Ein »historischer Rekord«
Am 27. März 2024 bestätigte Ella Pamfilowa, die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Russlands und eine der wenigen Vorzeigefrauen des Regimes, das offizielle Wahlergebnis der Präsidentschaftswahl, die vom 15. bis 17. März 2024 stattgefunden hatte: Wladimir Putin habe knapp 87,3 % der abgegebenen Stimmen erhalten und damit seinen bisherigen Rekord von 76,7 % aus dem Jahr 2018 übertroffen.
Dieses Resultat, durch das Putin mit seinen Kollegen in den konsolidierten autoritären Regimen Zentralasiens bzw. Belarus’ gleichzog, stellt aus politikwissenschaftlicher Sicht keine besondere Überraschung dar. Russland gilt in der Forschung als paradigmatischer Fall eines langfristig stabilen »elektoral-autoritären« Regimes, womit Regime gemeint sind, in denen regelmäßig allgemeine Wahlen mit mehreren Kandidaten bzw. Parteien abgehalten werden, die jedoch nie zu Machtwechseln führen. Statistische Untersuchungen zeigen, dass die Imitation demokratischer Verfahren der Elitenauswahl zwar für neu etablierte autoritäre Regime mit einem erheblichen Überlebensrisiko verbunden ist. Haben diese jedoch die ersten drei Wahlen überlebt, sinkt es stetig, weil die regierende Gruppe gelernt hat, den gesamten Prozess effektiv zu kontrollieren. Das wird in der Regel durch zunehmend eindeutigere Resultate zugunsten des Amtsinhabers und die Verengung der verbleibenden legalen Spielräume für den politischen Wettbewerb begleitet.
Die Präsidentschaftswahl 2024 kann dennoch aus zwei Gründen gewisse Aufmerksamkeit beanspruchen. Erstens hat das Regime sein vielfältiges Instrumentarium der elektoralen Manipulation weiter ausgebaut, das es seit Mitte der 2000er systematisch und ebenso experimentell wie innovativ entwickelt hat. Zweitens lohnt es sich, den Zweck dieses Ereignisses zu hinterfragen, das viele Beobachter als »elektorale Maßnahme« und »Imitation« verspottet haben. Selbst führende Repräsentanten des Regimes räumen freimütig ein, dass sein Ergebnis vorab feststand, so etwa Putins Pressesprecher, der bereits im Herbst 2023 erklärte, der Amtsinhaber habe seiner »persönlichen Meinung nach« keine Konkurrenten. Dies wirft die Frage auf, wozu der hohe Aufwand für die Inszenierung der Wahl dennoch betrieben wurde.
Das mutmaßliche Ausmaß unmittelbarer Wahlfälschungen
Putins »Rekordergebnis« ist nicht aus einem fairen und freien politischen Wettbewerb erwachsen. Die naheliegendste Methode des Wahlbetrugs, von dem das Regime seit etwa 2004 in stetig wachsendem Umfang Gebrauch macht, waren auch 2024 wieder großangelegte Fälschungen bei der Abgabe der Stimmen, ihrer Auszählung und Dokumentation. Das neue System der elektronischen Abstimmung, das dieses Mal in fast einem Drittel der Regionen zur Verfügung stand, eröffnete dank seiner Intransparenz neue Wege der Manipulation.
Der Umfang dieser Fälschungen lässt sich nicht zuverlässig bestimmen, da das Regime die Spielräume für die Wahlbeobachtung durch Bürger, Journalisten und Organisationen seit 2018 drastisch eingeschränkt hat. Davon war nicht nur die internationale Beobachtungsmission der OSZE betroffen, die zum ersten Mal keine formale Einladung mehr erhielt, sondern vor allem die informelle Bürgerbewegung Golos (»Stimme«). Weil sie vom Regime als »ausländischer Agent« markiert worden ist, kann sie seit Jahren nicht mehr direkt tätig werden und entsandte deshalb viele der von ihr ausgebildeten ehrenamtlichen Wahlbeobachter in die Stäbe von Kandidaten bzw. Parteien. In ihrem Wahlreport beklagt sie, dass diese Praxis 2024 von vielen regionalen Wahlstäben sabotiert worden sei, welche die Registrierung freiwilliger Wahlbeobachter verweigert hätten. Lediglich die Repräsentanten der regimenahen Gesellschaftskammern hätten ohne Beschränkungen agieren können, seien jedoch in vielen Fällen instruiert gewesen, die Wahllokale vor Beginn der Stimmenauszählung zu verlassen.
