Die Open Data-Lage in Russland während des Krieges: zwischen Drohnenangriffen und bürokratischen Grabenkämpfen

Von Cedar-Kollektiv

Zusammenfassung
Seit Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine im Februar 2022 haben die russischen Behörden regelmäßig ihre Daten dem öffentlichen Zugriff entzogen. Unseren Berechnungen zufolge sind im Lauf von zweieinhalb Jahren fast 600 Datensätze aus den »Open Data«-Segmenten von offiziellen Internetauftritten föderaler Behörden entfernt worden. Diese Zahl umfasst nicht die diversen Register, statistischen Berichtsformulare, Berichtstexte mit makroökonomischen, finanziellen und kriminalstatistischen Kennziffern sowie über soziale Sicherungsleistungen, die ebenfalls gelöscht worden sind, mitunter rückwirkend für sämtliche bisher verfügbaren Jahre. Es lassen sich drei Hauptgruppen von Kennziffern ausmachen, und zwar aufgrund des offiziell genannten oder des vermutlichen Beweggrundes für die Sperrung: 1) Wirtschafts- und Finanzdaten, die eine Gefahr darstellen, weil sie Einfallstore für potenzielle Sanktionen aufzeigen; 2) Daten zum Krieg, die von Journalist:innen genutzt werden können; 3) potenziell heikle Daten zu sozialen und wirtschaftlichen Problemen im Land. Dieses Zurückfahren von Open-Data-Initiativen hat allerdings bislang noch nicht zu einer vollkommenen Geheimhaltung der Daten geführt. Ungeachtet der Militärzensur blieb der Zugang zu vielen Datengattungen erhalten. Das Zurückhalten von Daten erfolgt langsam, aber stetig. Die etablierte Infrastruktur für offene Daten besteht weiter, vor allem aufgrund der großen Trägheit des bürokratischen Systems und des Bestrebens von Bürokrat:innen, ihr Revier zu verteidigen.

Offene Daten vs. Geheimhaltung

Im Sommer 2023, nach den Drohnenangriffen auf Moskau im Mai des Jahres, unternahmen die föderalen Behörden in Russland eine Inventur der öffentlichen Daten. Unseren Quellen in der Regierung zufolge hat das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, das bei dieser Aufgabe federführend war, das Ziel ausgerufen, jeden Datensatz einer der folgenden drei Kategorien zuzuordnen:

  1. Kritische Informationen, die eine sofortige Entfernung von der Internetseite erfordern (einige Dutzend Datensätze);
  2. Sensible Daten, die eine zeitweilige Entfernung von der Internetseite erfordern, bis sie in einen geschlossenen Bereich verschoben werden können, der dann über das Portal »Gosuslugi« (»Staatliche Dienstleistungen«) erreichbar ist (rund 2 Prozent der Datensätze);
  3. Daten, die kein spezielles Vorgehen erfordern (über 97 Prozent der Datensätze).

Die Datensätze, die einer sofortigen Verschiebung unterlagen, enthielten Informationen zu Infrastrukturstandorten, etwa Verzeichnisse von Wärmekraftwerken oder Stromleitungen sowie Statistiken zur Öl-, Gas- und Kohleproduktion. Die sensiblen Datensätze umfassten auch andere Geodaten (etwa topografische Karten oder Informationen zur Straßeninfrastruktur), Verzeichnisse von Infrastrukturobjekten und Lizenzregister (z. B. zum Umschlag von Alkoholprodukten oder zur Abfallwirtschaft). Das sind Informationen, die – russischen Offiziellen zufolge – zur Planung von militärischen Angriffen oder zur Verhängung von Sanktionen eingesetzt werden können.

