Soziolog:innen mobilisieren sich
Der russische Krieg gegen die Ukraine hat die Landschaft der Meinungsforschung in Russland verändert.
Im öffentlichen Raum waren hier viele Jahre drei Akteure präsent: das staatliche Institut WZIOM (»Allrussisches Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung«), das 2003 den Namen und die Ressourcen des ursprünglichen WZIOM unter Tatjana Saslawskaja und Jurij Lewada in Beschlag nahm (letztere hatten in den zwei Jahren nach dem Machtantritt Wladimir Putins deutlich gemacht, dass sie nicht bereit sind, unter der Kontrolle des Kreml zu arbeiten); die »Stiftung Öffentliche Meinung« (FOM), die formal unabhängig ist, sich aber vollkommen auf die Präsidialadministration ausrichtet, die als strategische Kundin betrachtet wird, und das unabhängige »Lewada-Zentrum«, das auf der Basis eines Teams entstand, das das »neue« WZIOM verlassen hatte.
Der Krieg gegen die Ukraine brachte eine Initiative von zwei spontan gebildeten Forschungsgruppen hervor, die in dem schwierigen, aber für die historische Einordnung überaus wichtigen Kontext der »militärischen Spezialoperation« unabhängige Untersuchungen anstellen wollen. Buchstäblich mit Beginn des großangelegten Krieges wurden zwei neue Akteure tätig: Zum einen »ExtremeScan[1]« und das Projekt »Chroniki[2]«, sowie andererseits »RussianField«, das seit längerem auf dem Feld des politischen Consulting und begleitender Meinungsumfragen aktiv war. Letzteres zeigt sich aber zunehmend in der Maske einer »liberal unabhängigen«, dabei jedoch kremlnahen, servilen Soziologie. Zu erwähnen ist auch, das »Public Sociology Laboratory« (PS Lab), das seit Beginn des Krieges unabhängige qualitative und ethnografische Projekte unternimmt, mit denen tieferliegende Schichten des gesellschaftlichen Bewusstseins analysiert werden.
Die Autorin ist Begründerin und Expertin der Forscher:innengruppe »ExtremeScan«, einer ständigen Partnerin des Projekts »Chroniki« und Kollaborationspartnerin von »PS Lab«. Diese Kollaboration hat in den vergangenen 34 Monaten über 30 Studien möglich gemacht.
Die quantitativen Studien werden mittels Telefoninterviews nach Zufallsauswahl durchgeführt, die für die erwachsene Bevölkerung Russlands repräsentativ sind. Die übliche Fallzahl einer Stichprobe einer Befragungswelle beträgt 1.600 Personen. Es gibt auch Projekte mit einer Beteiligung von 1.000 bis 5.500 Personen. Das Problem von Meinungsumfragen unter den Bedingungen eines aktuell stattfindenden Krieges, verstärkter Repressionen und Zensur ist für Journalist:innen und Politolog:innen von größter Bedeutung. Wir selbst sind nicht weniger als sie um die Qualität unserer Daten besorgt und verfolgen daher höchst aufmerksam eine möglicherweise veränderte Zusammensetzung der Grundgesamtheit wie auch der Stichproben; gleiches gilt für die Kooperationsbereitschaft der Respondent:innen. Besonders sorgsam sind wir bei der Formulierung sensibler Fragen und der Wahl einer neuen Sprache bei der Zusammenarbeit mit unseren »Informant:innen« (wie sie von unseren Kolleg:innen vom »PS Lab« genannt werden). Autor:innen qualitativer Studien arbeiten mit klassischen Tiefeninterviews, Fokusgruppen und den unter den gegebenen Bedingungen besonders wertvollen ethnografischen Forschungsarbeiten, bei denen unterstützend Methoden der teilnehmenden Beobachtung zum Einsatz kommen.
