Stabilität der Kader
Von größter Bedeutung bei der Regierungsumbildung ist die Neubesetzung an der Spitze des Verteidigungsministeriums in Form eines Stühlerückens: Der bisherige Minister Sergej Schojgu wurde zum Sekretär des Sicherheitsrats ernannt. Der bisherige langjährige Sekretär Nikolaj Patruschew ging als Berater des Präsidenten in die Präsidialverwaltung. Neuer Verteidigungsminister ist Andrej Beloussow, der bis dahin das Amt des ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten bekleidete. Zum neuen alleinigen ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten wurde Denis Manturow befördert, der nun nicht mehr gleichzeitig Minister für Industrie und Handel ist. Es blieb nicht bei dem Führungswechsel im Verteidigungsministerium: Die Beförderungen einer Reihe von Gouverneuren und weiteren Beamten sind Anzeichen eines allmählichen Generationenwechsels in Moskau und geben darüber hinaus Aufschluss über Verschiebungen in den Machtverhältnissen zwischen Fraktionen der Elite und mögliche Hinweise auf zukünftige Entwicklungen. Trotz der aufsehenerregenden Neubesetzungen steht der Beginn der fünften Amtszeit Putins jedoch für Stabilität der Kader.
In der Regierung von Ministerpräsident Michail Mischustin, der nun zehn stellvertretende Ministerpräsidenten und 21 Minister angehören, gab es lediglich sechs Veränderungen – wie Nikolaj Petrow bemerkt, ist die Anzahl der Neu- und Umbesetzungen damit so niedrig wie zuletzt vor 15 Jahren. Auch die Spitze der Präsidialverwaltung bleibt unverändert. Konstantin Sonin sieht darin eine Bestätigung seiner Theorie der »Degenerierten Autokratie«, zu deren Merkmalen die endlose Rotation einer kleinen Personengruppe zwischen Posten gehört.
Festnahmen im Verteidigungsministerium
Der Verlauf des Krieges gegen die Ukraine bot immer wieder Anlass zu starker regimeinterner Kritik an Schojgus Amtsführung. Der auf fehlerhafte FSB-Analysen gestützte Plan, die Ukraine binnen weniger Tage oder Wochen zu überwältigen, scheiterte[1]. Mehr noch: In den letzten zwei Jahren gelangen der Ukraine erfolgreiche Gegenoffensiven bei Charkiw und Cherson, Drohnenangriffe auf russische Raffinerien weit im Landesinneren und die Versenkung eines großen Teils der Schwarzmeerflotte[2]. Hinzu kommen stetige Beschwerden über Nachschubprobleme, unzureichende Ausrüstung und Korruption auf allen Ebenen. Bisher war Schojgu aber auch ein treuer Schutzschild für Putin, da er alle Kritik an der Kriegsführung auf sich (und von Putin ab-) lenkte. Selbst die Reaktion auf den Aufstand des Söldnerführers Prigoschin, der die russische Führung in eine peinliche Situation brachte, kostete Schojgu damals nicht sein Amt.
Doch die Festnahme von Timur Iwanow, eines stellvertretenden Verteidigungsministers, der Schojgu als sogenannter »Kassierer« seines Clans nahestand, wegen Korruptionsvorwürfen Ende April deutete bereits auf die Schwächung des Ministers hin.
Unmittelbar nach seiner Versetzung wurde mit dem Leiter der Hauptpersonaldirektion des Verteidigungsministeriums und vorherigen Generalstabsoffizier Jurij Kusnezow ein weiterer hochrangiger Vertrauter Schojgus verhaftet. Kurz danach wurde mit Oleg Saweljew ein Rechnungsprüfer zum stellvertretenden Verteidigungsminister befördert, der bereits von 2012 bis 2013 unter Beloussow im Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung gearbeitet hatte.
Truppen-Rotation
Es folgten weitere Festnahmen, etwa von Wladimir Wertelezkij, der als Beamter im Verteidigungsministerium für die Vergabe staatlicher Aufträge im Beschaffungswesen zuständig war[3]. Die Verhaftung am 21. Mai von General Iwan Popow, dem ehemaligen Befehlshaber der 58. russischen kombinierten Gardearmee des Militärbezirks Süd, zeigt indes, dass die Antikorruptionskampagne auch als Vorwand für eine politische Säuberung dienen könnte: Popow wird Unterschlagung im großen Stil vorgeworfen, insbesondere geht es um den Diebstahl von Baumaterialien für Befestigungsanlagen. Seine Schuld ist dabei einem Bericht von Kommersant zufolge noch nicht erwiesen[4]. Er war aber auch bekannt für seine Kritik an der Kriegsführung, der unzureichenden Versorgung und den hohen Verlusten kurz nach dem Prigoschin-Aufstand, was zu seiner Abberufung im letzten Jahr führte[5].
