Eine neue Phase der russisch-israelischen Beziehungen nach dem 7. Oktober 2023

Von Lidia Averbukh (Bertelsmann Stiftung, Berlin)

Zusammenfassung
Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nahm Russland eine israelkritische Haltung ein. Damit wurde eine neue Phase der russisch-israelischen Beziehungen eingeläutet. Weder Putins persönliche Sympathien gegenüber Israel, die in den 2000er Jahren die Beziehungen prägten, noch die israelische Neutralität im russischen Krieg in der Ukraine, die den Bemühungen westlicher Verbündeter zuwiderlief, konnten den Bruch verhindern. Russland ordnete den Krieg im Nahen Osten der übergreifenden außenpolitischen Logik unter, die den Westen und die USA dafür verantwortlich macht. Als Reaktion verschärfte Israel den Ton gegenüber Russland. In der politischen Praxis lassen sich jedoch nur wenige Veränderungen ausmachen.

Russlands eigennützige Interpretation der Situation

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nahm Russland eine israelkritische Haltung ein. Es dauerte zehn Tage, bis Putin dem israelischen Premierminister Netanjahu kondolierte. Dabei vermied er es, den Terrorangriff als solchen zu benennen. In den folgenden Monate wurde deutlich, dass die Positionierung Russlands im Nahostkonflikt der Logik folgt, die auch im Ukrainekrieg vorherrscht. Putin behauptete, der Krieg in Gaza wäre die Konsequenz westlicher Ambitionen und insbesondere der Politik der USA, die den Nahostkonflikt »monopolisiert« und sich damit über die internationale Ordnung hinweggesetzt hätten. Der Krieg in Gaza würde sich in die imperialen Bestrebungen des Westens einfügen und gegen Antikolonialisierungsbewegungen des sogenannten globalen Südens gerichtet sein. »Wir, Russland, kämpfen […] sowohl für uns selbst als auch für diejenigen, die nach echter, wahrer Freiheit streben. Doch wer wirklich die Wahrheit und Gerechtigkeit verteidigt, kämpft gegen das Böse und die Unterdrückung, gegen Rassismus und Neonazismus, die der Westen fördert, steht jetzt an vorderster Front – bei Donezk, Awdejewka, am Dnipro – […] wo das Schicksal Russlands und der ganzen Welt entschieden wird, einschließlich der Zukunft des palästinensischen Volkes«, so Putin Ende Oktober 2023. Wie schon im Krieg gegen die Ukraine zieht Putin geschichtsverfälschende Parallelen zum Großen Vaterländischen Krieg und vergleicht die israelische Armee mit Nazis und die Blockade Gazas mit der Blockade Leningrads.

Russland nutzt den Krieg im Nahen Osten, um das Narrativ, der Westen argumentiere immer mit doppelten Standards, zusätzlich zu befeuern. Während der Vorwurf lautet, der Westen verschließe die Augen vor dem Leid der Palästinenser:innen in Gaza und wende das Völkerrecht selektiv an, macht sich Russland angeblich für die Palästinenser:innen und somit auch für das Völkerrecht stark. So berief Russland beispielsweise am 18. Oktober eine Dringlichkeitssitzung der Vereinten Nationen zum Vorgehen des israelischen Militärs ein und brachte mehrere Resolutionen zum sofortigen Waffenstillstand in den Sicherheitsrat ein, die unter anderem am Veto der USA scheiterten. Zusätzlich unterstützt Russland Südafrikas Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in den Haag, in der Israel des Genozids am palästinensischen Volk bezichtigt wird.

Russisch-israelische Annäherung seit Putin

Die Geschehnisse seit Oktober läuteten eine neue Phase der russisch-israelischen Beziehungen ein. Während der Sowjetzeit herrschte eine starke Feindseligkeit gegenüber Israel, die im tief verwurzelten Antisemitismus sowie dem Vorwurf doppelter Loyalitäten von Jüd:innen gründete. Sowjetische Jüd:innen durften nicht ausreisen, um sich in Israel niederzulassen. Währenddessen baute die Sowjetunion Beziehungen zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und arabischen Staaten auf und bot unter anderem jungen Palästinenser:innen die Möglichkeit, in Moskau zu studieren. Einige wurden später prominente Funktionäre der PLO und Fatah, der stärksten palästinensischen Fraktion.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR kam es in den 1990er und frühen 2000er Jahren zu einer Welle jüdischer Emigration aus Russland und anderen postsowjetischen Ländern. Als Putin im Jahr 2000 ins Amt kam, hatten über 1 Million Israelis eine familiäre Beziehung zur ehemaligen Sowjetunion. Putin hat auch selbst persönliche Verbindungen nach Israel. Bei mehreren Anlässen sprach er über seine Lehrerin, die ihm Deutsch beibrachte und die nach Israel emigrierte. Als sie in den Ruhestand ging, schenkte er ihr eine Wohnung in Tel Aviv. Persönliche Verbindungen schienen die russisch-israelischen Beziehungen in den frühen 2000er Jahren zu prägen. Putin sprach häufig von »unseren Landsleuten«. Er sah in der russischsprachigen Bevölkerung Israels eine Chance für Russland und eine Möglichkeit, Israel stärker an sich zu binden.

