Am Vorabend des Jahrestages des großangelegten und durch nichts zu rechtfertigenden Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine habe ich so kurz wie möglich meine politischen Thesen formuliert, die, wie ich hoffe, viele andere gewöhnliche Menschen teilen.
Was ist geschehen und wie verhält sich die Lage derzeit?
- Präsident Putin hat unter fadenscheinigen Vorwänden einen durch nichts zu rechtfertigenden Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Er versucht verzweifelt, diesem Krieg den Status eines »Krieges der ganzen Nation« zu verleihen und alle russischen Bürger zu Mittätern zu machen. Dieser Versuch ist aber zum Scheitern verurteilt. So gut wie niemand zieht freiwillig in diesen Krieg. Putins Armee ist auf Häftlinge und Zwangsmobilmachung angewiesen.
- Die wahren Gründe für den Krieg sind die politischen und wirtschaftlichen Probleme in Russland selbst, Putins Drang, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, und die Besessenheit von seinem historischen Erbe. Er will als »Zar Putin der Eroberer« und »Sammler von Territorien« in die Geschichte eingehen.
- Zehntausende unschuldiger Ukrainer wurden getötet, Millionen Menschen Schmerz und Leid zugefügt. Kriegsverbrechen wurden begangen. Die Städte und die Infrastruktur der Ukraine wurden zerstört.
- Russland erleidet eine militärische Niederlage. Diese Erkenntnis führte dazu, dass die russischen Machthabenden ihre Rhetorik anpassten: Sprachen sie anfangs noch davon, »Kyjiw in drei Tagen« einzunehmen, so wechselten sie bald die Tonart und drohten hysterisch mit dem Einsatz von Atomwaffen im Fall einer Niederlage. Das Leben zehntausender russischer Soldaten wurde unnötig ruiniert. Der Preis, um die endgültige militärische Niederlage hinauszuzögern, ist das Leben Hunderttausender mobilisierter Soldaten, aber dennoch ist die Niederlage unvermeidlich. Die Kombination »kriegerische Aggression + Korruption + inkompetente Generäle + schwache Wirtschaft + Heldentum und hohe Motivation der Verteidiger« kann nur in einer Niederlage resultieren. Die falschen und heuchlerischen Aufrufe des Kremls, Verhandlungen zu beginnen und Waffenstillstände auszurufen, sind nichts weiter als eine realistische Einschätzung dessen, welchen Ausgang der Krieg nehmen wird.
Was ist zu tun?
- Wo verläuft die Grenze der Ukraine? Ebenso wie diejenige Russlands ist die ukrainische Grenze international anerkannt und wurde im Jahr 1991 festgelegt. Wir, Russland, haben sie damals auch anerkannt. Auch heute noch sollte Russland diese Grenzen anerkennen. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Fast alle Grenzen in der Welt sind willkürlich und verursachen bei irgendjemandem Unzufriedenheit. Aber im 21. Jahrhundert darf man nicht mehr kämpfen, um Grenzen zu verschieben. Sonst wird die Welt im Chaos versinken.
- Die Ukraine muss in Ruhe gelassen werden, damit sie sich so entwickeln kann, wie es ihr Volk wünscht. Die Aggression und der Krieg müssen beendet werden, alle russischen Truppen müssen aus der Ukraine abgezogen werden. Den Krieg fortzusetzen ist eine hysterische Reaktion, die von Ohnmacht zeugt, ihn zu beenden bedeutet Stärke zu zeigen.
- Gemeinsam mit der Ukraine, den USA, der EU und Großbritannien muss nach annehmbaren Mechanismen gesucht werden, um den Schaden, der der Ukraine zugefügt wurde, zu kompensieren. Zum Beispiel könnten nach dem Machtwechsel in Russland und dem Ende des Krieges die Beschränkungen für unsere Öl- und Gasexporte aufgehoben werden, wobei ein Teil der Einnahmen aus dem Rohstoffexport für die Entschädigung der Ukraine aufgewandt werden sollte.
- Die Kriegsverbrechen müssen in Zusammenarbeit mit internationalen Institutionen untersucht werden.
Warum ist es im Interesse Russlands, Putins Aggression zu stoppen?
- Haben alle Russen von Natur aus ein imperiales Bewusstsein? Das ist Unsinn. Belarus ist am Krieg gegen die Ukraine beteiligt. Haben die Belarusen ein imperiales Bewusstsein? Nein, bei ihnen ist ebenfalls ein Diktator an der Macht. In Russland wird es, wie in jedem Land mit entsprechenden historischen Voraussetzungen, immer Menschen mit imperialen Ansichten geben, aber sie stellen bei weitem nicht die Mehrheit. Es gibt keinen Grund zu weinen und zu jammern. Sie müssen bei Wahlen besiegt werden, so wie in demokratischen Ländern Rechts- und Linksradikale besiegt werden.
- Braucht Russland neue Territorien? Russland ist ein riesiges Land mit einer schrumpfenden Bevölkerung und aussterbenden Provinzen. Imperialismus und Eroberungsdrang sind schädlich und zerstörerisch. Die russischen Machthabenden zerstören wieder einmal eigenhändig unsere Zukunft, um das Land auf der Karte größer erscheinen zu lassen. Aber Russland ist schon groß. Unsere Aufgabe ist es, die Menschen schonend zu behandeln und das zu entwickeln, was wir im Überfluss haben.
- Als Erbe dieses Krieges werden wir einen Wust von komplexen und auf den ersten Blick fast unlösbaren Problemen erben. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir sie wirklich lösen wollen. Und dann sollten wir sie ehrlich und offen anpacken. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Einsicht, dass es für Russland und seine Bevölkerung nicht nur gut, sondern auch sehr gewinnbringend ist, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden: Nur so können wir die Aufhebung der Sanktionen, die Rückkehr der Emigranten, die Wiederherstellung des Vertrauens der Unternehmen und Wirtschaftswachstum erreichen.
- Ich möchte noch einmal betonen, dass wir nach dem Krieg die Ukraine für die durch Putins Aggression verursachten Schäden entschädigen müssen. Aber sobald wir normale Wirtschaftsbeziehungen mit der zivilisierten Welt wiederhergestellt haben und die Wirtschaft wächst, ist uns das möglich, ohne die Entwicklung unseres Landes zu behindern. Wir sind am Tiefpunkt angelangt, und um uns wieder aufzuraffen, müssen wir genau damit beginnen. Das ist moralisch richtig, rational und gewinnbringend.
- Das Putin-Regime und seine Diktatur müssen abgeschafft werden. Idealerweise durch allgemeine freie Wahlen und die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung.
- Wir sollten eine parlamentarische Republik gründen, die auf Machtwechsel durch faire Wahlen, unabhängigen Gerichte, Föderalismus, lokaler Selbstverwaltung, uneingeschränkter wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit basiert.
- Im Bewusstsein unserer Geschichte und unserer Traditionen müssen wir Teil Europas sein und den europäischen Entwicklungspfad nehmen. Einen anderen Weg gibt es für uns nicht, und wir brauchen ihn auch nicht.
Quelle: Alexej Nawalnyj. 15 Thesen eines russischen Bürgers, der am Wohlergehen seines Landes interessiert ist. 20. Februar 2023, https://navalny.com/p/6634/.