Meine Angst, mein Hass

Von Alexej Nawalny

Es gibt etwas, worüber ich schon lange schreiben will, gewissermaßen ein Bekenntnis. Ich muss gegen den Hass und die Angst ankämpfen, und vielleicht könnt ihr mir dabei helfen.

Hass. Danach werde ich oft gefragt, und auch jetzt kamen wieder Briefe: Sag, hasst du diesen Richter? Und Putin noch viel mehr? Ich habe schon früher gesagt, dass es vor allem der Hass ist, den man im Gefängnis bezwingen muss. Es gibt hier so viele Gründe zu hassen, und die eigene Hilflosigkeit ist ein heftiger Katalysator. Wenn du dem Hass freien Lauf lässt, dann macht er dich fertig und frisst dich auf.

Aber ich muss ehrlich zugeben, ich bin voll davon. Und wie. Und ja, vor allem nach den »Gerichtsverhandlungen«. Aber auch wenn ich mich manchmal nicht beherrschen kann und Richter anschreie, dann richtet sich mein geballter Hass nicht gegen ihn. Und auch nicht gegen die knallharten Aufseher im Lager. Nicht einmal gegen die FSBler, die ihnen die Befehle erteilen. Und nicht einmal – ihr werdet euch wundern – gegen Putin. Ich hasse in diesen Momenten die, die ich einmal geliebt habe. Für die ich mich eingesetzt und heiser diskutiert habe. Ich hasse mich selbst dafür, dass ich sie einst geliebt habe.

Nun, es ist so: Ich sitze in meiner Zelle und lese Natan Scharanskis Buch Fear no evil. Scharanski hat neun Jahre in einem sowjetischen Gefängnis gesessen, 1986 konnte er nach einem Gefangenenaustausch nach Israel ausreisen. Während ich lese, muss ich manchmal das Gefühl abschütteln, ich würde gerade meine eigene Geschichte lesen. Im Vorwort schreibt Scharanski, der Virus des freien Denkens hätte sich vor allem in den Gefängnissen erhalten und er hoffe, der KGB fände kein »Gegengift gegen dieses Virus«. Scharanski hoffte vergebens. Das Gegengift wurde gefunden. Und zwar ein so gutes, dass es jetzt, 2023, offenbar mehr politische Gefangene in Russland gibt als zu Breschnews und Andropows Zeiten. Aber was hat der KGB damit zu tun? In unserem Land hat es weder einen schleichenden noch einen offenen Staatsstreich gegeben, der von Leuten aus den Geheimdiensten angeführt worden wäre. Sie haben nie die Reformer und Demokraten verdrängt und dann die Macht übernommen. Sondern andersrum: Die Reformer und Demokraten selbst haben sie herbeigerufen. Sie eingeladen. Ihnen beigebracht, wie man Wahlen fälscht. Ganze Industriezweige aus Privatbesitz stiehlt. In den Medien Lügen verbreitet. Die Gesetze nach Belieben umschreibt. Die Opposition mit Gewalt unterdrückt. Ja sogar, wie man ganze Kriege anzettelt, idiotische, sinnlose Kriege.

Deswegen kann ich nichts dagegen tun, ich hasse sie abgrundtief – diejenigen, die die historische Chance, die wir in den 1990er Jahren hatten, verkauft, versoffen und vergeudet haben.

Ich hasse Jelzin mitsamt seiner »Tanja und Walja«, Tschubais und den Rest der korrupten Bande, die Putin an die Macht gebracht haben . Ich hasse diese Betrüger, die wir aus irgendeinem Grund »Reformer« genannt haben. Jetzt ist sonnenklar, dass sie mit nichts anderem beschäftigt waren als mit Intrigen und dem eigenen Reichtum. In welchem Land sonst sind so viele Minister einer »Reformregierung« zu Millionären und Milliardären geworden? Ich hasse die Autoren unserer saudummen autoritären Verfassung, die sie uns Idioten als »demokratisch« verkauft haben und die schon damals dem Präsidenten die Handlungsspielraum eines allmächtigen Monarchen eingeräumt hat.