Zwei Wochen nach den Drohnenangriffen auf Moskau wurde von der Internetseite von »Rosgidromet«, der für die Beobachtung und Voraussage in den Bereichen Wetter, Klima und Umweltbedingungen zuständigen Behörde, ein Datensatz zu Eigenschaften der Atmosphäre entfernt, die theoretisch zur Entwicklung von Drohnen genutzt werden könnten. Später entfernten Behörden Verzeichnisse und Register von Objekten, die mutmaßlich angegriffen werden können: Kraftwerke, Wärmekraftwerke, Stromleitungen und ähnliche Anlagen. Insgesamt haben 36 der 55 föderalen Behörden, die derartige Daten veröffentlicht hatten, die Adressen ihrer Einrichtungen und territorialen Untergliederungen versteckt. Hierzu gehören nicht nur Sicherheits- und Infrastrukturbehörden, sondern beispielsweise auch das Bildungsministerium und »Rosalkogoltabakkontrol«, die Aufsichtsbehörde für die Produktion, Verbreitung und den Verkauf von alkoholischen Getränken und Tabakerzeugnissen.

Das ist nur eines von vielen Beispielen für die zunehmende »Verschlossenheit« des russischen Staates. Seit Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine im Februar 2022 haben russische Behörden regelmäßig Daten dem öffentlichen Zugriff entzogen. Unseren Berechnungen zufolge sind im Lauf von zweieinhalb Jahren fast 600 Datensätze aus den »Open Data«-Segmenten von offiziellen Internetauftritten föderaler Behörden entfernt worden. Weitere 360 Datensätze föderaler Behörden (Verteidigungsministerium, Föderaler Strafvollzugsdienst, Justizministerium, Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, Sportministerium) verschwanden zusammen mit dem Open Data-Portal, da die Behörden diese Dateien dann nicht erneut auf ihren Internetseiten veröffentlichten.

Die Anzahl der Datensätze kann nicht als universeller Maßstab für die Offenheit von Daten betrachtet werden, da sie unterschiedliche Datenmengen enthalten. Einige Datensätze enthalten nur einen einzigen Wert für ein bestimmtes Jahr, während andere einen Zeitraum von 10 bis 20 Jahren umfassen. Ein Sechstel der entfernten Dateien (101 Datensätze) enthält nur Verwaltungsdaten (Adressen und Telefonnummern von Einrichtungen, Listen öffentlicher Veranstaltungen oder Verzeichnisse von Informationssystemen). Für die Datensätze, die russische Behörden als »Open Data« veröffentlichen, sind gewöhnlich eine geringe Informativität und Relevanz kennzeichnend. Ein Drittel der 1.800 verbliebenen Datensätze enthalten Verwaltungsdaten, und ein Drittel von ihnen sind seit mindestens zwei Jahren nicht mehr aktualisiert worden.

Andererseits wurden Daten, die als »offen« (maschinell lesbar) formatiert wurden – also verschiedene Register, statistische Berichtsformulare, Berichtstexte mit makroökonomischen, Finanz-, Kriminalitäts- und Sozialhilfeleistungsdaten – ebenfalls gelöscht (mitunter rückwirkend für sämtliche vorherigen Jahre) oder sie wurden nicht mehr aktualisiert. Der genaue Umfang der versteckten Daten ist nur schwer festzustellen, weil die Veröffentlichung statistischer und offener Daten recht chaotisch erfolgt: Dateien unterschiedlicher Formate werden in unterschiedlichen Sparten der Internetseiten platziert, manchmal in Form von interaktiven Webseitentools.

Open Data soll Legitimität schaffen

Der Umstand, dass wir jetzt über die zunehmende Geheimhaltung von Daten sprechen, verweist auf das recht hohe Niveau der Offenheit in früheren Jahren. Im Laufe der letzten 30 Jahre hat der russische Staat in Bezug auf Datenoffenheit drei Phasen durchschritten (siehe[1]):

  • 1991–2012: Aufbau der gesetzlichen Grundlage zur Umsetzung des Konzepts von Offenheit und Open Data, erste Projekte zu Offenlegung von Daten (»Gosudarstwennyj sakas« – staatliches Beschaffungswesen) und Start der Initiative »Offene Regierung«;
  • 2012–2018: Streben nach maximaler Offenheit, »Offene Regierung« und andere Institutionen, die im Bereich Open Data tätig sind;
  • 2018 bis heute: Aufgabe des bisherigen Konzepts, allmählicher Übergang zu einem paternalistischen Modell der Beziehungen zwischen Staatsmacht und Bürger:innen, schleichende Rückführung von Initiativen für Open Data.