Im Jahr 2012 eröffnete er ein jüdisches Museum in Moskau und positionierte sich als Beschützer der jüdischen Diaspora. Vor dem Hintergrund des wachsenden Antisemitismus in Europa rief er 2016 europäische Jüd:innen dazu auf, nach Russland zu ziehen. Berel Lazar, der Oberrabbiner Russlands, zählt zu seinen engsten Vertrauten.

Eine gute Chemie hatte Putin auch mit dem israelischen Premierminister Netanjahu. Für diesen war die Beziehung zu Putin eine Gelegenheit, sich als Politiker von Weltrang darzustellen. Im Jahr 2019 startete Netanjahu seinen Wahlkampf mit einem Plakat an einem Wolkenkratzer in Tel Aviv. Auf dem Bild schüttelte er Putin die Hände. Die Überschrift lautete: »Netanjahu. Eine andere Liga«.

Eine der außenpolitischen Prioritäten Putins bestand darin, dass Russland zu allen Akteuren des Nahen Osten Beziehungen unterhält, um gegebenenfalls mit konfligierenden Parteien sprechen und als Vermittler auftreten zu können. Die Zusammenarbeit Russlands mit dem Iran und der Hisbollah im syrischen Bürgerkrieg auf Seiten des Assad-Regimes seit 2015 stellte für Israel eine Bedrohung dar, die allerdings durch den sogenannten »deconfliction mechanism«, der sofort nach der russischen Intervention etabliert wurde, verringert werden konnte. Dieser internen Abmachung zufolge kann Israel nach Rücksprache mit Russland Angriffe auf iranische Stellungen auf dem syrischen Territorium fliegen, ohne russische Militärs zu gefährden und ohne Gegenreaktionen befürchten zu müssen. Netanjahu prahlte damit, dass für dieses Entgegenkommen Russlands seine persönliche Freundschaft mir Putin ausschlaggebend war.

Die massive regionale Präsenz Russlands seit dem Syrienkrieg führte dazu, dass israelische Politiker:innen und Militärexpert:innen Russland als Nachbarn bezeichneten. Putin sah sich zu diesem Punkt nicht nur als Beschützer der Jüd:innen, sondern als Sicherheitsgarant für Israel.

Israelische Neutralität nach der Invasion der Ukraine

Im Gegensatz zu anderen westlichen Staaten hat Israel seine Russland-Politik nach der Invasion der Ukraine nicht wesentlich verändert. Beide israelischen Regierungen seit Februar 2022 – das Duo Naftali Bennett und Jair Lapid sowie die aktuelle Regierung des wiedergewählten Premierministers Netanjahu – unterschieden sich in ihrem Umgang mit Russland hauptsächlich im Ton. Es ist Jair Lapid, der sich zu Beginn des Krieges einige wenige russlandkritische Aussagen erlaubte. Faktisch hat Israel keine Sanktionen gegen Russland verhängt und lehnte es trotz wiederholter Anfragen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ab, Waffen an Kyjiw zu liefern.

Stattdessen wurde Israel zur beliebten Destination russischer Oligarchen. Sanktionierte Einzelpersonen konnten mit israelischen Dokumenten weiterhin nach Europa reisen, und russische Unternehmen wie Yandex bauten ihre Aktivität in Israel aus. Gleichzeitig formierte sich eine lebendige kremlkritische Zivilgesellschaft aus neuen russischen Emigrant:innen sowie ukrainischen Geflüchteten in Israel. Ihre Aktivitäten veränderten trotzdem nicht, dass der Krieg in der Ukraine für die meisten israelischen Parteien zu keinem Zeitpunkt zur politischen Priorität wurde, er spielte kaum eine Rolle.

