Die Kunst der Datenmanipulation in Russland: Erkenntnisse aus der COVID-19-Pandemie

Von Nikita Zakharov (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)

Zusammenfassung
Russland befindet sich in einem Krieg gegen die Ukraine und damit auch indirekt in einem Konflikt mit dem Westen: Russland hat sich damit auf unbekanntes Terrain begeben. Damit wachsen die Bedenken, ob den russischen staatlichen Statistiken in Kriegszeiten zu trauen ist. In dieser Analyse stelle ich einige Schlussfolgerungen vor über mögliche Datenmanipulation während der Pandemie, die insbesondere durch das nationale Referendum über die Verfassungsänderungen im Jahr 2020 befördert wurden. Basierend auf den Erkenntnissen dieser Studie stelle ich einige Überlegungen an, wie Russland staatliche Daten in Zeiten des Krieges manipulieren könnte.

Autokratien und Datenmanipulation

»Einem Kreis von Männern, der niemandem Rechenschaft ablegt, sollte man nicht trauen«. Dieses berühmte Zitat eines amerikanischen Gründervaters ist nach wie vor von großer Bedeutung im Umgang mit offiziellen staatlichen Daten in nicht-demokratischen Regimen. Das gilt insbesondere in der derzeitigen Epoche, in der autokratische Regierungen vor allem auf Desinformation setzen (Guriev and Treisman, 2019). So stellte beispielsweise eine kürzlich veröffentlichte Studie von Martinez (2022) fest, dass autokratische Regime etwa ein Drittel ihres gemeldeten Wirtschaftswachstums fälschen. Korrigiert man diese Fälschungen, so fällt das »Wunder des autokratischen Wachstums« in Regimen wie China deutlich bescheidener aus. Eine Folgestudie von Briviba et al. (2024), die eine ähnliche Methodik verwendet, zeigt, dass andere institutionelle Faktoren wie internationale wirtschaftliche und politische Offenheit und Dezentralisierung diese Datenfälschungen noch zusätzlich begünstigen. Eine weitere Studie von Wallace (2016) legt nahe, dass solche Manipulationen vor allem in politisch heiklen Zeiten auftreten, zum Beispiel kurz vor dem Wechsel an der Staatsspitze in China.

Wendet man diese Erkenntnsse auf die Russische Föderation nach dem unprovozierten Einmarsch in die Ukraine an, so könnte angenommen werden, dass ein Land mit wachsenden autokratischen Tendenzen, abnehmender wirtschaftlicher und politischer Offenheit und den politischen Turbulenzen aufgrund des Angriffskrieges keine auch nur annähernd wahrheitsgemäßen Statistiken herausgeben würde. Andererseits könnte es auch gute Gründe geben, weiterhin Daten zu veröffentlichen: Schließlich sind offizielle Statistiken in Autokratien Teil ihrer Desinformationskampagnen. Manipulierte Daten können aber nur dann ihre Wirkung als Desinformation entfalten, wenn sie zumindest teilweise korrekt sind, um ausreichend glaubwürdig zu erscheinen (Carter und Carter, 2024). Gleichzeitig ist es keine einfache Aufgabe, in einem so großen Land das Gleichgewicht zwischen echten und manipulierten Daten zu bewahren: Aufgrund einer umfangreichen Bürokratie würden dieselben mehrstufigen Hierarchien, die an der Datenerhebung und -aggregation beteiligt sind, auch Daten entsprechend ihrer Wahrnehmung eines »wünschenswerten« Grads der Fälschung und im Rahmen ihrer administrativen Kapazitäten manipulieren. Wie in einer aufschlussreichen Studie von Rundlett und Svolik (2016) beschrieben, führt eine solche bürokratische Hierarchie zu einem Problem asymmetrisch verteilter Anreize und Karrieremotive auf den verschiedenen Verwaltungsebenen und kann dazu führen, dass es auf der föderalen Ebene zu einen Übermaß an Fälschungen kommt. Dieser übereifrige Betrug ist immer wieder bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu beobachten. Allerdings ist weniger eindeutig, wie der Kreml in einer außergewöhnlichen Situation wie einem Krieg mit offiziellen Statistiken umgeht. Denn hier sind die Unsicherheiten auf den unteren Verwaltungsebenen besonders groß, und die Signale aus dem föderalen Zentrum können durchaus zweideutig ausfallen.