Es ist möglich, dass in der nächsten Zeit auf den Wechsel an der Spitze im Ministerium auch Veränderungen bei der operativen Führung der Streitkräfte folgen werden. Die Verhaftung des Vize-Generalstabschefs und Leiters der Hauptdirektion für Kommunikation der Streitkräfte, Wadim Schamarin, am 22. Mai könnte darauf hindeuten, dass – trotz gegenteiliger Beteuerungen von Peskow – auch die Stellung von Generalstabschef Walerij Gerassimow selbst nicht mehr sicher ist[6]. Andrei Soldatov und Irina Borogan sehen in der jüngsten Säuberungswelle eine Stärkung des FSB, der die belastenden Materialien zusammengetragen hatte[7]; Mark Galeotti zufolge ist hingegen das wirkliche Interesse an einer Eindämmung der enormen korruptionsbedingten Kosten im Beschaffungswesen entscheidend[8].
Als mögliche Nachfolger von Gerassimow werden sein Stellvertreter, der Kommandeur der Luftlandetruppen Michail Teplinskij gehandelt, sowie Sergej Surowikin, der Ex-Oberbefehlshaber der russischen Truppen im Ukrainekrieg. Surowikin war nach dem Prigoschin-Aufstand als Leiter des Koordinierungsausschusses für Luftverteidigungsfragen der GUS kaltgestellt worden. Videoaufnahmen, die Beloussow am 26. Mai beim Gottesdienstbesuch in der Kathedrale der russischen Streitkräfte zusammen mit Wiktor Goremykin, dem Leiter der militärpolitischen Hauptdirektion und Vizeverteidigungsminister, zeigten, gaben ebenfalls Anlass zu Spekulationen[9].
Was aus Putins Sicht für Beloussow als Verteidigungsminister spricht
Unabhängig von der Kritik an Schojgu trägt die Versetzung eines Ökonomen an die Spitze des Verteidigungsministeriums dem Umstand Rechnung, dass sich die »militärische Spezialoperation« in einen potenziell noch lange andauernden Abnutzungskrieg verwandelt hat. Dmitrij Peskow, Sprecher des russischen Präsidenten, erklärte gegenüber TASS am 12. Mai, dass die Verteidigungsausgaben innerhalb von kurzer Zeit von 3 auf zurzeit 6,7 Prozent des BIP gestiegen seien und bald wieder »allmählich der Situation von Mitte der 80er Jahre« der Sowjetunion ähneln könnten, »als der Anteil der Ausgaben für Sicherheit an der Wirtschaft 7,4 Prozent betrug«. Nach westlichen Schätzungen lag der Anteil sogar doppelt so hoch. Der hohe Anteil von Ausgaben im Staatshaushalt, die der Geheimhaltung unterliegen, lässt es plausibel erscheinen, dass die Marke von 7,4 Prozent bereits erreicht oder gar überschritten wurde. Das Argument, es bedürfe eines erfahrenen Ökonomen, um Mittel dieser Größenordnung zu managen, ist aus dieser Perspektive schlüssig.
Doch wieso fiel die Wahl ausgerechnet auf Beloussow? Nach dem gewaltsamen Aufstand von Prigoschin dürfte die Frage, ob von dem Verteidigungsminister eine Bedrohung für die eigene Macht ausgehen könnte, eine größere Rolle in Putins Überlegungen spielen. Schojgu, der bis dahin das dienstälteste Regierungsmitglied Russlands war, begann seine Karriere Anfang der 1990er-Jahre als Zivilschutzminister. Obschon er seit 2012 an der Spitze des Verteidigungsministeriums stand, ist er kein Militär und damit nicht im Offizierskorps verankert. Bei den Epauletten an seinen Uniformen handelt es sich um nachträgliche Dekorationen. Auch Beloussow ist Zivilist, wie auch schon Sergej Iwanow (2001 – 2007) und Anatolij Serdjukow (2007 – 2012), die vorherigen Verteidigungsminister unter Putin.