Quantitativ noch schwerwiegender als der unmittelbare Wahlbetrug könnte die Prozedur der »administrativen« bzw. »korporativen« Wählermobilisierung gewesen sein. Menschen, von deren Loyalität ihre staatlichen, aber auch privaten Arbeitgeber, Universitätsleitungen oder militärische Vorgesetzte scheinbar überzeugt sind, werden dabei auf mehr oder weniger kreativem Wege zur – oft kollektiv organisierten – Stimmabgabe veranlasst. Dieses Vorgehen ist auch in Russland formal unzulässig, da es die Chancen der freien Willensbildung und -äußerung der betroffenen Wähler einschränkt. Golos zufolge wurden diese Praktiken 2024 jedoch noch häufiger, offenerer und direkter als früher ausgeübt und – anders als noch 2018 – von der Zentralen Wahlkommission (ZIK) auch nicht mehr kritisiert. An den Wahltagen selbst sei es zu zahlreichen groben Verstößen gegen das Wahlgeheimnis seitens der Behörden bzw. der Polizei gekommen. Sie hätten versucht, die Stimmabgabe für andere Kandidaten als Putin zu verhindern und die Entwertung von Stimmzetteln zu kriminalisieren, die z. B. durch das Durchstreichen aller Kandidaten oder schriftliche Meinungsäußerungen auf dem Formular erreicht werden kann.
Elektorale Forensikerinnen, die Unregelmäßigkeiten in den offiziellen Stimmenergebnissen auf der Ebene der Wahllokale aufdecken und interpretieren, kamen in den ersten Tagen nach der Wahl zu der Schlussfolgerung, dass Putin zwischen 22 und 31 Millionen »Extra«-Stimmen erhalten haben könnte. Spekuliert wird, dass womöglich nur etwa 57 % der für ihn abgegebenen Stimmen »real« waren, Putins Ergebnis von 2024 tatsächlich also etwa auf dem Niveau der Wahlen von 2000 und 2012 liegt. Allerdings muss einschränkend auf den spekulativen Charakter dieser Zahlen hingewiesen werden. Die unmittelbaren Wahlfälschungen dürften vermutlich ein bisher nie erreichtes Ausmaß angenommen haben, da irreguläre Abstimmungsmuster 2024 nicht mehr – wie bei früheren Wahlen – in einer Minderheit, sondern in der Mehrheit der untersuchten Wahllokale nachgewiesen werden können. Genau das macht jedoch die bisherigen forensischen Methoden weitgehend unbrauchbar.
Die politische und rechtliche Kontrolle des politischen Wettbewerbs
Allerdings geht das Putin-Regime in seinem Bestreben, Wahlen zu kontrollieren, noch weitaus systematischer vor. Das Wahlergebnis von 2024 ist in letzter Instanz auf die Mitte der 2000er Jahre eingeleitete und seitdem in mehreren Schritten verstärkte Austrocknung des politischen Wettbewerbs zurückzuführen: Die Kommunistische Partei, die prinzipiell eine programmatische Alternative zum existierenden Regime verkörpern würde, und eine Handvoll weiterer Parteien sind längst als loyale, sogenannte »systemische«, Opposition in das Regime kooptiert worden und haben ein starkes Interesse am Überleben des Regimes entwickelt. Die zersplitterte liberale Opposition wurde hingegen – ebenso wie die extreme Rechte – aus der parlamentarischen Arena verdrängt; ihre Organisationen sind überwiegend aufgelöst oder wegen »extremistischer Bestrebungen« sogar verboten worden. Daher verfügen mögliche Herausforderer Putins kaum über die für einen Wahlkampf nötigen Ressourcen.
Das Regime ist zudem weiterhin auffällig darum bemüht, seine Kontrolle über den Wahlprozess legalistisch abzusichern, um ihm den Anschein von Legitimität zu verleihen. So wurde das Gesetz, das die Präsidentschaftswahl regelt, zwischen 2018 und 2023 elf Mal kleinteilig geändert. Die Verlängerung der Wahl von einem auf drei Tage und die Einführung des E-voting-Systems wurde damit begründet, den Bürgern komfortablere Bedingungen für die Wahrnehmung ihres Wahlrechts zu bieten, vervielfältigte real jedoch die Gelegenheiten für Wahlbetrug. Gleichzeitig wurde die Registrierungsprozedur von Wahlbewerbern verkompliziert, die nicht von den etablierten Parteien nominiert werden.