Der schwierige Weg, sich den Krieg bewusst zu machen
Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine war das wichtigste Thema der Studien die Entwicklung, die die Wahrnehmung des Krieges durch die Gesellschaft in Russland nimmt. Daten aus den Umfragen der letzten neun Monate verweisen auf ein neues Stadium: Man wird sich des Krieges bewusst.
Im Jahr 2023, nach dem anfänglichen Schock und der anschließen Euphorie, nach den Ängsten wegen der Mobilmachung und der Beschäftigung damit, hatte sich das Leben angesichts der fast abstrakten Kampfhandlungen stabilisiert. Es waren alternative Importströme entstanden, die Wirtschaft Russlands wies ein Wachstum auf und schaltete in hohem Maße auf Kriegswirtschaft um. Die Rüstungsproduktion nahm zu, und nach der Meuterei von Jewgenij Prigoschin gab es in der Armee keine desorganisierende Doppelherrschaft mehr.
Die turnusmäßige Rekrutierung von Grundwehrdienstleistenden im Herbst 2023 wurde vorsichtiger und stiller durchgeführt als die Mobilmachung 2022, die jedermann in Aufruhr versetzt hatte. Die Kriegspropaganda in den Medien wurde sogar schwächer, auch wenn die patriotische Ereiferung blieb und die radikalen TV-Formate und Talkshows keineswegs verschwanden. Das gesellschaftliche Bewusstsein reagierte auf diese Lage der Dinge mit Erleichterung.
Unsere Studien haben gezeigt[3], dass es zwei wichtige Komponenten der veränderten Wahrnehmung gibt: Der Anteil der tatsächlichen Befürworter des Krieges ging zurück und die kriegsfreundlichen Positionen in der Gesellschaft waren sehr viel weniger hörbar.
Das Jahr 2023 war dadurch geprägt, dass der Krieg zur Routine und marginalisiert wurde[4]. Das Wissen um die Kriegshandlungen in der Ukraine wurden psychologisch an die Peripherie verdrängt. Der Krieg geriet zu einem langwierigen Unglück, vor dem es kein Entrinnen gab und auf das man keinen Einfluss nehmen konnte.
Diese Marginalisierung erfolgte aus zwei Gründen: Einerseits verspürten die Menschen Angst und Hilflosigkeit. Andererseits waren die Kriegshandlungen weit entfernt, in einem anderen Land. Das ermöglichte es vielen Leuten, kaum an den Krieg zu denken[5] und nicht die ganze Zeit vom Krieg zu reden.
Das ist von einigen als »Normalisierung des Krieges« bezeichnet worden, doch erscheint »Verdrängung« hier der genauere Begriff.
Übergang zur Phase eines Bewusstwerdens des Krieges
Die Situation begann sich mit den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2024 zu ändern.
Das Auftreten von zwei kriegskritischen[6] Präsidentschaftskandidat:innen im Frühjahr 2024 – Jekaterina Dunzowa und Boris Nadeschdin – aktivierte kriegskritische Stimmungen. Durch den aufsehenerregenden Prozess der Unterschriftensammlung für Nadeschdin gelang es, für einige Zeit die Vorstellung von Frieden im gesellschaftlichen Narrativ zu legitimieren. Das wirkte sich sofort auf die Haltungen zur »militärischen Spezialoperation« aus.
Hier eine Frage, die wir den Respondent:innen ununterbrochen stellen:
»Unterstützen Sie die militärische Operation Russlands auf dem Territorium der Ukraine oder nicht, fällt es Ihnen schwer zu antworten oder wollen Sie auf diese Frage nicht antworten?«
Im Februar 2024 ging die Unterstützung für den Krieg in unseren Umfragen von 55–56 Prozent auf den Rekordwert von 46 Prozent zurück. Die Bereitschaft, die Truppen aus der Ukraine abzuziehen, stieg ebenfalls auf einen Rekordwert von 49 Prozent.
Unserer Ansicht nach war dies der Moment, an dem ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung aus dem Zustand des Vergessens erwachte und eine bewusstere Wahrnehmung des Krieges einsetzte.