Warum bewegte sich der Staat in Richtung Offenheit? Die einschlägige Literatur bietet mögliche Antworten in Bezug auf interne und externe Legitimität sowie den Nutzen für die Regierungsbehörden.

Zum einen war die russische Regierung von ihrem Streben nach internationaler Legitimität und der Integration in supranationale Institutionen beeinflusst. So bekundete Russland als Mitglied der G8 seinen Willen, 2012 der »Open Government Partnership« (OGP) beizutreten, einer multilateralen Initiative, die von nationalen und subnationalen Regierungen Verpflichtungen einfordert, eine offene Regierungsführung zu fördern. 2013 prüfte die OECD in Zusammenarbeit mit der staatlichen russischen Statistikbehörde »Rosstat« die Qualität der offiziellen Statistiken in Russland[2], deren Übereinstimmung mit internationalen Standards und insbesondere das System der Veröffentlichung statistischer Informationen.

Zweitens erforderte der Wunsch, ausländische Investitionen anzulocken, die Umsetzung internationaler Transparenzstandards. Es kommt vor, dass Autokratien Informationen (insbesondere solche zur Wirtschaftsleistung) als Signal an die internationale Gemeinschaft und an potenzielle Investor:innen offenlegen. Seraphine Maerz hat konstatiert, dass wirtschaftliche Globalisierung und internationaler Druck selbst Autokratien, die keinen politischen Wettbewerb aufweisen, dazu bringen, einige Informationen zu veröffentlichen und Faktoren zur Förderung von Transparenz zu stärken, beispielsweise die elektronische Verwaltung (siehe: Maerz, 2016). Bei einem Vergleich postsowjetischer Staaten, die Open Government-Initiativen verabschiedet hatten, kommt Maerz zu dem Schluss, dass der Grad an Transparenz in Russland höher ist als in anderen Ländern. Die verbesserte Qualität der Regierungsführung korreliert mit den ausländischen Direktinvestitionen (ADI) in Russland ([3]). Somit wurde Offenheit zu einem der Mechanismen, die die Sicherheit von Investitionen gewährleisten sollen.

Drittens war die Legitimität im Innern für die russische Regierung ein weiterer Grund, Informationen offenzulegen und öffentlich verfügbar zu machen. Informationsflüsse sind für gute Regierungsführung wichtig (siehe: Islam, 2006). Die Regierung veröffentlicht nicht nur Datensätze, sondern auch detaillierte Informationen über die Regierung selbst, deren Zuständigkeiten, Gesetzestexte und Dokumente. Maerz zeigt, dass autoritäre Regime mit politischem Wettbewerb e-Government und Open Data-Initiativen hauptsächlich dazu einsetzen, die Legitimität im Innern zu erhöhen. Sämtliche Informationen und etablierten Prozesse einer elektronischen Verwaltung erhöhen die Qualität der bürokratischen Verfahren und damit die Zustimmung zur Regierung. Quintin Beazer und Ora John Reuter haben Daten zur wirtschaftlichen Leistung analysiert und aufgezeigt, dass die Kreml-Partei »Einiges Russland« in Kommunen, in denen die Bürgermeister ernannt wurden, von den Wähler:innen für eine schlechte Entwicklung der Wirtschaft abgestraft wurde, gemessen als der Anteil an den Gesamtstimmen, die »Einiges Russland« bei den entsprechenden regionalen Parlamentswahlen in dieser Kommunen erhalten hat (siehe: Beazer / Reuter, 2019). Das legt nahe, dass sich der Staat um die Leistungen in diesem Bereich kümmern sollte. Und es erklärt, warum er daran interessiert ist, Daten zu sammeln, die als Grundlage für die Regierungsführung und für seine Entscheidungen dienen.