Der Umstand, dass Schojgu kein ethnischer Russe ist, machte ihn für Putin weniger bedrohlich, da ein Angehöriger einer Minderheit zum einen als russischer Präsident vermutlich nicht mehrheitsfähig wäre und zum anderen nicht hinreichend stark in der russischen Elite vernetzt ist. Anders als der Tuwiner Schojgu gehört Beloussow keiner Minderheit an. Doch Personen aus seinem Umfeld berichten[10], dass er über kein eigenes Team verfüge – mit Ausnahme seines langjährigen Büroleiters Eldar Muslimow. Das Fehlen einer eigenen Hausmacht Beloussows könnte Putins Entscheidung beeinflusst haben und entspricht seiner Taktik, verschiedene Clans und Behörden gegeneinander auszuspielen. Nurlan Aliyev zufolge wird Beloussow in dem Ministerium am wahrscheinlichsten als Putins verlängerte Hand agieren.
Wer ist Andrei Beloussow?
In seiner Anhörung vor dem Föderationsrat, der oberen Kammer des russischen Parlaments, der dem Präsidenten untergeordnete Minister im Zuge der Verfassungsänderungen von 2020 bestätigen muss, versprach Beloussow Produktionssteigerungen und Förderung von Innovationen im Verteidigungsministerium und der Rüstungsindustrie; für den Sieg sei er, wenn nötig, »bereit, sein Leben zu geben«. Alexandra Prokopenko, eine ehemalige Beraterin der russischen Zentralbank, vergleicht Beloussow mit dem konservativen Reformer Pjotr Stolypin; es handele sich »im Vergleich mit Schojgu um einen Asketen« mit christlich-orthodoxen Überzeugungen[11]. Er ist – wie auch Sergej Kirijenko und Michail Mischustin – Mitglied der Diwejewo-Bruderschaft. Anders als die beiden zuvor Genannten stellt Beloussow seine Religiosität nicht nur öffentlich zu Schau, er gilt als tiefgläubig[12].
Dem Politologen Sergei Markow zufolge ist Beloussow ein »System-Liberaler, der zum Etatisten wurde«. Markow liegt nur zur Hälfte richtig: Beloussow ist ein Etatist, doch ein Liberaler war er nie. In den wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre standen er und Sergei Glasjew stets in Opposition zu Personen wie Alexej Kudrin oder German Gref; dennoch hat er den Ruf eines kompetenten Ökonomen. In westlichen Analysen wird Beloussow bisweilen als Vertreter eines Militär-Keynesianismus dargestellt. Er zählt zu jenen sowjetisch-ausgebildeten russischen Ökonomen, die die Defekte des sowjetischen Systems verstanden, aber weiterhin von der zentralen Rolle des Staates bei der Lenkung der Wirtschaft überzeugt blieben.
Beloussows Familie gehörte zur Wissenschaftler-Elite der UdSSR; sein Patronym – Remowitsch – verweist auf den sowjetischen Vornamen seines Vaters (Rem, von Revolution, Engels, Marx), einem bedeutenden Ökonomen der Kosygin-Reformen. Andrei Beloussow wurde 1959 geboren, studierte in Moskau Ökonomische Kybernetik und verfasste seine Doktorarbeit über Simulationsansätze zur Modellierung der Verwendung und Bildung von Betriebskapital. Es folgte 1986–2006 eine Karriere am Institut für Wirtschaftsprognosen; pikanterweise zeitweise finanziert durch US-amerikanische Stipendien für unabhängige russische Thinktanks.
In den Staatsdienst trat er somit erst in relativ hohem Alter ein, obschon er bereits zuvor Regierungen in Wirtschaftsfragen beriet. Er begann seine Laufbahn als stellvertretender Minister für wirtschaftliche Entwicklung (2006 – 2008), bevor er Leiter der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Regierung wurde. In dieser Zeit wurde Putin auf ihn aufmerksam; die Forderung nach einer Agentur für strategische Initiativen im Wahlkampf 2012 geht auf Beloussow zurück. Seine direkten Vorgesetzten in dieser Zeit waren der jetzige Oberbürgermeister Moskaus Sergej Sobjanin (2008 – 2010) und der Dumasprecher Wjatscheslaw Wolodin (Oktober 2010 – Dezember 2011), zu denen er seither ein gutes Verhältnis hat. Nach einer kurzen Episode als Minister für wirtschaftliche Entwicklung wurde Beloussow 2013 Wirtschaftsberater des Präsidenten in der Präsidialverwaltung.