Das alltägliche Leben, das ja in der Sorge um das täglich Brot besteht, um die Gesundheit der Angehörigen und die Ausbildung der Kinder, um die Wahrung des Besitzes und der Wohnung, nagte allmählich und kaum merklich an der Bereitschaft, den Krieg zu dulden wie auch an der Loyalität gegenüber der Regierung.
Nutznießer und Opfer des Krieges
Im gesamten Verlauf des Krieges haben Forscher:innen betont, dass Menschen mit geringem materiellem Status in geringerem Maße die »militärische Spezialoperation« unterstützen als wohlhabendere. Im September zeigten die Daten von »Chroniki« eine Diskrepanz bei der Unterstützung in Abhängigkeit vom Grad des Wohlstands, die zwischen 41 und 56 Prozent liegt. Der verbesserte oder verschlechterte materielle Status bleibt deshalb ein wichtiger Indikator, weil gerade die subjektive Einschätzung dieser Veränderung Einfluss auf die Haltung zur Regierung und zum Krieg hat.
Ungeachtet der Festigung der Bevölkerungsschicht, die wir als Nutznießer des Krieges bezeichnen, steht sie mit ihren Einkommenszuwächsen und der rekordverdächtigen Reduzierung der Arbeitslosigkeit im Gegensatz zu Trends, die wir für ein gutes Drittel der Bevölkerung ausmachen konnten. Von einer Verschlechterung der materiellen Lage sprachen 15 Prozent der Befragten; im September 2024 waren es bereits 27 Prozent. Die Unterstützung für den Krieg war bei den Respondent:innen dieser Bevölkerungskategorien stets erheblich niedriger als bei anderen Kategorien (43 % gegenüber 49 %):
Im September dieses Jahres erklärten 75 Prozent der Befragten, dass sie oder Familienangehörige Kredite aufnehmen mussten. Die Kredite erwiesen sich als guter Marker für Bevölkerungsgruppen, bei denen sich gegenteilige Effekte durch die Kriegsfolgen bemerkbar machten.
Wir haben festgestellt, dass Respondent:innen, die 2022 oder 2023 einen Kredit aufgenommen hatten, weil es »die Möglichkeit gab, die Wohnsituation zu verbessern«, sich in Bezug auf den Krieg loyaler zeigten (56 %). Hier ist anzumerken, dass Befragte, deren Verwandte sich an den Kriegshandlungen beteiligen, zweimal häufiger von Möglichkeiten sprachen, ihre Wohnsituation zu verbessern. Wenn jedoch Geld »dringend fürs Leben« benötigt wurde, fiel die Unterstützung für die »militärische Spezialoperation« allerdings geringer aus als im Schnitt (45 %).
Die Abhängigkeit der Haltung zum Krieg von den materiellen Lebensbedingungen wird dann besonders deutlich, wenn es um Schwierigkeiten bei der Abzahlung von Krediten geht. Bei den Antworten auf die Frage »Ist es Ihnen oder Ihrer Familie 2023 oder 2024 insgesamt leichter oder schwerer als früher gefallen, Kredite abzuzahlen, oder hat sich die Lage nicht geändert?«, antworteten sechs Prozent, dass es leichter wurde, und 52 Prozent, dass es schwieriger wurde.
Diejenigen, denen es leichter fiel, also die Nutznießer des Krieges, unterstützen in höherem Maße den Krieg (63 % gegenüber 49 % über die gesamte Stichprobe). Und nur 30 Prozent derjenigen, die Schwierigkeiten haben, denen es schwerer fiel, Kredite abzuzahlen, unterstützen die Spezialoperation.
Die Mobilmachung ist der Hauptgrund für Frust
In dem Maße, in dem es Familienmitglieder gibt, die sich an den Kriegshandlungen beteiligen, ändert sich auch die Wahrnehmung des Krieges. Auf die Frage, ob es in der Familie so jemanden gibt, antworteten vor anderthalb Jahren 20 Prozent bejahend. Im August und September 2024 ist dieser Wert auf 30 Prozent gestiegen.