Die Beziehung mit Russland kühlte dennoch ab. Israel versuchte einen Spagat, der sich einerseits in demonstrativer Neutralität und andererseits in einzelnen Sympathiebekundungen Richtung Ukraine äußerte, um dem Druck des Westens nachzukommen. Das führte dazu, dass Russland Israel im Gegenzug spüren ließ, dass es in vielerlei Hinsicht am längeren Hebel sitzt. So wurde die Arbeit der Jewish Agency in Moskau, die weltweit jüdische Einwanderung nach Israel organisiert, im Sommer 2022 wegen angeblicher Rechtswidrigkeiten ausgesetzt. Diese Schikane gegenüber der jüdischen Diaspora erinnerte an die Reisesperre aus der Sowjetzeit. Antisemitismus war plötzlich auf der höchsten politischen Ebene wieder erlaubt:So erklärte Außenminister Lawrow im Mai 2022, Hitler wäre jüdischer Abstammung gewesen. Der Streit um den Alexanderhof in Jerusalem, den Russland als eigenes Territorium ansieht, entbrannte erneut. Gefährlicher jedoch wurde der Umstand, dass auch die russische Toleranz gegenüber israelischen Angriffen auf syrischem Territorium sank. Während sich der Westen und allen voran die USA darum bemühten, Russland zu isolieren und das auch von eigenen Verbündeten erwarten, interagierte Israel aus Gründen der eigenen Sicherheit weiterhin diplomatisch und wirtschaftlich mit Russland.

Nach der Wiederwahl Netanjahus im November 2022 gratulierte Putin erst einen Monat später. Um den neutralen Kurs Russland gegenüber zu bekräftigen, kündigte der neue Außenminister Eli Cohen bei seiner Antrittsrede an, dass nun »weniger über die Ukraine geredet« werden sollte. Bevor er mit seinem ukrainischen Amtskollegen telefonierte, sprach er zuerst mit dem russischen Außenminister. Bei seinem Antrittsbesuch in der Ukraine im Februar 2023, der bisher den ranghöchsten Besuch der neuen israelischen Regierung darstellt, vermied er es, Russland nur mit einem Wort zu erwähnen.

Doch weder die positiven Gefühle Putins gegenüber Israel noch die israelische Neutralität im Ukrainekrieg verhinderten, dass Moskau nach den Ereignissen im Oktober den Weg der Realpolitik einschlug.

Der Bruch der Beziehungen und die israelische Reaktion

Heute positioniert sich Israel so, als hätte es von Anfang an auf ukrainischer Seite gestanden. Während der Gedenkveranstaltung zum bereits zwei Jahre andauernden Krieg in der Ukraine hielt der israelische UN-Botschafter Gilad Erdan am 27. Februar 2023 eine Rede vor der Generalversammlung. Er listete israelische humanitäre Hilfe sowie den Aufbau eines Feldlazaretts auf – beides Maßnahmen der Regierung Bennett-Lapid – und sprach davon, dass sowohl die Ukraine als auch Israel für die eigene territoriale Integrität und nationale Souveränität kämpften. Damit verglich er implizit die Hamas und Russland, die Israel bzw. der Ukraine das Existenzrecht absprechen.

Wie auch Russland verknüpft Israel grundverschiedene Kriege, um das eigene Argument zu stärken und der israelischen Kritik gegenüber internationalen Organisationen mehr Gewicht zu verleihen. Wie es sich an der mangelhaften Unterstützung gegenüber Israel und der Ukraine ablesen lasse, sei die UN moralisch bankrott, der Sicherheitsrat sei paralysiert, so der israelische Botschafter. Akteure des internationalen Terrorismus, gegen den Israel und Ukraine stellvertretend für die gesamte Welt vorgehen würden, haben Teile der UN für die eigene Sache konvertieren können. Erdan endet mit dem Ausruf: “to the Rest of the Free World I say: Wake up!”

Bemerkenswert ist die offene Anklage Erdans, Russland gehöre mittlerweile ideologisch zur sogenannten »Achse des Widerstands« bestehend aus dem Iran und den von ihm unterstützten Akteuren, wie der Hamas, der Hisbollah und den Huthis. In einem Interview am 31. Januar 2023, während bereits bekannt war, dass Russland in der Ukraine iranische Waffen einsetzt, sah Netanjahu noch davon ab, die enger werdenden Beziehungen zwischen Russland und dem Iran anzusprechen. Sicherlich war die wachsende Abhängigkeit Moskaus von Teheran für Israel schon damals besorgniserregend. Russland ist abgeschnitten von westlichen Märkten und kauft zunehmend iranische Drohnen. Iran soll wiederum US-amerikanischen Berichten zufolge versuchen, russische Kampfhubschrauber, Kriegsflugzeuge und Luftabwehrsysteme zu erwerben. Auch der Austausch von Technologie und Know-how intensiviert sich. Trotzdem trennte Netanjahu, der unter anderem aufgrund seines kompromisslosen Ansatzes gegenüber dem Iran als »Mister Security« bezeichnet wird, das Thema Iran von dem strategischen Umgang mit Russland. Der Einsatz iranischer Waffen durch Russland ließ ihn vor einem Jahr auch nicht die Politik gegenüber der Ukraine überdenken. Mittlerweile hat sich das Blatt gewendet und israelische Regierungsvertreter beklagen offener die russisch-iranische Partnerschaft.