Er steht für starke staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und schuldenfinanzierte Investitionen sowie subventionierte günstige Kredite für Bürger. Auf Beloussow soll die Faszination Putins für Blockchain-Technologien und Kryptowährungen zurückgehen; mit seiner Forderung nach einer Übergewinnsteuer für Rohstoffunternehmen 2018 scheiterte er. Beloussow sieht – wie Putin – Russland seit Jahren von Feinden umkreist und war 2014 der einzige Ökonom aus Putins Beraterkreis, der die Annexion der Krim unterstützte und die westlichen Sanktionen für verkraftbar hielt. Seit 2020 hatte Beloussow die Position des ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten inne und diente während der Corona-Erkrankung von Mischustin, zu dem er kein gutes Arbeitsverhältnis haben soll, kurzzeitig als geschäftsführender Ministerpräsident.
In einem Interview mit der Wirtschaftszeitung RBK im vergangenen Jahr legte Beloussow ausführlich seine Weltanschauung dar: Darin sprach er von der Wende Russlands nach Osten und Süden, während man gleichzeitig Hüter der traditionellen westlichen Werte sei[13]. Er sorgte auch mit seinen Bemerkungen über die ewige Gespaltenheit der russischen Elite für Aufsehen. Die nächsten Monate werden zeigen, wie sich seine Berufung zum Verteidigungsminister auf die gegenwärtigen Rivalitäten innerhalb der Machtelite auswirken wird. Sein Verhältnis zu Schojgu etwa weist Parallelen zu einem wiederkehrenden Muster von Putins Personalpolitik auf, bei dem ein Minister abgelöst und danach in die Präsidialverwaltung (beziehungsweise in Schojgus Fall in den Sicherheitsrat, dessen Apparat Teil der Präsidialverwaltung ist) berufen wird und dort mit ähnlichen Themen wie zuvor befasst bleibt[14]. Diese Konstellation geht fast immer mit Spannungen mit dem Nachfolger einher; Beispiele dafür sind unter anderem das Gesundheits-[15] und das Kommunikationsministerium[16].
Informelle Macht im Sicherheitsrat und der Präsidialverwaltung
Die Ausrichtung des politischen Systems auf Putin hat in Russland zum Teil eine »flüssige Bürokratie« hervorgebracht, in der Kompetenzen von Ämtern oftmals vage definiert sind. Dieser Umstand erschwert die Beurteilung, wie die Versetzungen von Schojgu und Patruschew ihre Stellung in der Machtelite verändern. So wurde die Bedeutung des Sicherheitsrats für die Koordinierung der russischen Sicherheitsdienste bisher gemeinhin mit dem politischen Gewicht der Person Patruschews und weniger mit seiner Funktion als Sekretär verknüpft, während die Position des stellvertretenden Vorsitzenden, die im Zuge seines Rücktritts als Ministerpräsident (2012 – 2020) neu für Dmitrij Medwedew geschaffen wurde, mehr wie eine Sinekure wirkt. Noch ist unklar, ob es sich im Fall Schojgus um eine Absetzung aufgrund seiner Amtsführung als Minister handelte, die in Anbetracht seiner Loyalität möglichst sanft ausfallen sollte oder ob er im Stande ist, die Bedeutung des Sekretariats zu erhalten. Eine konkrete Aufgabe des Sekretärs, die ihm unabhängig von der Person Gewicht verleiht, ist die direkte Kommunikation mit dem Nationalen Sicherheitsberater der USA. Ähnlich verhält es sich mit dem neuen Amt des ehemaligen Sekretärs Nikolaj Patruschew, der nun der Berater des Präsidenten für Fragen des Schiffsbaus ist. Unter den Beratern Putins gibt es Personen wie Andrej Fursenko, deren Rolle sich darauf beschränkt, bei Konferenzen und Einweihungen anstelle des Präsidenten Grußworte zu sprechen und etwa den langjährigen Kulturminister Wladimir Medinskij, der als Autor von Putins Geschichtspolitik gilt und 2022 Leiter der russischen Delegation in den Verhandlungen mit der Ukraine war. Mark Galeotti zufolge steht diese personelle Vergrößerung des persönlichen Stabes Putins für eine weitere »Zarifizierung« des Regimes[17].