Zum Vergleich führen wir die Daten[7] zu einer analogen Frage an (mit der Formulierung »Angehörige«): In der Ukraine haben insgesamt 70 Prozent Angehörige, die sich nach der Vollinvasion am Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg beteiligen oder beteiligt haben. Im Vergleich zum September 2023 ist dieser Wert jetzt um fünf Prozentpunkte gestiegen.
In den aufgrund ethnischer Minderheiten gegründeten Teilrepubliken antworteten zwischen 43 und 54 Prozent der Befragten, dass jemand aus der Familie an der Front ist.
Die gleiche Gesetzmäßigkeit zeigt sich auch bei der Wahrnehmung in Bezug auf die Schieflage bei der Zahl der Kriegführenden. Im Schnitt haben in Russland 26 Prozent angegeben, dass aus ihrer Region mehr Leute als in anderen Regionen für den Krieg mobilisiert wurden. In Moskau, St. Petersburg und dem Swerdlowsker Gebiet waren es 6–8 Prozent der Befragten. In Gebieten mit verstärkter Mobilmachung wie etwa Baschkortostan, Tuwa oder Dagestan waren es zwischen 32 und 51 Prozent.
Bislang ist bei jenen, die in der Familie Kriegsteilnehmer:innen haben, die Unterstützung für den Krieg sogar höher als bei den übrigen. Das ist verständlich: Es ist schwierig sich damit abzufinden, dass Verwandte an einem durch nichts zu rechtfertigenden Krieg teilnehmen. Klar ist allerdings auch, dass diese Russ:innen in einem höheren Maße als andere (89 % gegenüber 79 %) in Sorge sind, dass die Männer an der Front getötet oder verwundet werden könnten. Mit wachsenden Verlustzahlen dürfte unweigerlich auch das Bewusstsein für den Preis des Krieges gegen das Nachbarland steigen.
Terroranschläge drücken nicht die Umfragewerte zum Krieg
Sowohl die Unterstützung für den Krieg wie auch die Einstellung zugunsten einer Beendigung der Kriegshandlungen kann unter dem Eindruck dramatischer Ereignisse zunehmen bzw. zurückgehen; danach kehren sie jedoch auf das frühere Niveau zurück. Ein markantes Beispiel sind die Reaktionen auf den Terroranschlag [8] in der »Crocus City Hall«.
Die Propaganda sorgte erfolgreich für die vom Regime gewünschten Haltungen[9]: 37 Prozent der Russ:innen nannten als wichtigsten Auftraggeber den Westen und die NATO, 27 Prozent die Ukraine und nur 9 Prozent radikale Islamist:innen. Die propagandistischen Beschuldigungen hatten einen gewissen Teil der Bevölkerung überzeugt: Wenn die Ukraine und ihre Partner den Krieg mit derart barbarischen Methoden führt, muss man sich noch enger zusammenschließen und kann sich nicht auf Friedensverhandlungen einlassen.
Allerdings geriet die Erinnerung an den Terroranschlag vom März 2023 – wie auch die an andere dramatische Ereignisse – recht bald in den Hintergrund[10]. Die PRORA-Studie (»Panel Study of Russian Public Opinion and Attitudes«) zeigte bereits im Juni einen Abfall um 8 Prozentpunkte und damit eine Rückkehr zu den durchschnittlichen Zustimmungswerten zur sogenannten Spezialoperation von 53 Prozent.
Der Vorstoß in das Gebiet Kursk als Trigger für das Bewusstsein, dass Krieg ist
Ein grundlegend neuer Faktor bei der Wahrnehmung des Krieges war der Vorstoß ukrainischer Streitkräfte in das Gebiet Kursk[11].
Ungeachtet der geografischen Nähe des Krieges – für einen Teil des Gebiets sind die feindlichen Soldaten nur 30 Kilometer entfernt – war der Krieg für die Bewohner des Gebiets lange nur ein Bild im Fernseher geblieben. Für sie begann der Krieg laut eigenem Bekunden am 6. August 2024.