Für die Präsidentschaftswahl 2024 von entscheidender Bedeutung war schließlich die Verfassungsrevision von 2020: Vordergründig beseitigte sie eine vage Formulierung in der Verfassung von 1993, die es Putin 2012 ermöglicht hatte, nach einer vierjährigen Pause erneut Präsident zu werden, obwohl er das Amt zuvor bereits zwei Mal ausgeübt hatte. Sie begrenzte die Amtsausübung ein und derselben Person eindeutig auf zwei Wahlperioden – nahm aber gleichzeitig alle bisherigen Staatsoberhäupter von dieser Regelung aus. Putin konnte daher seinen langjährigen Amtsbonus erneut in die Waagschale werfen, und mit ihm die enormen Ressourcen seines Amtes, das in der öffentlichen Wahrnehmung längst mit seiner Person verschmolzen ist.
So lehnte er auch dieses Mal die Beteiligung an TV-Duellen aller Kandidaten ab. Er konzentrierte seine Wahlkampfaktivitäten auf die alljährliche Rede zur »Lage der Nation« vor den beiden Kammern der Legislative sowie andere öffentliche Auftritte als Präsident in den letzten Wochen vor der Wahl. Golos zufolge berichteten die staatlich kontrollierten nationalen und die regionalen Medien häufiger über seine Aktivitäten als über die aller anderen Kandidaten zusammen, widmeten sich dabei aber in erster Linie seiner Alltagstätigkeit als Staatsoberhaupt. Diese Medienstrategie des Regimes zielte, dem unabhängigen Levada-Zentrum für Meinungsforschung zufolge, in erster Linie darauf, die Wahlbeteiligung zu steigern.
Die Auswahl der »Mitbewerber« Putins
Die verbleibenden Risiken für das Regime wurden auch 2024 mithilfe der sorgfältig kuratierten Selektion der Teilnehmer an der Präsidentschaftswahl eliminiert. Das ursprüngliche Bewerberfeld hatte aus 15 Kandidaten bestanden, von denen vier bereits in der ersten Phase, der Zulassung zur Unterschriftensammlung, an vorgeblichen formal-rechtlichen Mängeln scheiterten. Zu ihnen gehörte Ekaterina Dunzowa, eine bis dahin weithin unbekannte Regionalpolitikerin, die Anti-Kriegs-Positionen vertrat.
Von den übrigen elf Kandidaten waren drei von der Notwendigkeit befreit, Unterschriften vorzulegen, um zur Wahl zugelassen zu werden, weil sie von in der Staatsduma vertretenen Parteien nominiert worden waren. Drei weitere Bewerber, unter ihnen Putin, hatten sich »unabhängig« beworben, weshalb sie 300.000 Unterschriften von Unterstützern beibringen mussten; nur Putin gelang es, diese Aufgabe zur Zufriedenheit der Wahlkommission zu lösen. Fünf weitere Aspiranten auf das Präsidentenamt wiederum waren von Kleinparteien nominiert wurden, die nicht in der Duma vertreten waren. Das Wahlgesetz verlangt in solchen Fällen 100.000 Unterschriften, die in mindestens 40 Regionen Russlands zu beschaffen sind, aus denen jeweils nicht mehr als 2.500 Signaturen stammen dürfen. Vier dieser Bewerber reichten bei der ZIK die geforderte Anzahl ein, zwei von ihnen zogen ihre Kandidatur aber im selben Moment zurück: Einer hatte unerwartet ein – für Präsidentschaftsbewerber unzulässiges – eigenes Konto auf einer ausländischen Bank entdeckt, der andere nutzte die Gelegenheit, eine öffentliche Wahlempfehlung für Putin abzugeben.