Viertens erfordert ein technokratisches autoritäres Regierungsmodell eine intensive Digitalisierung und externe Expertise, für die ebenfalls Daten gebraucht werden. Der Theorie über Informationsautokratien zufolge (siehe: Guriev/Treisman, 2020) verzichten moderne Autokratien auf den Einsatz von Ideologien oder massenhaften Repressionen und konzentrieren sich stattdessen auf eine vollständige Kontrolle im Informationsbereich. Dabei soll die Wahrnehmung erzeugt werden, dass das Regime die Wirtschaft kompetent managen kann. Allerdings wird es dann schwierig, in Bezug auf Wirtschaftsdaten zu lügen. Das ist der Grund, warum einige Autokratien tatsächlich daran arbeiten, die Qualität der Verwaltung und die Kapazitäten des Staates zu verbessern, was mit einem gewissen Grad an Verantwortlichkeit und einem freien Informationsfluss einhergeht. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass es landesweit nicht allzu viele Endnutzer:innen der »Rohdaten« gibt«, bedeutet das für das Regime keine große Gefahr, solange eben der Zugang zu den Medien von der Regierung kontrolliert wird.

Gleichzeitig wandelt sich unter Regimen, in denen auf keiner der Ebenen des Staates Wahlen eine primäre Rolle spielen, wenn Politiker:innen bestimmt werden, der Charakter der Verantwortlichkeit. Die sogenannte long route accountability (siehe: Dewachter et al., 2018) geht von einer größeren Zentralisierung der Macht und einer strengeren bürokratischen Aufsicht aus. In diesem Modell sind die Bürokrat:innen nicht direkt gegenüber den Bürger:innen verantwortlich. Vielmehr äußern Bürger:innen ihren Unmut dann gegenüber hochrangigen Politiker:innen, und diese wirken wiederum auf Bürokrat:innen der unteren Ebenen ein. Das erfolgt für gewöhnlich über eine Bestrafung, die von formalen Abmahnungen bis hin zur Beschneidung und den Verlust von Ressourcen reicht.

Somit führt ein hoher Grad an Digitalisierung und Zentralisierung beim Aufbau des staatlichen Informationssystems dazu, dass einfach als Nebenprodukt der Verwaltungsprozesse viele Details verfügbar werden: Die Daten werden zu Artefakten eines Modells des »digitalen Paternalismus«.

So besteht zum Beispiel in Russland ein recht hohes Niveau an Offenheit in Bezug auf juristische Daten. Das Informationssystem »Justiz«, das 2006 gestartet wurde, wird von Gerichten im ganzen Land bei deren täglicher Arbeit genutzt. Und es hilft Bürger:innen, die juristischen Verfahren kritisch zu hinterfragen. Gleichzeitig haben Wissenschaftler:innen und Journalist:innen die Möglichkeit, diese Daten zu sammeln und zu untersuchen, wie das Justizsystem funktioniert. Das offizielle Modul, in dem die Justizdaten zusammengeführt werden, hat allerdings Anfang 2024 seinen Betrieb eingestellt. Allerdings bleibt immer noch die Möglichkeit erhalten, Daten direkt von der Internetseite eines Gerichts zu erlangen. Zu diesem Zweck haben Journalist:innen und Wissenschaftler:innen spezielle Tools entwickelt, etwa den Parser für juristische Daten ([4]) des Projekts »Wenn man genau sein will« (russ.: »Jesli byt totschnym«,[5]).

Der Höhepunkt der Bewegung in Richtung Offenheit wurde mit der Schaffung von spezialisierten Institutionen erreicht, die als Flaggschiff der Offenheitsinitiativen auf föderaler Ebene dienen sollten. Im Februar 2012 entstand das System »Offene Regierung« ([6]), das in den sechs Jahren seines Bestehens entweder nicht genügend Vollmachten oder nur unzureichend Mittel erhielt, was es letztlich weniger effektiv werden ließ als geplant.