Es ist möglich, dass es sich bei der neuen Position für den 72-jährigen Patruschew um ein repräsentatives Amt für den Ruhestand handelt – wie bei dem Sonderbeauftragten des Präsidenten für Naturschutz und Transport Sergej Iwanow, der 2007 als möglicher Nachfolger Putins gehandelt wurde und diesen Titel seit 2016 trägt. Im Unterschied zu Patruschew ist allerdings bekannt, dass Iwanow nach dem Tod seines Sohns Alexander 2014 selbst um diesen Schritt gebeten hatte. Der zweite Sohn von Iwanow, Sergej Iwanow Jr., wurde im Mai 2023 als Generaldirektor von Alrosa, dem weltgrößten Diamantenproduzenten, abgelöst – möglicherweise ein Zeichen für den zurückgehenden Einfluss des Vaters.
Beförderung von Gouverneuren zu Ministern
Die Personalentscheidungen beschränkten sich nicht auf das Verteidigungsministerium: Maxim Oreschkin, Wirtschaftsberater des Präsidenten, wurde zu einem von sieben stellvertretenden Leitern der Präsidialverwaltung befördert, was mit einer Vergrößerung seiner Mitarbeiterzahl einhergeht und auf das hohe Ansehen hinweist, das er bei Putin genießt. Es gab außerdem eine Reihe von Veränderungen in den Regionen. In 19 der 83 international anerkannten Föderationseinheiten finden am 8. September Gouverneurswahlen statt. Es ist übliche Praxis, bereits vor den Wahlen Gouverneure in ausgewählten Provinzen auszutauschen, um ihren präferierten Nachfolgern einen Amtsinhaberbonus zu geben. In der jüngsten Regierungsumbildung ist Alexei Djumin, bisher Gouverneur von Tula, zum Berater des Präsidenten für Fragen der Rüstungsindustrie ernannt worden; Anton Alichanow (Kaliningrad) zum Minister für Industrie und Handel; Roman Starowojt (Kursk) zum Verkehrsminister; Sergej Ziwiljow (Kemerowo) zum Energieminister; Michail Degtjarjow (Chabarowsk) zum Sportminister. Diese Beförderung von fünf Gouverneuren weist einige Besonderheiten auf, wobei sich der Wechsel in Chabarowsk, an der Grenze zu China, noch am ehesten in das bisherige Bild fügt:
Chabarowsk ist ein Zentrum von Protesten, seit 2020 der populäre Gouverneur Sergej Furgal von der LDPR aufgrund des Verdachts festgenommen wurde, in den frühen 2000er-Jahren Morde an Geschäftsleuten in Auftrag gegeben zu haben. Furgal wurde im Februar 2023 zu 22 Jahren Straflager verurteilt. Die nun erfolgte Beförderung seines Nachfolgers Michail Degtjarjow (ebenfalls LDPR) zum Sportminister und die Einsetzung eines völlig Ortsfremden zeigt das nach wie vor geringe Vertrauen des Kremls in die lokalen Eliten in Chabarowsk und die zunehmende Tendenz, Gouverneure zu ernennen, die in keiner Verbindung zur Region stehen. Sie werden umgangssprachlich »Warjagi« (Waräger) genannt, in Anlehnung an die Wikinger-Söldner im Byzantinischen Reich.
Rostec und Verteidigungsministerium: Verteilungskämpfe in der Kriegswirtschaft
Der Personalwechsel in der strategisch wichtigen Exklave Kaliningrad steht hingegen direkt im Zusammenhang mit der Berufung Beloussows zum Verteidigungsminister: Anton Alichanow, der bisherige Gouverneur, ist neuer Minister für Industrie und Handel und ersetzt in dieser Position Denis Manturow, der zum ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten befördert wurde und dort an die Stelle des neuen Verteidigungsministers Beloussows tritt. Manturow ist der Sohn eines langjährigen engen Geschäftspartners von Rostec-Chef Tschemesow. Der Nachfolger von Alichanow, Alexej Besproswannych, war seit 2017 ebenfalls im Ministerium für Industrie und Handel tätig. Kaliningrad und das Ministerium für Industrie und Handel stehen unter dem Einfluss des staatseigenen Rüstungsindustriekonglomerats Rostec und dessen Geschäftsführer Sergei Tschemesow, einem engen Vertrauten Putins seit deren Dresdener KGB-Zeit.