In dieser Analyse versuche ich, diese empirische Frage zu beantworten, indem ich mir Erkenntnisse über Datenmanipulationen während der COVID-19-Pandemie zunutze mache, die meine Koautoren Alexander Libman, Vladimir Kozlov, Dmitrii Kofanov und ich in einer kürzlich im British Journal of Political Science veröffentlichten Studie untersucht haben ([1]). Wir konzentrierten uns dabei auf die ersten sechs Monate der Pandemie und untersuchten die Diskrepanzen zwischen der offiziellen und der tatsächlichen Sterblichkeitsrate durch das Coronavirus. Wir analysierten in der Studie, wie das Referendum über Verfassungsänderungen, das für den russischen bürokratischen Apparat einen besonders kritischen Zeitpunkt darstellte, sich auf Datenmanipulationen in den COVID-19-Statistiken auswirkte.

Die Pandemie in Russland und die Manipulation der COVID-19-Sterblichkeit

Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie Anfang 2020 stellte ein politisch heikles Ereignis dar, da die Pandemie die Pläne von Präsident Wladimir Putin durcheinanderbrachte, die von ihm initiierten Verfassungsänderungen per Plebiszit bestätigen zu lassen. Die Verfassungsreform diente vor allem dazu, Putin die Möglichkeit einzuräumen, nach Ablauf seiner derzeitigen Amtszeit im Jahr 2024 erneut für das Präsidentenamt zu kandidieren. Dies wäre andernfalls aufgrund der verfassungsmäßigen Amtszeitbeschränkungen nicht mehr rechtens gewesen. Obwohl die Änderungen durch eine einfache Parlamentsabstimmung hätten angenommen werden können, beschloss Putin, die Verfassungsreform zu einem großen Spektakel zu machen. Durch das Referendum wollte er seine Popularität demonstrieren und die Loyalität der Staatsverwaltung auf den Prüfstand stellen. Ursprünglich sollte das Referendum im April 2020 abgehalten werden, doch aufgrund der schnellen Verbreitung des Virus war Putin gezwungen, das Referendum auf den 25. Juni zu verschieben.

Allerdings hing auch dieser neue Termin davon ab, wie sich die Pandemie entwickeln würde. Fiele das Referendum auf einen Zeitraum, in dem sich das Virus rasant verbreitete, so würde das Plebiszit die Legitimität der Verfassungsänderungen wohl kaum steigern und könnte sogar zu öffentlicher Kritik am Kreml führen, der die Gesundheit der Bevölkerung vernachlässigte. Das hohe Risiko, sich bei einer öffentlichen Massenveranstaltung mit dem Virus anzustecken, würde die Wahlbeteiligung ebenfalls stark verringern. Somit wurde der Rückgang der Ansteckungsrate oder zumindest die Überzeugung der Bevölkerung, dass die Pandemie unter Kontrolle sei, zur wichtigsten Aufgabe des Regimes. Gleichzeitig verzichtete Putin darauf, persönlich unpopuläre Maßnahmen (wie Ausgangssperren) zu ergreifen; stattdessen übertrug er den regionalen Gouverneuren die Befugnis, Pandemiemaßnahmen umzusetzen, die damit de facto für die Eindämmung des Virus verantwortlich gemacht wurden. Diese Konstellation legte die Erwartung nahe, dass die Gouverneure auf die Herausforderung mit systematischer Datenmanipulation reagieren würden. Wir vermuteten, dass das Ausmaß der Manipulation von mehreren Bedingungen abhing: 1) der Bedeutung der Verschleierung der COVID-19-Daten für das föderale Zentrum; 2) der individuellen politischen Lage der Gouverneure, insbesondere der zeitliche Abstand zu den nächsten Wahlen, die mit dem Risiko verbunden waren, dass der Präsident den amtierenden Gouverneur nicht mehr für die Wiederwahl kandidieren ließ (unter Verwendung des sogenannten »kommunalen Filters«); 3) institutionellen Faktoren wie der Pressefreiheit (dieser Faktor wurde in einem Arbeitspapier (Kofanov et al., 2020) untersucht, die Ergebnisse flossen aber nicht in die begutachtete Veröffentlichung ein).