Gleichwohl wurden dank der »Offenen Regierung« Offenheits-Standards für föderale Behörden und Änderungen am Informationsgesetz verabschiedet (Föderales Änderungsgesetz Nr. 8 vom 28. Februar 2012). Es wurde das Konzept von »Open Data« erarbeitet und technische Anforderungen für die Veröffentlichung, die Verzeichnisse und die Verfahren zur Bereitstellung von Daten definiert. 2.200 maschinenlesbare Datensätze wurden allein auf den Internetseiten föderaler Behörden veröffentlicht.

Zum Zeitpunkt seiner Schließung »zu Wartungszwecken« im März 2023 enthielt das Open Data-Portal 27.000 Datensätze. Die meisten (84 Prozent) waren in der Zeit der »Offenen Regierung« erstmals hochgeladen worden, wobei die Spitze der Uploads in das Jahr 2017 fiel.

In Wirklichkeit war das Portal öfter ein Ziel der Kritik von Forscher:innen als ein Flaggschiff für Open Data in Russland. Bis Anfang 2023 sind 60 Prozent der Datensätze niemals aktualisiert worden, 30 Prozent wurden nie heruntergeladen und nur zwei Prozent (470 Datensätze) sind mehr als hundert Mal oder häufiger heruntergeladen worden.

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Seit 2018 jedoch rückte das Regime zunehmend von einem Modell der »Verantwortlichkeit durch Offenheit« ab und bewegte sich in Richtung eines paternalistischen Modells der Interaktion mit seinen Bürger:innen. In einem solchen Top-Down-Modell wird eine Open Data-Praxis, die Transparenz und freien Zugang zu Regierungsdaten umfasst, nicht als Priorität betrachtet.

Gründe für die Geheimhaltung von Daten

Die ersten Anzeichen einer Rückentwicklung, oder zumindest einer Verlangsamung der Offenheitsinitiativen, zeigten sich zu Beginn von Putins dritter Amtszeit. Sie verstärkten sich nach der Annexion der Krim. Die Konfrontation mit den Ländern des Westens ließen in Russland das Interesse an einer internationalen Legitimierung durch Beteiligung an internationalen Offenheitsinitiativen zurückgehen. 2013 schob Russland seinen Beitritt zur Open Government Partnership (OGP) auf.

2014 zog sich Russland aus der internationalen Zusammenarbeit im Bereich der Datenoffenheit zurück, was ja eigentlich eine der Aufgaben der »Offenen Regierung« gewesen war. Gleichzeitig setzte das Land die Verhandlungen über einen Beitritt zur OECD aus. Nach der Auflösung der G8 wurde deren Open Data-Charta, der sich Russland im Sommer 2013 angeschlossen hatte, in Russland nicht mehr erwähnt.

Ein weiterer Faktor bestand darin, dass als Nebeneffekt von Offenheit Antikorruptionsermittlungen vorangetrieben werden konnten. Diese bildeten in den 2010er Jahren die wichtigste Triebkraft oppositioneller Politik in Russland und bedeuteten für das Regime eine ernste Gefahr. 2016 hatte der Umstand, dass die Namen der Söhne von Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka aus dem Register für Grundbesitz verschwanden, für großes Aufsehen gesorgt. Kurz nach der Veröffentlichung einer entsprechenden Recherche von Alexej Nawalnyj und seiner Stiftung zur Korruptionsbekämpfung ([7]) waren ihre Namen durch Codes ersetzt worden. 2017 wurde das Gesetz »Über den Staatsschutz« (Föderales Gesetz Nr. 57 v. 27.5.1996) geändert (Änderungsgesetz Nr. 148 v. 1.7.2017), so dass es Amtsträgern offiziell erlaubt wurde, Informationen über sich selbst und Familienangehörige aus öffentlichen Registern zu entfernen.

Diese Faktoren führten allerdings nicht zu einer abrupten Trendwende. Aus einer gewissen Trägheit heraus entwickelten sich eine Reihe von Offenheitsinitiativen einige Zeit weiter.