Die beiden verbliebenen Politiker schieden aus, nachdem sich die ZIK eines ebenso bewährten wie intransparenten und rechtlich fragwürdigen Verfahrens bedient hatte: Mithilfe graphologischer Gutachten und des Abgleichs der Adressen mit der Datenbank des Innenministeriums stellte sie fest, der Anteil ungültiger Unterschriften überstiege die tolerierbare Fehlerquote von 5 %. Zu ihnen gehörte Boris Nadeschdin (60), ein liberaler Politiker der »systemischen Opposition«, der in den 1990er Jahren die Regierung beraten hatte, seitdem als Lokalpolitiker in einer Vorstadt Moskaus aktiv ist und von der kleinen Partei »Bürgerinitiative« nominiert worden war. Er erklärte, im Falle eines Wahlsiegs die »militärische Spezialoperation« gegen die Ukraine umgehend zu beenden. Bei seinen Wahlstäben hatten sich im Januar häufig Warteschlangen mit oft Hunderten Menschen gebildet, um für ihn zu unterschreiben. Dies führte zu einer der wenigen Überraschungen in diesem Wahlkampf: Menschen, die den Krieg ablehnten, fanden eine legale und kaum riskante Möglichkeit, ihrer Anti-Kriegs-Haltung Ausdruck zu verleihen und erfuhren, dass sie damit nicht allein waren. Das Levada-Zentrum bezifferte Nadeschdins Elektorat – das zwar den Krieg ablehnt, ansonsten aber überwiegend regimeloyal ist – auf ca. 8–9 %.
Letztlich ließ die ZIK nur vier Kandidaten zum Urnengang zu. Neben Putin (71) handelte es sich um wenig bekannte Repräsentanten von drei der fünf Duma-Parteien, die im Wahlkampf zurückhaltend agierten, auf eine inhaltliche Profilierung verzichteten und dem Amtsinhaber damit wenig entgegensetzten:
- Nikolai Charitonow (75), ein Veteran der Kommunistischen Partei Russlands, der – ebenso wie bereits 2004 – für den sonst üblicherweise nominierten Vorsitzenden seiner Partei einsprang, aber mit offiziell nur 4,3 % der Stimmen deutlich schlechter als damals (fast 14 %) abschnitt.
- Wladislaw Dawankow (40), stellvertretender Sprecher der Staatsduma seitens der erst 2020 gegründeten wirtschaftsliberalen Partei Neue Leute, der schließlich den größten Teil oppositioneller Stimmen – darunter von russischen Bürgern im Ausland – auf sich vereinte. Er erhielt vermutlich erheblich mehr als die ihm offiziell zugestandenen 3,9 % der Stimmen, bekannte sich aber unmittelbar nach der Wahl entschieden zu Putin und der »militärischen Spezialoperation«.
- Leonid Sluzki (56), der seit dem Tod des Populisten Wladimir Schirinowski (»Russlands Trump«) im Jahr 2022 Vorsitzender der rechtsradikalen Liberaldemokratischen Partei Russlands ist und 3,2 % der Stimmen erzielte.
Die nüchterne Schlussfolgerung aus diesen Informationen besteht darin, dass das Regime auch im Jahr 2024 mit großem Aufwand einen überwältigenden Wahlsieg für Putin organisierte, dieser allerdings höchstwahrscheinlich ohnehin wie bisher immer in der ersten Runde gewonnen hätte.
Eine »präsidentielle Supermehrheit«?
Kremlnahe Analysten der Präsidentschaftswahl erklären Putins Wahlergebnis aus einem tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft. Das regimeloyale Meinungsforschungsinstitut WZIOM diagnostiziert aufgrund seiner Umfragedaten die Entstehung einer »präsidentiellen Supermehrheit«, die doppelt so groß wie die einfache »Putin-Mehrheit« des Jahres 2000 sei. Sie beruhe auf dem »Donbass-Konsens«, der sich seit dem Frühjahr 2022 herausgebildet habe. Im Unterschied zum »Krim-Konsens« der Jahre 2014–2018, d. h. die euphorische Reaktion der Mehrheit der Bevölkerung auf die Annexion der Krim, zeichne er sich dadurch aus, dass Russlands »Kampf« als langwierig, schwer, entbehrungs- und verlustreich akzeptiert werde. Gleichzeitig verbänden die Bürger ihn jedoch auch mit der Aussicht auf einen »Sieg«, der »Bestätigung für die Resilienz, Entschlossenheit und Beharrlichkeit bei der Verfolgung des Ziels« verspreche. Dieser »Donbass-Konsens« stelle eine breite überparteiliche Koalition dar, in der sich Anhänger selbst kommunistischer und wirtschaftsliberaler Ideen wiederfänden. Ausgeschlossen davon seien nur jene, die den Krieg ablehnten bzw. positiv gegenüber der Ukraine und dem Westen eingestellt seien.