Im Nachhinein können wir die Manipulation der COVID-19-Sterblichkeit zuverlässig messen: Die Daten über die gesamte Übersterblichkeit (excess mortality; diese wurde zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht) werden weithin als ein wesentlich weniger verzerrtes Maß angesehen, das unentdeckte und nicht gemeldete COVID-19-Fälle berücksichtigt (Beaney et al., 2020; Vestergaard und Molbak, 2020). Zunächst berechneten wir die zusätzlichen Todesfälle in jedem einzelnen Monat pro Region, d. h. jene Anzahl von zusätzlichen Todesfällen, die über der erwarteten Zahl der Todesfälle lag, die ohne die Pandemie eingetreten wären. Diese Zahl berechneten wir anhand der Daten aus den drei Jahren vor der Pandemie. Zweitens teilten wir die zusätzlichen Todesfälle durch die erwartete Zahl der Todesfälle in der jeweiligen Region und im jeweiligen Monat und erhielten so die Rate für die Übersterblichkeit.

Um die Manipulation der COVID-19-Sterblichkeit zu beurteilen, verglichen wir die Übersterblichkeit mit den offiziell gemeldeten Daten, die auf stopcoronavirus.rf veröffentlicht wurden. Hierbei handelt es sich um eine von der Regierung betriebene Internetseite, die in den ersten Wochen der Pandemie eingerichtet wurde, um Echtzeitdaten zu Infektionsraten und Sterblichkeitsraten zu melden. Die Webseite wurde im staatlichen Fernsehen und im Internet sowie auch auf den führenden sozialen Medien umfassend beworben. Wichtig ist, dass stopcoronavirus.rf die einzige legitime Quelle für statistische Informationen über die Coronavirus-Pandemie in Russland war, wie die Behörden erklärten: Alle anderen Schätzungen wurden als »Falschinformationen von öffentlichem Interesse, die unter dem Deckmantel von Fake News verbreitet werden« eingestuft und hätten nach einer jüngst verabschiedeten Änderung des Gesetzes über Verleumdung mit einer Strafe von bis zu fünf Jahren Haft oder einer hohen Geldstrafe (bis zu 300.000 Rubel, das waren ungefähr $4.200) geahndet werden können.

Vor diesem Hintergrund lassen sich fünf wichtige Lektionen aus der Datenmanipulation im ersten Jahr der Pandemie ziehen, die auch für Russland in Kriegszeiten relevant sind.

Lektion 1. Anreize, die auf föderaler Ebene in Moskau gesetzt werden, begünstigen Datenmanipulationen

Es gibt zwei Maße für die COVID-19-Sterblichkeit: ein offizielles und ein zuverlässigeres. Die Differenz zwischen den beiden Maßen visualisieren wir für jede russische Region für die Monate vor dem Referendum (April–Juni 2020) in Grafik 1. Mit Ausnahme der vier Regionen, in denen die Pandemie aufgrund ihrer Abgeschiedenheit noch nicht ausgebrochen war (Gebiet Altaj; Republik Burjatien; die Oblaste Tscheljabinsk und Kirow) beobachten wir in vielen Regionen eine zu niedrige Erfassung der durch das Coronavirus verursachten Todesfälle. Das bedeutet, dass die staatlichen Anreize, ein »rosiges« Bild vom Sieg über die Pandemie zu zeichnen, tatsächlich zu Datenmanipulation führten.