Rostec beschäftigt 660.000 Angestellte und produziert nach eigenen Angaben 80 Prozent der russischen Kriegsgüter. Der Anteil ziviler Produkte am Umsatz des Unternehmens fiel seit Beginn des Krieges von 44,5 auf 35 Prozent. In dem von endemischer Korruption durchsetzten Beschaffungswesen der russischen Streitkräfte stehen die Rüstungsindustrie – das heißt vor allem: Rostec – und das Verteidigungsministerium in einem fortwährenden Konflikt um Provisionen bei der Vergabe von Rüstungsaufträgen. Das Treffen zwischen Tschemesow, Manturow und Putin im Kreml am 11. Mai sowie ein Interview von Tschemesow am 17. Mai mit RBK, in dem er beklagte, dass Rostec eine zu geringe Gewinnmarge aufweise, sind möglicherweise Versuche, die Verhandlungsposition gegenüber dem Verteidigungsministerium nach der Entlassung Schojgus zu stärken. Die Personalpolitik Putins kennzeichnete allerdings bisher stets eine symmetrische Schwächung bei Konflikten innerhalb der Machtelite.
Russischer Feudalismus
Die Beförderungen der Gouverneure Roman Starowojt und Sergej Ziwiljow stehen ebenfalls in Zusammenhang mit der relativen Stärkung von bestimmten Fraktionen in der Machtelite: Starowojt, zuvor Gouverneur der Oblast Kursk an der Grenze zur Ukraine und nun Verkehrsminister unter Mischustin, wird dem Clan der Rotenberg-Brüder zugerechnet. Das Steinkohlerevier Kemerowo im Süden Sibiriens wiederum wurde bisher von dem Ehemann einer Nichte Putins verwaltet, der dem Rohstoffhändler Gennadij Timtschenko nahestehen soll. Der 1961 in Mariupol geborene Ziwiljow ist nun der neue Energieminister, an seine Stelle tritt sein bisheriger Stellvertreter. Sein direkter Vorgesetzter, der stellvertretende Ministerpräsident für Energie (und langjährige Energieminister) Alexander Nowak, wurde ebenfalls in einer Stadt geboren, die von Russlands Krieg heimgesucht wurde – Awdijiwka. Nowaks Zuständigkeitsbereich ist nun um Aspekte erweitert worden, die die Organisation der Wirtschaft als Ganzes betreffen und zuvor zum Portefeuille von Beloussow gehörten, etwa die Anti-Sanktionsmaßnahmen.
Auch der bisherige Gouverneur von Tula Alexej Djumin wurde durch seinen Stellvertreter ersetzt. Doch die Ernennung von Djumin zum Berater des Präsidenten für Fragen der Rüstungsindustrie entstammt einem anderen Pool von Führungskräften: Djumin ist im Unterschied zu den übrigen vier Beförderten kein Absolvent der »Schule der Gouverneure« der Russische Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation (RANChiGS), sondern begann seine Karriere im präsidialen Sicherheitsdienst (Sluschba Besopasnosti Presidenta, der wiederum die wichtigste Einheit des Föderalen Sicherheitsdienstes, Federalnaja Sluschba Ochrany, FSO), ist. Anders als bei Patruschew sieht die überwiegende Zahl der russischen Kommentatoren in Djumins Ernennung zum Berater des Präsidenten eine klare Beförderung[18].
Djumin ist nicht der einzige ehemalige Leibwächter, dem Putin Staatsämter anvertraut: Im Zuge der jüngsten Personalveränderungen wurde der SBP-Offizier Walerij Pikaljow zum neuen Leiter der Zollbehörde. Das bekannteste Beispiel für diesen Karriereweg ist Wiktor Solotow, der Putin – und zuvor Jelzin – bereits in den 1990er-Jahren als Leibwächter diente und von Ersterem 2016 zum Direktor der neugeschaffenen Nationalgarde ernannt wurde. Doch auch aus der nachfolgenden Generation gelang einer Reihe von SBP-Offizieren, die zum Netzwerk von Solotow gezählt werden[19], ab den 2010er-Jahren der Aufstieg. Wie etwa die Fälle Jewgenij Sinitschew und Sergej Morosow, die beide nach bloß drei Monaten Amtszeit als Gouverneure in 2016 bzw. 2021 abgelöst wurden, zeigen, sind aber auch die Leibwächter in ihrer Stellung nicht unantastbar, wenn sie sich fachlich nicht bewähren. Für beide fand Putins allerdings hochrangige Folgeverwendungen.