Die Rede Erdans ist zudem eine Reaktion auf den Besuch unterschiedlicher palästinensischer Fraktionen, einschließlich Terrororganisationen, wie der Hamas und des Islamic Jihad, in Moskau am 29. Februar. Für die Hamas, die in Russland nicht als terroristische Organisation eingestuft ist, ist es bereits die zweite Reise nach Russland seit dem 7. Oktober. Die Hamas verfügt über russische Waffen, die wahrscheinlich über den Iran den Weg in den Gazastreifen gefunden haben. Zudem soll Russland der Hamas eine Lizenz zur Produktion von Kalaschnikows erteilt haben. Außerdem finanziert sich die Hamas unter anderem über russische Kryptobörsen.

Russland behauptet, dass die Beziehung zur Hamas die Verhandlungsposition verbessere, um israelische Geiseln, die am 7. Oktober in den Gazastreifen verschleppt wurden, zu befreien. Derzeit gibt es allerdings keine handfesten Beweise dafür, dass Russland tatsächlich Druck auf die Hamas aufbaut oder die Gesprächskanäle zur Befreiung von Geiseln genutzt wurden.

Die russische Haltung führt zur stärkeren Verortung Israels im westlichen Lager. Dabei bestand die Außenpolitik Netanjahus, der seit 2009 mit einer einjährigen Pause die Geschicke des Landes leitet, gerade darin, sich von einer eindeutigen Lagerbindung zu lösen. Das zeigte sich nicht nur in der neutralen Haltung im Ukrainekrieg. Es wurde jahrelang große diplomatische Mühe darauf verwendet, im sogenannten globalen Süden Staaten für sich zu gewinnen, damit diese in der UN proisraelisch abstimmen. Weil in einzelnen europäischen Staaten sowie bei den Anhänger:innen der demokratischen Partei in den USA die Stimmung angesichts der andauernden Besatzung des Westjordanlandes zunehmend israelkritisch wurde, bestand die israelische Antwort darin, die eigene Außenpolitik zu diversifizieren. Netanjahu selbst wendete zum Ärgernis westlicher Verbündeter viel politisches Kapital auf, um Israel als unabhängigen Akteur zu etablieren, der mit ihm selbst an der Spitze in der Lage ist, mit China und Russland gute Beziehungen zu pflegen. Mit solchen Staaten also, die sich aus Israels Sicht nicht in dessen innere Angelegenheiten einmischen würden. Die russische Unterstützung der Zwei-Staaten-Lösung besteht nur auf dem Papier. Die Beteiligung am sogenannten Nahostquartett seit 2002, einer Plattform aus EU, UN, Russland und USA, verlieh Moskau eine Bühne, um sich als Vermittler zu präsentieren. Konkrete Ergebnisse blieben jedoch aus. Russland zeigte verbale Präsenz, hat traditionell aber kaum politisches Kapital in den Friedensprozess investiert.

Veränderte Rhetorik, unveränderte Politik

Abgesehen davon, dass die Stimmung gegenüber Russland in Israel umgeschlagen ist, lassen sich nur wenige Veränderungen in der tatsächlichen Politik ausmachen. Während der Staat weiterhin keine Sanktionen verhängt hat, sperren israelische Banken seit November 2023 Konten russischer Oligarchen in Übereinstimmung mit den EU-Sanktionen. Gleichzeitig fliegt Israel weiter Angriffe entlang der syrischen Grenze, ohne dass Russland darauf reagiert hätte. Es gibt zwar russische Berichte darüber, dass nicht mehr alle Schläge von Israel angekündigt werden. Die früheren Abmachungen scheinen aber weiterhin stillschweigend Bestand zu haben. Israel hat zudem angekündigt, Frühwarnsysteme gegen Raketenangriffe an die Ukraine zu liefern. Ob und wann das geschieht, bleibt allerdings abzuwarten. Eine sichtbare Annäherung an die Ukraine vermeidet Israel weiterhin. Nach dem 7. Oktober soll Selenskyj einen Solidaritätsbesuch nach Israel angekündigt haben. Das Vorhaben wurde an die israelischen Medien geleakt, und so hat die Reise bis heute nicht stattgefunden. Höchstwahrscheinlich wartet die israelische Führung ab, wie sich die Feindseligkeit Russlands weiter manifestiert und hofft darauf, dass auch diese Phase bald ein Ende nimmt.

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