Lektion 2. Die Dunkelziffer ist höher, je unsicherer die regionalen Gouverneure hinsichtlich ihrer politischen Zukunft sind

Obwohl die Manipulationen weit verbreitet waren, gibt es dennoch erhebliche Unterschiede zwischen den Regionen. Wie lassen sich diese Unterschiede erklären? Unsere Kernhypothese war, dass Regionen, in denen Gouverneure glauben, dass sie größeren politischen Risiken ausgesetzt sind und daher ihr Amt verlieren könnten, eher bereit sind, der Regierung ein rosigeres Bild zu malen und daher die COVID-19-Sterblichkeit zu niedrig angeben. Als Indikator für das politische Risiko verwenden wir den zeitlichen Abstand zu den Gouverneurswahlen, dessen Erfolg fast ausschließlich von der Unterstützung durch das föderale Zentrum und insbesondere den Präsidenten abhängt (da dieser die Möglichkeit hat, jedem Gouverneur die erneute Kandidatur zu untersagen). Die Gouverneurswahlen sind keine demokratischen Wahlen, bei denen die Bevölkerung ihren bevorzugten Kandidaten wählt. Ein vom föderalen Zentrum unterstützter Kandidat hat kaum Konkurrenz (da Oppositionskandidaten von der Teilnahme an den Wahlen ausgeschlossen sind) und schafft sich eine Mehrheit der Stimmen mit administrativen Mitteln (Zwangsmobilisierung von staatlichen Angestellten etwa in staatlichen Unternehmen, von Gefängnisinsassen, Polizisten usw.) und manchmal auch mit offenem Wahlbetrug. Unsere empirische Identifizierungsstrategie stützt sich auf die asynchronen Wahlzyklen in den einzelnen Regionen, die alle 85 Regionen (die 83 international anerkannten russischen Regionen und die besetzten ukrainischen Gebiete Krim und Sewastopol) quasi-zufällig in fast gleiche Gruppen einteilen: 43 Regionen mit bevorstehenden Wahlen in den folgenden zwei Jahren und 42 Regionen, in denen kein politisches Risiko durch eine anstehende Wahl besteht, weil erst kürzlich Wahlen abgehalten worden waren. Verschiedene Tests ergaben, dass beide Gruppen von Regionen in ihren Merkmalen vor der COVID-19-Pandemie fast identisch waren und, was besonders wichtig ist, sich auch in der Übersterblichkeitsrate während der Pandemie nicht merklich unterschieden. Was sich jedoch deutlich unterscheidet sind die offiziellen Zahlen der COVID-19-Sterblichkeit, die vor dem Referendum gemeldet wurden. Grafik 2 zeigt die Dynamik beider Sterblichkeitsindikatoren, gruppiert nach Regionen mit und ohne bevorstehende Wahlen in den ersten Monaten der Pandemie; das Datum des Referendums ist durch die vertikale gestrichelte Linie markiert. Unsere weiteren Tests bestätigen die Verlässlichkeit dieses Ergebnisses. Interessanterweise fanden wir nach dem Referendum im Juni keine eindeutigen Hinweise auf einen signifikanten Zusammenhang zwischen politischem Risiko und Datenmanipulationen. Wir kamen so zu dem Schluss, dass die Manipulation von COVID-19-Daten auf regionale Politiker zurückzuführen ist, die auf die vom föderalen Zentrum gesetzten (informellen) Anreize reagieren. Sie zeigten sich also bemüht, Putins Plan, das Referendum in einem COVID-freien Zeitraum abzuhalten, zu erfüllen. Andererseits beeinflussen die heterogenen Anreize innerhalb der bürokratischen Struktur (also die unterschiedliche Taktung der Wahlen) das Ausmaß der Manipulationen.

la_figure.jpg

Interessanterweise steht dieses Ergebnis in gewissem Widerspruch zu meiner jüngsten Studie (zusammen mit Parrendah Adwoa Kpeli und Günther G. Schulze: Kpeil et al., 2024), in der wir die zu niedrig ausfallende Erfassung der Sterbefälle auf der Grundlage derselben Methodik im ersten Pandemiejahr in den Ländern untersuchten, in denen in den beiden darauffolgenden Jahren Präsidentschaftswahlen stattfanden. Die Ergebnisse verglichen wir mit Ländern ohne bevorstehende Wahlen und fanden heraus, dass diese, im Gegensatz zu unseren Erwartungen auf der Grundlage des russischen Falles, mit einer geringeren (nicht höheren) Erfassung verbunden sind, wobei dieser Effekt in den Daten jedoch nur von demokratischen Ländern verursacht wird. Daher können freie und faire Wahlen als ein zuverlässiger Mechanismus gegen Datenmanipulationen angesehen werden, selbst in Zeiten einer globalen Pandemie.

