüft.

Die überwiegende Mehrheit wurde für Veröffentlichungen in sozialen Medien bestraft – hauptsächlich auf VKontakte, aber auch auf Odnoklassniki, Instagram, TikTok, den Messengern Telegram und WhatsApp (Nachrichten in einer großen Gruppe), der Online-Community Pikabu und YouTube.

Die Feindseligkeiten in den inkriminierten Kommentaren, Äußerungen, Videos und Bilder richteten sich gegen:

  • ethnische ›andere‹ – 285 (einschließlich Zentralasiat:innen – 54, Kaukasier:innen – 52, Jüd:innen – 39, Russ:innen – 39, Roma – 11, Schwarzhäutige – 10, Ukrainer:innen – 5, Personen nichtslawischer Herkunft – 6. andere ethnische Gruppen – 69);
  • religiöse ›Andere‹ – 18 (Jüd:innen – 3, Muslim:innen – 6, Christ:innen, einschließlich Geistliche der orthodoxen Kirche – 7, ›Ungläubige‹, d. h. diejenigen, die sich nicht zum Islam bekennen – 1; Buddhist:innen – 1);
  • Staatsangestellte und Beamt:innen – 51 (Ordnungskräfte und Polizei – 23, Militär – 2. Vertreter:innen der Behörden, einschließlich Beamte und Abgeordnete der Staatsduma – 16, persönlich beim Präsidenten der Russischen Föderation – 4, Gerichtsvollzieher:innen – 1, andere Beamte – 5);
  • Russische Bürger:innen – 6;
  • Antifaschist:innen – 2;
  • Kommunist:innen – 1;
  • andere ›gesellschaftliche Gruppen‹ (z. B. Veteran:innen, Vaterlandsverteidiger:innen, Einwohner:innen von Moskau, Frauen, Männer, Kinder) – 26;
  • unbekannt – 68.«

Quelle: Judina, Natalija. Rechtsanwendung der Anti-Extremismus-Gesetze in Russland im Jahr 2023. Sowa-Zentrum, 14.3.2024, https://www.sova-center.ru/racism-xenophobia/publications/2024/03/d49456/.

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Kommentar

Wie sehr geht es bei der strafrechtlichen Verfolgung von »Rehabilitierung des Nazismus« um politische Repressionen?

Von Andrii Nekoliak, Elizaveta Klochkova
Nach dem Beginn des großangelegten russischen Einmarsches in die Ukraine im Februar 2022 kam es im Land zu einer Welle von Protesten gegen den Krieg. Die russische Regierung hat die politischen Repressionen intensiviert, indem Gesetze verabschiedet wurden, mit denen hart gegen Gegner des russischen Krieges in der Ukraine und des zunehmend kriminellen Regimes von Wladimir Putin vorgegangen wird. Dieser Kommentar führt aus, dass die Verfolgung gemäß dem Paragraphen »Rehabilitierung des Nazismus« (§ 354.1 des russischen Strafgesetzbuches, der 2014 eingeführt wurde) in Russland ein Mittel zur politischen Repression darstellt. Der Paragraph wird zunehmend eingesetzt, um Regimegegner zu verfolgen, wobei fälschli- cherweise ein legitimes gesellschaftliches Anliegen als Vorwand für die Verfolgung angewendet wird. Dieser Fall ist ein weiteres Beispiel einer Verknüpfung von erinnerungspolitischen Gesetzen mit dem strafrechtlichen Vorgehen gegen regierungskritischen Protest.
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