Das zweite Beispiel für den Aufstieg einer jüngeren Generation, die ihre Nähe zum Machthaber kapitalisiert, sind die sogenannten »Prinzlinge« – die Söhne des inneren Zirkels um Putin. Im Zuge der Regierungsumbildung wurde nun Boris Kowaltschuk, der Sohn von Jurij Kowaltschuk, dem mutmaßlichen »Bankier Putins«, zum Leiter des Rechnungshofes ernannt. Außerdem wurde der bisherige Landwirtschaftsminister Dmitrij Patruschew, der Sohn von Nikolaj Patruschew, zum stellvertretenden Ministerpräsidenten mit Ressortbereich Landwirtschaft befördert. Hierbei könnte es sich um eine Kompensierung für den voraussichtlichen Machtverlust des Vaters handeln. Die bisherige Stellvertreterin Patruschews, Oxana Lut, folgt ihm als Ministerin nach. Der konkrete Fall zeigt die verschiedenen Möglichkeiten des Aufstiegs – entweder über Beziehungen oder Schritt für Schritt im Beamtenapparat.
Die Folgen der Regierungsumbildung
Die Berufung eines fähigen Ökonomen zum Verteidigungsminister soll die russische Kriegswirtschaft effizienter und innovativer machen. Drei Punkte sprechen gegen schnelle Erfolge Beloussows: Zum einen nimmt die – machtpolitisch motivierte – Aufsplitterung von Kompetenzen in der Wirtschaftspolitik eher noch zu. Es ist unklar, wie etwa Oreschkin, Djumin, Manturow und Alichanow mit Beloussow zusammenarbeiten werden. Die Beförderung von Manturow und Alichanow – die beide zum Clan von Tschemesow gezählt werden – verweist auf das zweite Problem: Es ist nicht ausreichend, Ineffizienzen und Korruption auf der einen Seite der Beschaffung zu bekämpfen und die Anbieterseite – das heißt Rostec – unberührt zu lassen. Schließlich verfügt Beloussow über keine positive Bilanz bei der Umsetzung konkreter Projekte, jedoch könnte – folgt man der Analyse des ehemaligen Zentralbankers Sergej Alexaschenko[20] – seine Koordinierungs-Kompetenz nun im Kabinett fehlen, die er als erster stellvertretender Ministerpräsident bei der Steuerung einer zusehends zentral gelenkten Kriegswirtschaft gezeigt hat.
Verweise
[1] https://www.washingtonpost.com/world/interactive/2022/russia-fsb-intelligence-ukraine-war/
[2] https://molfar.com/en/blog/vid-moskvy-do-cezara-kunikova-skilky-corabliv-vtratila-rosia-v-chornomu-mori
[3] https://www.interfax.ru/russia/962035
[4] https://www.kommersant.ru/doc/6727115
[5] https://www.rbc.ru/politics/13/07/2023/64af0ab19a7947aa682eda9c
[6] https://www.kommersant.ru/doc/6715029
[7] https://cepa.org/article/russias-military-shaken-as-top-level-purge-unfolds/
[8] https://www.spectator.co.uk/article/why-is-putin-purging-his-generals/
[9] https://regions.ru/obschestvo/glava-minoborony-belousov-prinyal-uchastie-v-liturgii-v-glavnom-hrame-vs-rf-v-kubinke
[10] https://t.me/faridaily24/1368
[11] https://x.com/amenka/status/1789894470852293080
[12] https://dossier.center/belousov/
[13] https://www.rbc.ru/business/13/06/2023/6482d3389a79473805ee8978
[14] https://tass.ru/politika/20775927
[15] https://www.kommersant.ru/doc/4207275
[16] www.https://business-gazeta.ru/article/382726
[17] https://x.com/MarkGaleotti/status/1790315688608809334
[18] https://t.me/agentstvonews/6109
[19] https://ridl.io/putin-s-head-of-guard/
[20] https://hronika.substack.com/p/b84