Lektion 3. Pressefreiheit ist wichtig, aber Anreize aus dem föderalen Zentrum übertrumpfen sie

In einer früheren Version der Studie untersuchten wir auch die Auswirkungen der Pressefreiheit gemessen durch eine entsprechende Unterkomponente eines anerkannten Index der regionalen Demokratie von Petrov und Titkov (2013). Hier schien sich eine entgegengesetzte Dynamik in Bezug auf die föderalen Anreize zur Manipulation von Daten zu zeigen: Wir fanden heraus, dass Pressefreiheit vor dem Referendum keine Rolle spielte, danach jedoch stark mit weniger Datenmanipulation korrelierte. Die Presse kann somit selbst in einem autokratischen Regime die Machthabenden davor abzuschrecken, sich ihrer Verantwortung zu entziehen.

la_figure-1.jpg

Lektion 4. Manipulation oder Zensur?

Es gibt noch einen weiteren Indikator dafür, wie die russischen Regionalbehörden die Öffentlichkeit über die tatsächliche COVID-19-Sterblichkeit falsch informierten. Noch vor dem Referendum im Juni forderte Mediazona, ein unabhängiges russisches Internetmedium, alle Regionalverwaltungen auf, die Gesamtsterblichkeit für den Monat Mai anzugeben. Der Grund für diese Recherche war die wachsende Besorgnis über Datenmanipulationen und die mögliche Gesundheitsgefährdung durch das Referendum, welche in den regierungskritischen Teilen der russischen Gesellschaft diskutiert wurde. Einige Regionen kamen der Aufforderung nach; andere lehnten es ab, zusätzliche Daten zur Verfügung zu stellen oder ignorierten die Aufforderung gänzlich. Am 30. Juni, also einen Tag vor dem Ende des Referendums, veröffentlichte Mediazona die Ergebnisse der Datenabfrage. Wir untersuchten die Wahrscheinlichkeit, dass Regionalbehörden die Presseanfrage beantworteten und stellten fest, dass Regionen mit einem geringeren Abstand zu den nächsten Wahlen mit höherer Wahrscheinlichkeit auf die Anfrage von Mediazona reagierten. Vermutlich wollten sie den Verdacht ausräumen, dass sie Daten verheimlichen. Diese Regionen stellten jedoch Zahlen zur Verfügung, die deutlich niedriger waren als die offiziellen Angaben, die später vom russischen Statistikamt veröffentlicht wurden.

Unsere Ergebnisse deuten auf ein komplexes Spiel der Informationsmanipulation hin, auf das sich die russischen Gouverneure vor dem Referendum einlassen mussten: Da eine Nichtbeantwortung der Presseanfrage das Vertrauen in die offiziellen COVID-19-Statistiken hätte gefährden können, antworteten eher die Regionen, in denen Wahlen bevorstanden. Andernfalls hätten völlige Intransparenz und die Verweigerung jeglicher Information höchstwahrscheinlich zu einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung geführt. Gleichzeitig kostete es die regionalen Beamten wenig Mühe, manipulierte Informationen an die Medien weiterzugeben. Somit wurde in allem Regionen, in denen die Wahlen kurz bevorstanden, die Gesamtsterblichkeit viel zu niedrig angegeben. Sind also Behörden in russischen Regionen in politischer Bedrängnis, so tendieren sie eher dazu, die Daten zu manipulieren als sie komplett zu zensieren und nicht zu veröffentlichen.