Das Jahr 2022 war ein Wendepunkt: Die Dimension der Geheimhaltung von Daten war beispiellos. Drei primäre Gruppen von Indikatoren lassen sich hier feststellen, wenn man die offiziell verkündete oder die vermutliche Motivation für die Entfernung zugrunde legt.

1. Wirtschaftsindikatoren, die die Vulnerabilität Russlands in Bezug auf Sanktionen erhöhen. Zu dieser Kategorie gehören Daten, die potenziell die Verhängung von Sanktionen gegen den russischen Staat oder verschiedene Wirtschaftsbereiche befördern könnten. Sechs wichtige Gruppen von Indikatoren sind unter Verschluss genommen worden, z. B. in folgenden Bereichen: makroökonomische und Finanzdaten, Außenhandel, Anschaffungen durch den Staat, Staatsbesitz, die Einkommen von Vertreter:innen des Staates, Gewinnung fossiler Rohstoffe, industrielle Produktion und Bankberichte. Mindestens 15 Behörden haben 93 Datensätze unter Verschluss genommen. Dabei verwendet die Regierung oft sehr formale Argumente; die Logik des Vorgehens ist bürokratisch (so wurden beispielsweise Export- und Importdaten entfernt, um »Spekulation zu verhindern«). Es gibt keinen Weg festzustellen, inwieweit die versteckten Daten tatsächlich eine Gefahr darstellen und wie sehr deren Verschluss von Lobbygruppen (etwa durch Unternehmen, die von verringerter Transparenz profitieren würden) oder Vertreter:innen der Bürokratie betrieben wurde, weil diese sich vor potenziellen Konsequenzen schützen wollen.

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2. Kriegsbezogene Informationen, die in journalistischen Recherchen verwendet werden können. Es gibt sehr viel frühere Beispiele von Daten, die unter Verschluss gerieten, nachdem sie Gegenstand einer Medienrecherche waren. Wenn solche Daten zuvor überwiegend die Korruption betrafen, geht es jetzt um alle Bereiche, die mit dem Krieg zusammenhängen, und sei es nur mittelbar. Hier ergibt sich die Logik aus der medialen Wirkung: Die Daten werden nicht wegen ihrer spezifischen Aussagekraft entfernt, sondern weil sie Gegenstand eines journalistischen Artikels waren. Hier lassen sich vier Kategorien unterscheiden: Sterblichkeit durch äußere Einwirkung, die Anzahl von Personen mit Behinderungen, die Anzahl der Strafgefangenen und Daten zu Sozialleistungen und Kompensationszahlungen. Mindestens sechs Behörden haben zwölf Datensätze unter Verschluss genommen. Viele dieser Daten waren genutzt worden, um indirekt das Ausmaß der Kriegsverluste des russischen Militärs abzuschätzen.

3. Daten zu sozialen und wirtschaftlichen Themen. Seit 2022 hat es eine beträchtliche Verschiebung hin zum Entfernen von Daten gegeben, die dem Image der Regierung schaden könnten. Diese Kategorie ist aufgrund der großen Datenmengen, die nun unter Verschluss sind, komplex. Es ist schwierig, die genaue Anzahl der betroffenen Datensätze und Indikatoren abzuschätzen. Hierzu gehören Daten zur Kriminalität, zu Kleinanleihen, zur Umweltverschmutzung, zu Verletzten bei Notstandssituationen sowie zum Zustand der Flugzeugflotte. Diese Daten stehen nicht in direkter Verbindung mit militärischen Operationen. Sie können aber die negativen Auswirkungen widerspiegeln, die der Krieg und die Sanktionen auf die russische Gesellschaft haben. Möglicherweise werden einige Kennziffern vorsorglich entfernt, bevor sie die Aufmerksamkeit der Medien erregen können und somit in die Kategorie zwei fallen würden.