Dem WZIOM zufolge ist die Zustimmung zu Putin als plebiszitäre Loyalitätsbekundung für den Oberbefehlshaber der Streitkräfte zu interpretieren. Die Bevölkerung habe ihm bei der Wahl das unspezifische Mandat erteilt, die von ihm begonnene »militärische Spezialoperation« erfolgreich und zu für Russland günstigen Bedingungen zu Ende zu führen. Mit seiner Politik, seinen persönlichen Eigenschaften und seinem aktiven, energischen Führungsstil bediene Putin die fundamentalen Bedürfnisse des Volkes, das auf sein Land und dessen welthistorische Größe stolz sein will, in Sicherheit und unter den Bedingungen von Kontinuität leben sowie mit positiven Emotionen einer attraktiven Zukunft entgegensehen möchte.
Wie stichhaltig diese Erklärung des Wahlergebnisses ist bzw. ob die Meinungsforscher des WZIOM mit ihrer Argumentation faktisch als Regimepropagandisten agieren, kann an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. Auch das unabhängige Levada-Zentrum identifiziert durch seine Umfragen eine entscheidende Verbesserung von Putins Wiederwahlchancen im Zeitraum von Ende 2021 bis Ende 2023, die auf der Wahrnehmung einer sich zuspitzenden Konfrontation zwischen Russland und dem Westen beruht.
Allerdings sind, wie oben erörtert, Zweifel angebracht, ob die vom WZIOM entdeckte »präsidentielle Supermehrheit« in der offiziell konstruierten Größenordnung tatsächlich existiert. Auch zwei weitere Einwände verdienen Beachtung. Einerseits wird die Glaubwürdigkeit von Umfragedaten aus Russland in der russischen und internationalen Forschung gegenwärtig ausgesprochen kontrovers diskutiert, u. a. weil Respondenten unter autoritären, zumal zunehmend repressiven, Bedingungen erfahrungsgemäß dazu neigen, ihre wahren Präferenzen zu verschleiern. Der Umgang mit solchen Daten verlangt also nach kritischer, wenn nicht sogar skeptischer, Reflektion.
Zum anderen sei auf einen aktuellen Beitrag in der Zeitschrift Foreign Affairs verwiesen, in dem ein Team renommierter Experten um Timothy Frye und Henry Hale – ebenfalls Umfragedaten-basiert – argumentiert, dass die Zustimmung zu Putin bei allen Präsidentschaftswahlen stets multidimensional gewesen sei. Auch im Jahr 2024 lasse sie sich nicht auf das Brennpunktthema »Krieg« reduzieren. Vielmehr habe er diese Zustimmung über mehr als zwei Jahrzehnte aufgebaut, weshalb sie nicht einmal zwingend von solchen Wählern aufgekündigt werde, die den Krieg ablehnen. Noch immer unterstützen ihn weite Teile der Bevölkerung auch aufgrund der volkswirtschaftlichen Bilanz Russlands, die ihm als persönliches Verdienst angerechnet wird, seines hypermaskulinen Images sowie zunehmend auch aufgrund seines rhetorischen Einsatzes zugunsten der sogenannten »traditionellen Werte Russlands«, die bei vielen Bürgern Anklang finden. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen seien auch diese Zustimmungsressourcen intensiv mobilisiert worden.
Plebiszit statt Wahl
Die Analyse des WZIOM ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil sie der Präsidentschaftswahl 2024 ihren elektoralen Charakter abspricht, dies aber in affirmativer Absicht: Das Verdienst Putins und seines Teams bestehe darin, die Bedürfnisse der Bevölkerung aufgegriffen und die Wahlen in ein »Vertrauensvotum für den Kandidaten Nr. 1« transformiert zu haben. Diese Deutung der Wahl als Referendum, die 2024 prominenter erscheint als bei vorangegangen Wahlen, bildet sich auch im Dank des wiedergewählten Präsidenten an seine Wähler ab: Sie hätten eine Entscheidung über den künftigen Entwicklungsweg Russlands, über ihre Zukunft sowie die ihrer Kinder getroffen und mit der ihm gewährten Unterstützung den aktuellen politischen und ökonomischen Kurs des Landes bestätigt.