Lektion 5. Manipulation ist teilweise erkennbar

Ist Datenmanipulation für die russische Bevölkerung erkennbar? Wir untersuchten eine Meinungsumfrage des Lewada-Zentrums ([2]), die im Juli nach dem Referendum durchgeführt wurde, als schon einige unabhängige Nachrichtensender über die Manipulation der COVID-19-Statistiken berichtet hatten. Die Medien wiesen darauf hin, dass die neu veröffentlichten Sterblichkeitsdaten viel höher waren als die offiziellen Todesfälle durch das Virus. Wir fanden heraus, dass Befragte in Regionen mit einer höheren Dunkelziffer bei der COVID-19-Sterblichkeit eher dazu neigten, den offiziellen Statistiken zu misstrauen, wobei dieser Zusammenhang nur für Befragte mit höherem Bildungsstatus gilt. Nur Menschen mit höherem Bildungsgrad gelingt es also, der Datenmanipulationen auf die Spur zu kommen.

Schlussfolgerungen für Datenmanipulation in Russland in Kriegszeiten

Die größte Gemeinsamkeit zwischen der Pandemie und dem Krieg ist das hohe Maß an Unsicherheit auf allen bürokratischen Ebenen. Im Krieg führen einschneidende Ereignisse wie die Teilmobilmachung, internationale Sanktionen oder der Aufstand der Wagner-Gruppe zu großer Verunsicherung. Wie wir aus unserer COVID-19-Studie gelernt haben, neigt die russische Bürokratie dazu, mit Datenmanipulationen zu reagieren, um das Image von Kompetenz und Effizienz zu pflegen. Diese Strategie kann (zumindest vorübergehend) erfolgreichsversprechend sein. Das zeigt zum Beispiel die Unfähigkeit (oder der fehlende Wille) des Internationalen Währungsfonds, die Richtigkeit der russischen staatlichen Statistik in seinen Wachstumsprognosen zu hinterfragen und, wo nötig, anzupassen ([3]). Das vielleicht extremste Beispiel für Datenmanipulation durch die russischen Statistikbehörden war die Änderung der Formel für die Armutsgrenze, die zu einem Rekordrückgang des Anteils der als arm eingestuften Personen im Land führte. Die Differenz betrug etwa 3 Millionen Menschen oder 2,2 Prozent des nationalen Armutsanteils. Diese Entwicklung bestätigt somit die allgemeine Vorhersage, dass die Datenmanipulation in Krisenzeiten systembedingt ist.

Auch die zweite Lektion aus unserer Covid-Forschung kann getestet werden, obgleich das deutlich schwieriger ist. Manipulieren Gouverneure mehr, wenn Wahlen direkt bevorstehen? Ich folge dem Vorschlag von Wallace (2016), die Stromerzeugung als zuverlässigeren Maßstab für die Wirtschaftstätigkeit zu verwenden anstelle offizieller Statistiken des Bruttoregionalprodukts (BRP). Da der Anstieg der Stromerzeugung normalerweise einen Anstieg des Inlandsprodukts vorhersagt, kann eine positive Korrelation zwischen diesen beiden Parametern erwartet werden. Wenn jedoch einige Regionen versuchen, die Daten zu manipulieren, würde die Elastizität (das heißt eine positive Korrelation) geringer ausfallen. Dies könnte bei den Regionen mit kurz bevorstehenden Gouverneurswahlen der Fall sein, da sie zu Datenmanipulationen verleiten könnten. In diesem Fall sollte eine geringere Korrelation zwischen den Veränderungen der Bruttowertschöpfung und der Stromerzeugung im Vergleich zum Vorjahr zu beobachten sein.