Ganz besonders hasse ich sie alle dafür, dass sie nicht einmal versucht haben, der Gesetzlosigkeit die Grundlage zu entziehen – eine Justizreform durchzuführen, ohne die alle anderen Reformen zum Scheitern verdammt waren. Damit befasse ich mich gerade sehr viel. 1991, noch in der russischen Sowjetrepublik, wurde ein vernünftiges Konzept zu einer Justizreform vorgelegt, doch schon 1993 begannen die ersten Gegenreformen, die auf die Errichtung einer Machtvertikale in der Justiz abzielten. Damals wollten alle politischen Kräfte faire Gerichte. Das war der absolute gesellschaftliche Konsens. Wäre eine unabhängige Justiz geschaffen worden, so wäre eine erneute Usurpation unmöglich oder sehr schwer gewesen. Macht euch also nichts vor: Dieses Ding, das jetzt Unschuldige fröhlich zu 8, 15, 20 Jahren verurteilt, hatte schon lange vor Putin seinen Anfang genommen. Und jetzt ist klar: Im Kreml und in der Regierung wollte in den 1990er Jahren keiner eine unabhängige Justiz. Denn eine solche Justiz wäre ein Hindernis gewesen auf dem Weg von Korruption, Wahlfälschungen und der Verwandlung von Gouverneuren und Bürgermeistern in Fürsten auf Lebensdauer.

Ich hasse die »unabhängigen Medien« und die »demokratische Öffentlichkeit«, die den Boden geebnet haben für einen der dramatischsten Wendepunkte unserer neuen Geschichte – die Fälschung der Präsidentschaftswahlen 1996. Ich sage es noch einmal: Ich war damals aktiver Befürworter von alldem. Nicht von der Wahlfälschung natürlich, das hätte mir auch damals nicht gefallen, aber ich habe alles getan, um es nicht zu bemerken, ich habe an der absoluten Ungerechtigkeit der Wahlen keinen Anstoß genommen. Jetzt bezahlen wir dafür, dass wir 1996 dachten, Wahlergebnisse zu fälschen wäre nicht per se schlecht. Der Zweck heiligte die Mittel.

Ich hasse den Oligarchen Gussinski (wobei der längst kein Oligarch mehr ist) dafür, dass er demonstrativ den KGB-Mann Bobkow [in seinem Unternehmen – dek] angestellt hat, der zuvor für die Verfolgung von Dissidenten zuständig gewesen war. Sie fanden das damals witzig: Ha-ha, früher hat er Unschuldige eingelocht, und jetzt arbeitet er für mich. Quasi ein Bär im Frack. Das heißt, es hat nicht nur keine Lustration gegeben, sondern die Schurken wurden auch noch belohnt. Und jetzt stecken ausgerechnet die Leute, die unter Bobkow als junge [Geheimdienst-]Mitarbeiter angefangen haben, Leute wie Jaschin, Kara-Mursa und mich ins Gefängnis.

Man bekommt oft zu hören, dass die Jelzin-Regierung angeblich nichts tun konnte, weil die Kommunisten im Parlament dagegengehalten hätten. Doch komischerweise hat sie das nicht von den Privatisierungen Mitte der 1990er Jahre abgehalten. Wohl aber von einer Justizreform und einer Reform der Sicherheitsdienste.

Ich hasse die ganze russische Führungsriege, die 1991 (nach dem Putsch ) und 1993 (nach den Schüssen aufs Parlament) die uneingeschränkte Macht hatte und nicht einmal versuchte, die offensichtlichsten demokratischen Reformen durchzuführen. Reformen, die in Tschechien, Polen, Estland, Litauen und anderen Ländern Osteuropas bereits durchgeführt worden waren. Natürlich waren damals unterschiedliche Leute an der Macht. Auch gute, ehrliche und aufrichtige. Aber die waren eine winzige Minderheit, deren verzweifelter und fruchtloser Kampf die Korrumpiertheit und Unverfrorenheit der damaligen Machtelite nur noch klarer aufzeigt.