Damit fügen sich die bisherigen Beobachtungen zu einem weitgehend konsistenten Bild zusammen: Ein Plebiszit über Putin und seine Politik ist unvereinbar mit einer Konstellation, die – und sei es wenig attraktive – Alternativoptionen zur Auswahl stellt. Das WZIOM interpretiert die Passivität von Putins »Mitbewerbern« daher als Ausdruck eines verantwortungsvollen Vorgehens der »Systemparteien«. Sie hätten entweder – wie Einiges Russland und Gerechtes Russland – ganz auf die Nominierung eigener Kandidaten verzichtet oder sich zumindest auf die Benennung von Politikern aus der »zweiten und dritten Reihe« beschränkt.
In dieser Logik war es auch zwingend, keine Bewerber mit Anti-Kriegs-Positionen zuzulassen – nicht wegen ihrer eventuellen Siegeschancen, sondern weil das Referendum dadurch zu einem Wettbewerb politischer Programme geworden wäre, also den Charakter einer (Aus-)Wahl angenommen hätte, freilich unter unfairen und unfreien Bedingungen. Nicht zuletzt wird so auch das Bestreben des Regimes noch besser nachvollziehbar, sowohl die Wahlbeteiligung als auch das Ergebnis des »Kandidaten Nr. 1« zu maximieren: Es ging dabei weniger um die Deklassierung der Konkurrenz als um die Demonstration der »Einheit« von Präsident und »Volk«, was nicht zuletzt stark an die plebiszitären Wahlen der Sowjetära erinnert. Damit bestätigte das Quasi-Referendum die für das Regime noch immer bedeutungsvolle Legitimität von Putins Herrschaft. Zudem erfüllte es eine außenpolitische Funktion, wie ein regimenaher Politologe unterstreicht, der in der Geschlossenheit des Votums die »Garantie für einen Sieg Russlands zu unseren Bedingungen« im Krieg gegen die Ukraine sieht, sie also auch als Signal der Stärke gegenüber dem Westen versteht.
Dieses Framing der Wahl zum Staatsoberhaupt als Referendum über »Russlands Weg« und die massiven elektoralen Manipulationen schwächen jedoch einige andere Funktionen, die Wahlen üblicherweise in elektoral-autoritären Regime selbst als »Imitate demokratischer Prozeduren« erfüllen. So informieren die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl 2024 nicht zuverlässig über das reale Ausmaß der Unterstützung für den Präsidenten. Vielmehr erscheinen sie als eine Form der Gewaltandrohung gegenüber möglichem Widerspruch »von unten« und »von innen«. Ihm werden keine elektoralen »Ventile« mehr geboten, sondern eine binäre Entscheidung abverlangt – im eigenen Interesse: zugunsten des Regimes. Ob diese Funktionsausdünnung von Wahlen mittelfristig zu einem Problem für die Regimestabilität wird, ist derzeit eine offene Frage.
Fazit
Die Funktion der Präsidentschaftswahl 2024 bestand darin, Putin auf plebiszitärem Wege ein breites Mandat – buchstäblich eine Carte Blanche – für seine weiteren politischen Entscheidungen zu erteilen. In diesem Sinne passt sein »Rekordergebnis« zur hochgradigen Personalisierung des Regimes, in dem es faktisch keine begrenzenden Faktoren für den Präsidenten und den inneren Machtzirkel mehr gibt. Es ist jedoch zumindest partiell ein Artefakt. Dies ist die Folge nicht nur der systematischen Manipulation des gesamten Wahlprozesses, sondern auch des Framings als Referendum, das die Wähler faktisch zwang, sich nicht zwischen mehreren Bewerbern für das höchste Staatsamt zu entscheiden, sondern für oder gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse insgesamt.
Beobachter rechnen damit, dass Putin in den nächsten Monaten einige wichtige Personalentscheidungen treffen und möglicherweise unpopuläre Reformen durchführen wird, speziell die Ersetzung der bisherigen flat tax durch einen progressiven Steuersatz. Ob es auch zu einer zweiten Mobilisierungswelle für den Krieg gegen die Ukraine kommen wird, ist Gegenstand von Spekulationen. Da Putin jedoch im Wahlkampf sein Regierungsprogramm nicht präzisiert hat, lassen sich daraus keine Prognosen ableiten. Mehr noch, von der »elektoralen Maßnahme« 2024 sind keine unmittelbaren politischen Nachwirkungen zu erwarten.