In Grafik 3 sind die für das erste Kriegsjahr (2022) verfügbaren offiziellen Daten des russischen föderalen Statistikamtes Rosstat dargestellt. In Panel A stelle ich fest, dass die Elastizitäten zwischen den beiden Parametern in Regionen, in denen Wahlen früher anstehen, tatsächlich anders sind als in den übrigen Regionen. Die Veränderung der Stromerzeugung sagt das Wirtschaftswachstum in den übrigen Regionen stark voraus (positive signifikante Korrelation), nicht aber in den Regionen mit bevorstehenden Wahlen, wo die Korrelation nahe bei null liegt. Interessanterweise ist dies für ein normales Jahr nicht der Fall: Wenn wir die Daten für das Jahr 2019, das vor der Pandemie liegt, betrachten, sind die Veränderungen des BIP und der Stromerzeugung fast identisch positiv korreliert. Der vielleicht drastischste Unterschied bei den Elastizitäten ist beim BIP des verarbeitenden Gewerbes (als Bestandteil des BIP) in Panel C zu beobachten, wo die Region mit bevorstehenden Wahlen sogar eine negative Korrelation mit der Stromerzeugung aufweist, was indirekt auf gewisse Datenmanipulationen hinweist. Dies steht im Einklang mit dem Fakt, dass der Staat häufig mehr Wert auf die Dynamik im verarbeitenden Gewerbe als Indikator für den regionalen Wirtschaftserfolg legt. Dem Energiesektor wird in den offiziellen Berichten jedoch weniger Aufmerksamkeit geschenkt, und hier finde ich erwartungsgemäß keine Unterschiede in den Elastizitäten (Panel D). Da die Regionen mit und ohne anstehende Wahlen in allen anderen Aspekten (hierzu gehören Merkmale wie Institutionen, Bevölkerung und Pro-Kopf-Einkommen) sehr ähnlich sind, könnte dieser Unterschied als indirekter Beweis für eine Datenmanipulation auf regionaler Ebene gedeutet werden. Doch es sind weitere Analysen notwendig, um diese Zusammenhänge schlüssig nachweisen zu können.

Weniger überraschend ist die dritte Erkenntnis, dass die Medien in Russland nicht in der Lage sind, den Behörden, die die Daten manipulieren, Rechenschaft abzuverlangen.

Die auf der vierten Lektion basierenden Vorhersagen darüber, ob die russischen Behörden eher Daten zensieren oder manipulieren, sollten vor allem unter der Prämisse betrachtet werden, dass beide Strategien politisch vorteilhaft sein können. Zensur ist angemessener, wenn die Dinge gut laufen (wie z. B. in Bezug auf die russische Wirtschaft im ersten Kriegsjahr), während in schlechteren Zeiten die Veröffentlichung von teilweise gefälschten Daten ein probates Mittel sein kann, die russische Bevölkerung sowie ausländische Journalist:innen, NROs und die interessierte Öffentlichkeit mit gezielter Desinformation zu täuschen.

la_figure-2.jpg

Abschließend legt die fünfte Lektion nahe, dass der russischen Bevölkerung die Manipulation staatlicher Statistiken nicht verborgen bleiben muss. Ein gutes Beispiel dafür ist die bisher noch unveröffentlichte Studie von Andrei Tkachenko und Marina Vyrskaia ([4]) über die öffentliche Meinung in Russland zum Krieg. Sie stellten fest, dass die Unterstützung des Krieges durch die Bevölkerung stark negativ mit den regionalen Zahlen der Kriegsopfer korreliert. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Bevölkerung sich der Zahl der kriegsbedingten Todesopfer in ihrer Region bewusst ist, obwohl die Regierung diese Informationen akribisch zensiert.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die russischen Behörden auch weiterhin mit Hilfe offizieller Statistiken manipulierte Daten verbreiten werden. Das Ausmaß und die genauen Kategorien dieser Fälschungen können jedoch je nach den Bedürfnissen des Regimes erheblich variieren. Dies sollte berücksichtigt werden, wenn offizielle russische Daten für Analysen verwendet werden.

.