Russland ist noch immer keine Blackbox: Wie wir das Land trotz mangelnder Transparenz erforschen können

Das Vorgehen der Regierung scheint bislang keiner durchdachten Strategie zu folgen. Vielmehr reagieren die Behörden lediglich auf tatsächlich oder potenziell gefährliche Situationen. Oft ist die Entfernung von Datensätzen, besonders, wenn es sich um technische, rein der minimal notwendigen Auskunft dienenden Datensätze handelt, eher eine bürokratische Formalität: Die Daten werden nicht mit voller Konsequenz entfernt, wobei manchmal alles entfernt wird und manchmal nur bestimmte Dateien. Darüber hinaus können gelöschte Informationen mitunter als Text- oder Tabellendateien auf Internetseiten wiedergefunden werden.

Die Entfernung eines bestimmten Datensatzes ist oft nicht das Ergebnis einer direkten Anweisung von oben, sondern der Entscheidung einzelner Beamter. So hat zum Beispiel »RosTrud« (Föderaler Dienst für Arbeit und Beschäftigung), das über viele Jahre hinweg an der Spitze des Offenheitsrankings der Behörden gestanden hatte ([8]), überraschenderweise ein Dutzend Datensätze über Sozialleistungen entfernt, von denen die meisten nichts mit dem Krieg zu tun hatten.

Das Zurückfahren von Offenheitsinitiativen hat noch nicht zu einer umfassenden Geheimhaltung geführt. Die Entfernung der Daten erfolgt derzeit noch langsam, aber stetig. Ungeachtet der Militärzensur ist der Zugang zu Daten, die eine Reihe von Politikbereichen berühren, erhalten geblieben.

Hier spielt die Trägheit der Bürokratie eine Rolle: Einige Personen, die für Open Data verantwortlich zeichnen und noch aus demokratischeren Zeiten im Amt sind, veröffentlichen aus Gewohnheit weiterhin Informationen. Diese Trägheit und die fortgesetzte Tätigkeit dieser Institutionen wirken mitunter dem Trend rückläufiger Transparenz entgegen. Hinzu kommt, dass Bürokrat:innen der mittleren Ebene versuchen, ihr Revier zu verteidigen.

Einige Daten können nicht so leicht dem öffentlichen Zugriff entzogen werden, weil die Infrastruktur der staatlichen Regulierung und Steuerung darauf aufbaut. Diese Infrastruktur stützt sich auf die Verfügbarkeit dieser Daten, um effektiv funktionieren zu können. Das bedeutet die Herausforderung, den Zugang zu beschränken, ohne dabei grundlegende regulatorische Prozesse zu beeinträchtigen.

Was schwerer wiegt, ist, dass der russische Staat zwar nicht mehr internationale Legitimität anstrebt und die Bewegung in Richtung Offenheit stockt. Doch lassen das Streben nach interner Legitimität und die technokratische Natur des staatlichen Regierungsmodells, das sich auf Informationen stützt, hoffen, dass ein Zugang zu Daten für einige Zeit erhalten bleibt. Wenn Bürger:innen trotz des gegenwärtigen Klimas immer noch das Recht auf Datenzugang haben, folgt dies nicht dem Ansatz, dass bürgerliche Kontrolle eine gute Sache sei. Hier greift vielmehr das Paradigma des »Staates als Dienstleister«. Dieser Ansatz bedeutet, dass der Staat bei der Lösung von Problemen helfen wird – solang man technokratische Mittel einsetzt, und eben keine politischen.

Klagen über eine mangelnde Qualität russischer Daten und eine verbreitete Fälschung von Daten sind ebenfalls recht überzogen, wie wir in unserer Studie »Can Russian data be trusted? A hazard map of official statistics« ([9]) zeigen konnten. Typischerweise sind Fälle, bei denen Kennziffern direkt manipuliert wurden (etwa Statistiken zur Sterblichkeit), den Fachleuten wohlbekannt. Die meisten Fälschungen erfolgen auf der mittleren und unteren Ebene, und zwar durch Versuche, eine zentralisierte Verwaltung aufgrund von Kennziffern umzusetzen, wobei man sich darauf konzentrieren muss, die Zielvorgaben strikt zu erfüllen (siehe: Kalgin 2016). Auf der föderalen Eben – das wurde für die Jahre 2022 bis 2024 gezeigt – ist der Staat eher bestrebt, sensible Daten zu verstecken als zu versuchen, Statistiken direkt zu verfälschen.