Nicht mit Putin 2011, sondern mit Jelzin, Tschubais, den Oligarchen und der ganzen Komsomol-Parteiclique, die sich »Demokraten« schimpften, haben wir 1994 nicht den Weg nach Europa, sondern nach Mittelasien eingeschlagen. Wir haben unsere europäische Zukunft gegen die Villen von »Tanja und Walja« auf der Millionärsinsel St. Barts eingetauscht. Und als die berüchtigten Putinschen KGBler und FSBler freien Zugang zu politischen Ämtern erhielten, brauchten sie gar nichts mehr zu tun, als sich umzuschauen und erstaunt auszurufen: So geht das also auch? Na, wenn das die Spielregeln sind, wenn man klauen, lügen, fälschen, zensieren und die Gerichte kontrollieren darf, dann werden wir hier mächtig unseren Spaß haben.

Wir haben die Ziege in den Gemüsegarten gelassen und wundern uns, dass sie den ganzen Kohl gefressen hat. Sie ist eine Ziege, ihr Ziel und ihre Mission ist es, Kohl zu fressen, ihr kommt nichts anderes in den Sinn. Jeder Agitationsversuch ist zwecklos. Genauso kommt einem Putinschen Beamten aus dem FSB nichts anderes in den Sinn, als sich einen Palast zu bauen und jeden einzubuchten, der ihm nicht gefällt. Ich kann zwar auch die Ziegen nicht leiden, aber mein blinder, rasender Hass gilt jenen, die sie in den Gemüsegarten gelassen haben.

Dabei verstehe ich natürlich, dass es besser wäre, niemanden zu hassen, sondern lieber darüber nachzudenken, wie man so etwas in Zukunft vermeidet. Und hier liegt meine größte Angst. Ich glaube es nicht nur – ich weiß, dass Russland eine weitere Chance bekommen wird. So funktioniert die Geschichte. Früher oder später werden wir wieder vor einer Weggabelung stehen.

In Panik schrecke ich nachts schweißgebadet von meiner Gefängnispritsche hoch, weil ich träume, dass wir wieder eine Chance bekommen und wieder denselben Weg einschlagen wie in den 1990er Jahren. Den Weg mit dem Wegweiser: »Der Zweck heiligt die Mittel.« Und kleingedruckt steht da außerdem: »Wahlen fälschen ist nicht immer schlecht«, »ist doch egal, dass er klaut, dafür ist er ein harmloser Technokrat und setzt sich für Fahrradwege ein«, »gib diesen Leuten die Freiheit, und sie werden sich sonst was zusammenwählen«, »die Regierung ist immer noch der einzige Europäer in Russland« und andere Weisheiten des aufgeklärten Autoritarismus.

Was ich hier über die 1990er Jahre schreibe, sind weder historische Etüden noch Reflexionen noch bloßes Rumgeheule. Es ist die zentrale und brandaktuelle Frage nach der politischen Strategie aller Befürworter des europäischen Weges und der Demokratie. Wisst ihr, was mich wirklich beeindruckt hat? Die unterschiedlichen Reaktionen, die unsere Recherche über Alexej Wenediktow und Xenia Sobtschak ausgelöst hat. Sie bekamen zig Millionen Rubel aus einer schwarzen Kasse, die die Jedinorossy aus Haushaltsmitteln angelegt hatten. Und Wenediktow hat 550 Millionen Rubel [über 5 Mio. Euro] genau zu der Zeit erhalten, als er als Vorsitzender des Wahlbeobachterteams unmittelbar den Diebstahl von Wählerstimmen organisierte. Er war das Gesicht, der Agitator und Watchdog der Online-Wahlen, deren Zweck allein darin bestand, eure Stimme zu nehmen und sie auf den Stapel der Jedinorossy zu legen. Die Wahlfälschungen bei den Online-Wahlen sind akribisch belegt und stehen außer Zweifel. Und ich war sehr erstaunt zu sehen, dass es eine gar nicht so kleine Gruppe von Menschen gibt, für die weder die Einzelelemente »Geld aus einer schwarzen Kasse« und »Wahlfälschung« noch die Kombination aus beiden – »Geld aus schwarzen Kassen während der Wahlfälschung« – verwerflich oder bedeutend finden. Na und, Kleinkram! Irgendwas war da faul, ja, aber wer kann schon beweisen, dass er für die Fälschungen Geld bekommen hat – er hat zufällig Geld bekommen, während er zufällig gefälscht hat. Aber das ist graue Vorzeit, 2019, wer erinnert sich überhaupt daran. Alles unwichtig, Hauptsache, er ist jetzt »gegen den Krieg«. Wie schrieb jemand so schön auf Twitter? »Na und?« als nationale Idee.