Verweise

[1] Frei zugänglich unter: https://doi.org/10.1017/S0007123422000527

[2] https://www.levada.ru/2020/07/31/koronavirus-strah-i-zanyatost/

[3] https://fortune.com/europe/2023/03/06/imf-naively-parroted-putin-fake-statisticsand-botched-economic-forecast-russia-ukraine/

[4] https://drive.google.com/file/d/1IrCn1elco8oKUMgMHWhpvQmFb5jcVkRy/view

Lesetipps / Bibliographie

  • Beaney, T., Clarke, J.M., Jain, V., Golestaneh, A.K., Lyons, G., Salman, D., & Majeed, A. (2020). Excess mortality: the gold standard in measuring the impact of COVID-19 worldwide? Journal of the Royal Society of Medicine, 113(9), 329–334.
  • Briviba, A., Frey, B., Moser, L., & Bieri, S. (2024). Governments manipulate official Statistics: Institutions matter. European Journal of Political Economy, 82, 102523.
  • Carter, E. B., & Carter, B. L. (2023). Propaganda in autocracies: institutions, information, and the politics of belief. Cambridge University Press.
  • Guriev, S., and Treisman, D. (2019). Informational autocrats. Journal of economic perspectives, 33(4), 100–127.
  • Kpeli, P. A., Schulze, G. G., & Zakharov, N. (2024). Elections and (mis) reporting of COVID-19 mortality (No. 48). Discussion Paper Series.
  • Kofanov, D., Kozlov, V., Libman, A., & Zakharov, N. (2020) Encouraged to Cheat? Federal Incentives, Career Concerns, and Local Freedom of Press as Determinants of Under-Reporting of COVID-19 Mortality at the Sub-National Level (November 1). Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=3726690
  • Kofanov, D., Kozlov, V., Libman, A., & Zakharov, N. (2023). Encouraged to cheat? Federal incentives and career concerns at the sub-national level as determinants of under-reporting of COVID-19 mortality in Russia. British Journal of Political Science, 53(3), 835-860.
  • Martinez, L. R. (2022). How much should we trust the dictator’s GDP growth estimates?. Journal of Political Economy, 130(10), 2731–2769.
  • Petrov, N., & Titkov, A. (2013). Regional democracy ratings of the Carnegie Moscow Center: Ten years on. Moscow, Russia: Moscow Carnegie Center. (in Russian.)
  • Rundlett, A., & Svolik, M. W. (2016). Deliver the vote! Micromotives and macrobehavior in electoral fraud. American Political Science Review, 110(1), 180–197.
  • Vestergaard, L.S., & Mølbak, K. (2020). Timely monitoring of total mortality associated with COVID-19: informing public health and the public. Eurosurveillance, 25(34), 2001591.
  • Wallace, J. L. (2016). Juking the stats? Authoritarian information problems in China. British journal of political science, 46(1), 11–29.

Zum Weiterlesen

Analyse

It’s fake! Wie der Kreml durch Desinformationsvorwürfe die Diskreditierung von Informationen in ein Propagandainstrument verwandelt

Von Maxim Alyukov, Margarita Zavadskaya
Während des Einmarsches in die Ukraine hat das Putin-Regime Desinformationsvorwürfe in ein neues Propagandainstrument verwandelt, indem es mit Hilfe des Etiketts »Fake« die Glaubwürdigkeit jedweder für das Regime problematischer Information untergräbt. Bei der Untersuchung der Auswirkungen dieser Desinformationsvorwürfe stützen wir uns auf Ergebnisse eines Online-Experiments, das in Russland durchgeführt wurde. Wir zeigen auf, dass Desinformationsvorwürfe es einem Autokraten ermöglichen, Narrative, die das Regime herausfordern, im Voraus zu diskreditieren. Die Ergebnisse verdeutlichen, wie autoritäre Propaganda sich in den neuen, gesättigten Medienräumen entwickelt und faktenbasierte Ansätze zur Propagandabekämpfung heute in Frage stellt.
Zum Artikel
Analyse

Narrative russischer staatlicher Medien über Corona-Impfstoffe im Westen

Von Daria Zakharova
Der Beitrag analysiert die Berichterstattung in russischen Medien über die Corona-Impfungen im Westen. Neben allgemeinen Merkmalen der Berichterstattung über die Impfkampagnen im Westen werden auch die wichtigsten Narrative untersucht, die dabei in russischen regierungsfreundlichen Medien eingesetzt werden.
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS