Der folgende Beitrag des russischen Politikwissenschaftlers Grigori Judin erschien ursprünglich am 30.01.2024 und wurde von dekoder ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht.
Einleitung von dekoder
Die Bilder gingen um die Welt: Plötzlich standen in ganz Russland tausende Menschen Schlange und gaben ihre Unterschrift für die Präsidentschaftskandidatur von Boris Nadeshdin. In einer immer repressiveren Umgebung, in der Protest gegen den Krieg de facto verboten ist, hatten darin viele eine Chance gesehen, um ihrem Unmut auf legalem Wege Ausdruck zu verleihen.
Doch wie weit ist es von den »Schlangen für Nadeshdin« bis zu einem echten Wandel in Russland? Wollen die Menschen einen solchen überhaupt? Darüber schreibt der Soziologe Grigori Judin in einem Gastbeitrag für Verstka.
[Aktualisierung vom 04.03.2024: Die Zentrale Wahlkommission hat Boris Nadeshdin nicht zur Wahl zugelassen. Dies wurde offiziell damit begründet, dass angeblich mehr als fünf Prozent der eingereichten Unterschriften ungültig seien. Der Oberste Gerichtshof in Russland hat am 04.03.2024 das Urteil gegen seine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2024 bestätigt.]
Wann kommt der Wandel?
Die Russen witterten eine messbare Chance auf Veränderungen – und sind sofort aktiv geworden. Zwar beträgt diese Chance gerade mal ein paar Millionstel Prozent, aber sie ist konkret. Läge sie etwas höher, würden noch mehr Menschen reagieren. Und wäre sie wirklich groß, dann wäre es ein gesellschaftlicher Durchbruch. Es ist eingetreten, was ich schon lange sage: Kollektives Handeln beginnt nicht da, wo den Menschen die Geduld ausgeht, sondern da, wo die Aussicht besteht, dass ihr gemeinsames Handeln zu einem realen, konkreten und messbaren Ergebnis führen kann. Im Fall Nadeshdin ist das seine Zulassung zu den Präsidentschaftswahlen.
Kontrollierte Herausforderung
Wofür braucht der Kreml Nadeshdin? Und wieso darf er ins Fernsehen? Seit seinen kriegsgegnerischen Äußerungen rufen mich immer wieder Journalisten aus dem Ausland an und fragen: »Wie kann das sein? Wir dachten, in Russland herrscht Zensur und keiner erfährt die Wahrheit! Dabei tritt da einer im Fernsehen auf und sagt einfach die ganze Wahrheit! Vielleicht sind die Russen eben allen Ernstes für Putin und seinen Krieg?«
Das ist die Strategie der Präsidialadministration. Nadeshdin muss seine 1,5 Prozent bekommen und damit genau das zeigen, was wir vom Lewada-Zentrum die ganze Zeit hören: In Russland leben 140 Millionen Vampire und ein paar Zehntausend normale Menschen. Nach dem Motto, gebt endlich Ruhe, das Land steht hinter Putin und dem Krieg.
Aber man darf nicht aus dem Blick verlieren, dass dieses Ergebnis für den Kreml nur ein angenehmer Bonus ist und er mit dieser Volksbefragung eigentlich viel wichtigere Aufgaben erfüllt. Er kann es sich nicht leisten, dass für das Sahnehäubchen auf dieser Torte alles aus dem Ruder läuft.
Deswegen verfügt der Kreml für den Fall, dass sich in den Umfragen ein zu großer Wahlerfolg für Nadeshdin abzeichnet, über ein ganzes Arsenal von Instrumenten, um seine Popularität zu verringern. Wir wissen zum Beispiel, dass Nadeshdin eng mit den Liberalen der Neunziger verbandelt war – es wäre ausreichend, wenn er plötzlich öffentlich Elemente aus ihrer Rhetorik bemühen würde. Das Ergebnis wäre wundervoll: Der allseits beliebte Antikriegs-Kandidat sagt antirussische Sachen, die sich hervorragend dafür eignen, die Kriegsgegner auf ganzer Linie zu diskreditieren.
Oder man »kauft« ihn mit dem Versprechen eines hohen Amtes. Schon mehrmals hat Nadeshdin bewiesen, dass er bereit ist zum Pakt mit dem Teufel – mal kandidierte er für Gerechtes Russland, mal nahm er an den Vorwahlen von Einiges Russland teil. Ob er wohl dieses Mal darauf verzichtet? Oder man erklärt ihn vielleicht ein paar Wochen vor der Wahl zum Terroristen und Extremisten und schüchtert damit seine potentiellen Wähler ein. Na, oder ganz schlicht und ergreifend: Wenn etwas nicht »nach Plan 1,5 Prozent« läuft, dann kann man Nadeshdin einfach zu jedem beliebigen Zeitpunkt stumpf von der Liste kicken.
Der innenpolitische Kurator im Kreml, Sergej Kirijenko, hat von dem Aufstand in Belarus nach den Präsidentschaftswahlen 2020 bestimmt etwas gelernt. Dort begann ebenfalls alles mit Schlangen von Menschen, die für Sergej Tichanowski, Viktor Babariko und Waleri Zepkalo unterschrieben. Danach unterlief Lukaschenko ein schwerer Fehler: Er ließ Tichanowskis Frau Swetlana antreten. Was dazu führte, dass Leute, die noch einen Monat zuvor in ihrer Masse kaum an so etwas wie Proteste gedacht hatten, plötzlich an die Möglichkeit eines Wandels durch einen »Erdrutschsieg« bei den Wahlen und Straßenproteste zu dessen Verteidigung glaubten. Dafür gingen sie buchstäblich in den Tod – tausende Demonstrierende gingen weiterhin auf die Straße, obwohl die Silowiki dort Menschen töteten. Sie trennten sich erst, als die Hoffnung versiegt war, dass die Handlungen jedes Einzelnen zu einem konkreten Ergebnis führen.
Eine ähnliche Mobilisierung haben wir auch schon in Russland gesehen. Nämlich 2021, als Alexej Nawalny zurückkehrte und sofort verhaftet wurde. In jenem Jahr war unser Land hinsichtlich der Gesamtzahl der Protestierenden unter den weltweit Ersten. Das war eine Massenbewegung, die das ganze Land erfasste. Obwohl die Chance, Nawalny freizukriegen, genauso gering war wie die Chance auf einen Regimewechsel.
Seit Beginn des Kriegs hatte die russische Gesellschaft nicht die leiseste Hoffnung auf Veränderungen. Auch Jewgeni Prigoshin konnte mit seinen Aktionen und dem Aufstand keine Zuversicht wecken. Ja, er vertrat in Bezug auf die Situation im Land einen Standpunkt, der alternativ zum offiziellen und trotzdem legal war. Er konnte aber keine Menschen mobilisieren, obwohl ich überzeugt bin: Hätte er den Leuten eine Zukunft ausgemalt, die ihnen blüht, wenn sie seine Bewegung unterstützen, dann wären viele schon allein deswegen aufgestanden, weil sie etwas Neues wollen.
Wenn die Leute sehen, dass sie etwas verändern können, dann sind sie bereit, sehr große Risiken einzugehen
Die Formel für den Beginn kollektiven Handelns ist simpel. Ausschlaggebend ist das Gefühl, dass die eigene persönliche Beteiligung die Situation beeinflussen und zu einem nachweislichen, messbaren und sichtbaren Ergebnis führen kann. Natürlich schätzt man auch noch das Risiko ab, das man eingeht, aber dieser Faktor ist nicht so hoch, wie oft angenommen wird. Klar will niemand ins Gefängnis oder verprügelt werden. Und keiner macht das einfach so ins Blaue. Aber wenn die Leute sehen, dass sie etwas verändern können, dann sind sie bereit, sehr große Risiken einzugehen.
Ein legaler Wahlkampf ist natürlich ein minimales Risiko. Man braucht nur zu unterschreiben, und wenn der Kandidat aufgestellt wird, zu agitieren und dann zu wählen. Das ist alles grundsätzlich nicht verboten, daher ist die Hemmschwelle zum Mitmachen gering. Man braucht dafür nicht unbedingt in einen Panzer zu steigen wie in Prigoshins Fall. Super! Aber es ist auch nicht so, dass sich durch Repressionen jedes kollektive Handeln verhindern ließe. Sonst bräuchte man gar keine Politik und es gäbe überhaupt nirgendwo Massenbewegungen. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Menschen für hohe gemeinsame Ziele bereit sind, ihr Leben zu riskieren.
Was fehlt: eine positive Zukunftsvision
In Russland gibt es keine militarisierte Mehrheit, die man durchbrechen muss. Die Mehrheit duldet den Krieg als etwas vermeintlich Unausweichliches, das man lieber verdrängt. Angeführt wird das Ganze von kleinen Gruppen, die demonstrativ verrohen und darauf ihre Karrieren aufbauen. Der Überdruss, den dieser Krieg und die alte Führungsriege in der russischen Gesellschaft erzeugt, ist riesig. Aus dieser Situation heraus ließe sich leicht eine starke Mehrheit von Kriegsgegnern versammeln.
Insofern lautet die richtige Antwort auf die Frage, wie lange die Leute noch mitmachen werden: »Beliebig lange.« Denn sie gehen nicht dann vom Erdulden zum kollektiven Handeln über, wenn sie es nicht mehr aushalten – man kann sich ja immer noch tiefer eingraben, noch stärker anpassen –, sondern wenn sich eine Alternative anbietet. Aber genau die fehlt heute. »Nein zum Krieg!« ist eine schöne Parole, aber sie sagt nichts darüber aus, wie es danach weitergehen soll. Noch hat niemand eine Zukunftsvision ausformuliert, die Russlands nationale Interessen berücksichtigt, die dem Land einen Platz in der Welt aufzeigt, den die Bürgerinnen und Bürgern als würdig empfinden, und die zugleich ein deutliches Bild davon zeichnet, wie das Leben dort aussehen wird.
Es gibt einen Putin – zu dem hat keiner mehr eine Frage: Unter seiner Regierung leben wir beschissen, aber wir wissen, woran wir sind – wir kennen die Regeln. Sobald einer kommt und eine knackige Alternative dazu anbietet, vorzugsweise im Rahmen der russischen Gesetzgebung, klafft ein Spalt auf, in den das ganze riesige Protestpotential hineinstürzt, das sich in der Gesellschaft angestaut hat. Anlass dafür kann alles sein – vom banalen Alltagskonflikt bis hin zu einer einzigen unglücklichen Entscheidung der Behörden. Die Beobachter werden es nicht fassen können: Wie gibt’s das, die Leute haben das doch immer geschluckt, wieso auf einmal nicht mehr? Aber an diesem Punkt wird der Wandel schon angefangen haben.
Übersetzung aus dem Russischen (gekürzt) von Ruth Altenhofer
Das russischsprachige Original des vorliegenden Beitrags ist online verfügbar unter https://verstka.media/grigoriy-yudin-o-tom-kak-daleko-ot-ocheredey-za-nadezhdina-do-smeny-vlasti-v-rossii, die Übersetzung ins Deutsche durch dekoder unter https://www.dekoder.org/de/article/praesidentschaftswahl-nadeshdin-wandel-judin/.
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