Hinzu kommt, dass neue digitale Projekte entstehen([10]), die den Zugriff auf Daten einfacher machen oder sogar neue Daten erschließen, die früher nicht zugänglich waren. So veröffentlicht das Portal »OWD-Info« Daten zu politischen Repressionen ([11]), das Projekt RIMA archiviert Beiträge unabhängiger russischer Medien ([12]) und das Projekt »Cedar« bietet der Forschung Zugang zu Wahlstatistiken, juristischen Daten und vielen anderen Quellen, der auf Anfrage hergestellt werden kann ([13]).

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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Verweise

[1] https://www.infoculture.ru/wp-content/uploads/2019/06/Otkrytost-doklad.pdf

[2] https://www.oecd.org/sdd/Assessment-of-the-Statistical-System-and-Key-Statistics-of-the-Russian-Federation.pdf

[3] https://data.worldbank.org/indicator/BX.KLT.DINV.WD.GD.ZS?end=2022&locations=RU&start=1992&view=chart

[4] https://github.com/tochno-st/sudrfscraper

[5] https://tochno.st/

[6] http://www.kremlin.ru/acts/bank/34772

[7] https://chaika.navalny.com/

[8] https://ach.gov.ru/news/otkrytost-2023

[9] https://cedarus.io/research/russian-statistics

[10] https://nemtsovfund.org/cp/wp-content/uploads/2024/02/RussiaKnownUnknows-IFR.pdf

[11] https://en.ovdinfo.org/reports

[12] https://rima.media/en

[13] https://cedarus.io/research/russian-statistics

Lesetipps / Bibliographie

  • Bach, T.: Bureaucratic Politics, [=ARENA Working Paper Nr. 8/2021], University of Oslo, 3. November 2021
  • Beazer, Quintin H.; Ora John Reuter: Who is to blame? Political centralization and electoral punishment under authoritarianism, in: The Journal of Politics, 81.2019, Nr. 2, S. 648–662.
  • Dewachter, Sara; Annalijn Conklin, Nathaniel Mason, Lucinda Gosling, Susan Watt, Ellen Chappell: Beyond the short versus long accountability route dichotomy: Using multi-track accountability pathways to study performance of rural water services in Uganda, in: World Development, 102.2018, Februar 2018, S. 158–169.
  • Guriev, Sergei; Daniel Treisman: A theory of informational autocracy, in: Journal of Public Economics, 186.2020, Artikel 104158.
  • Islam, Roumeen: Does more transparency go along with better governance?, in: Economics & Politics, 18.2006, Nr. 2, S. 121–167.
  • Kalgin, Alexander: Implementation of performance management in regional government in Russia: Evidence of data manipulation, in: Public Management Review 18.2016, Nr. 1, S. 110–138.
  • Kofanov, Dmitrii; Valentin Shcherbakov, Andrey Gorin, Alexander Sobolev: Encouraged to cheat? Federal incentives and career concerns at the sub-national level as determinants of under-reporting of COVID-19 mortality in Russia, in: British Journal of Political Science, 53.2023, Nr. 3, S. 835–860.
  • Kokorin, D.; D. Gorskiy, E. Zubiuk, T. Kotelnikova: Known Unknowns: Studying Russia in Condition of Growing Non-transparency, in: International Foreign Relations Journal, 55.2024, Nr. 1, S. 23–42.
  • Maerz, Seraphine F.: The electronic face of authoritarianism: E-government as a tool for gaining legitimacy in competitive and non-competitive regimes, in: Government Information Quarterly 33.2016, Nr. 4, S. 727–735.

Zum Weiterlesen


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