Das ist nur ein Beispiel, aber es zeigt sehr gut, dass auch jetzt, 2023, vor dem Hintergrund von Repressionen, Gefängnisstrafen und Krieg, in unserem Land Prinzipientreue in Frage gestellt und von vielen als naiv oder romantisch oder als »weißer Mantel« abgestempelt wird. Persönliche Loyalität, die Zugehörigkeit zu einem Korporativ oder alte Freundschaft haben für viele mehr Bedeutung.

Ich sage nicht, dass man Alexej Wenediktow erschießen oder erhängen oder ihm auch nur einen ordentlichen Haarschnitt verpassen sollte. Es geht auch ohne Grausamkeiten. Aber man könnte doch wenigstens NICHT GUTHEISSEN, was er getan hat (und tut, indem er immer noch behauptet, die Wahlen wären nicht gefälscht), und ihn nicht als politischen Partner betrachten. Denn wenn für uns einer, der unsere Stimmen an Einiges Russland verkauft, ein politischer Partner ist, wer sind wir dann überhaupt, wer braucht uns dann noch?

Also, zweifelt bloß nicht: Morgen wird es eine neue Chance geben, es wird sich wieder ein Fenster der Möglichkeiten auftun; schon morgen werden wir mit denen zu tun haben, die meinen, man müsste irgendwo die Wahlen abschaffen oder fälschen (»Sonst wählen die noch die Extremisten«), Journalisten bestechen (»Wir bezahlen doch niemanden, wir haben einfach unseren Oligarchenfreund gefragt, ob er diesen TV-Sender kaufen will«), die Gerichte an die Leine nehmen (»Sonst werden sie die Richter und Geschworenen bestechen«), dass die personelle Struktur der Regierung nicht verändert werden kann (»Das sind immerhin Profis, wir können ja nicht irgendwen von der Straße nehmen«) und so weiter und so fort. Bis hin zu dem Punkt, dass man den Auftrag zum Bau dieser Brücke nicht über eine offene Ausschreibung vergibt, sondern an einen »zuverlässigen Subunternehmer«, mit dem man schon lange zusammenarbeitet. Und die Leute mit diesen Ideen werden nicht einmal Putinisten oder Kommunisten sein – sie werden sich wieder als Demokraten und Liberale bezeichnen.

Ich habe Angst davor, dass wir den Kampf um die Prinzipien wieder unter den Losungen der »Realpolitik« verlieren. Erst, wenn die große Mehrheit der russischen Opposition aus Leuten besteht, die unter keinen Umständen gefälschte Wahlen, Fake-Gerichte und Korruption akzeptieren, erst dann werden wir die Chance, die ganz sicher kommen wird, wirklich nutzen können.

Übersetzung aus dem Russischen:Jennie Seitz, Ruth Altenhofer

Die Originalfassung des vorliegenden Beitrags von dekoder ist online verfügbar unter https://specials.dekoder.org/nach-putin/nawalny/.

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