Im Unterschied zum Beschuss und anderen militärischen Aktionen in Grenznähe, die den Zusammenhalt stärkten, hatte der Vorstoß eine entgegengesetzte Wirkung: Die Unterstützung für den Krieg ging zurück, und die Verunsicherung wuchs[12]. Ein ähnlicher Effekt war nach der Mobilmachung im September 2022 und bei der Verschärfung des Gesetzes über die Wehrpflicht vom April 2023 zu beobachten.
»OpenMinds« zufolge, das den Inhalt der sozialen Netzwerke und der Medien untersucht, verschlechterte[13] sich die Stimmung bereits in der ersten Wochen nach dem ukrainischen Vorstoß von –0,25 auf –0,47 auf einer Skala, auf der –1 die negativste Haltung zur Spezialoperation darstellt, und +1 die positivste.
Die Bewohner:innen Russlands, und vor allem die des Gebietes Kursk, erlebten eine Enttäuschung: Die Worte davon, dass eine Verletzung der Staatsgrenzen nicht möglich sei, von der Stärke der Armee, von der Bereitschaft des Staates, nicht nur seine Bürger:innen zu schützen, [sondern alle, die sich zu Russland gehörig fühlen, (Anm. d. Red.)] stellten sich als offensichtlicher Bluff heraus. Die meisten Beamt:innen dort flohen und überließen die Menschen ihrem Schicksal. In der ersten Zeit halfen in jenen Siedlungen, in die es die Flüchtlinge geschafft hatten, allein Freiwillige. Flüchtlinge aus den Teilen des Gebietes Kursk, in denen Kriegshandlungen stattfinden oder ukrainische Truppen stehen, befinden sich in einer schwierigen Lage ohne Wohnung oder angemessene Unterstützungszahlungen. Und in den Häusern, die stehen blieben, wüten Plünderer in Gestalt russischer Militärangehöriger. Die Bewohner:innen betroffener Gebiete protestieren in nur unbedeutenden Zahlen; und die Proteste sind nicht stimmig, da sie »Väterchen Zar« ansprechen, und ihre Wut sich gegen lokale Verwaltungschefs richtet.
Die Folgen des Krieges, die sich so materialisiert haben, machen wiederum die folgende Frage aktuell:
»Falls Wladimir Putin die Entscheidung trifft, die Truppen vom Territorium der Ukraine abzuziehen und Verhandlungen über einen Waffenstillstand zu beginnen, ohne die ursprünglichen Ziele der militärischen Spezialoperation erreicht zu haben, würden Sie diese Entscheidung unterstützen oder nicht?«
Angesichts des ukrainischen Vorstoßes auf Kursk ist der Anteil derjenigen, die bereit wären, einen Rückzug der russischen Truppen und einen Übergang zu Friedensverhandlungen zu unterstützen – ungeachtet der nicht erreichten Ziele –, von 40 auf 49 Prozent gesprungen. Das ist das erwähnte Rekordniveau von Antikriegsstimmungen, das während des Wahlkampfes von Boris Nadeschdin zu beobachten war.
Der Anteil derjenigen, die einen Abzug der Truppen und eine Aufnahme von Friedensgesprächen nicht unterstützen, verharrte bei 33 Prozent, ungeachtet des ukrainischen Vorstoßes. Hier ist zu erwähnen, dass unter denen, die eine Fortsetzung des Krieges wollen, mindestens zwei Gruppen mit unterschiedlichen Motiven auszumachen sind: Ungefähr die Hälfte dieser 33 Prozent sind Verfechter eines Krieges bis zum siegreichen Ende, bis zum Erreichen der gestellten Ziele, von denen die Befragten allerdings nur eine sehr ungefähre Vorstellung hatten. Die Übrigen werden von der Angst vor einem Einmarsch der Ukrainer:innen getrieben, einer Angst vor Rache.
Durch eine ähnliche Angst lässt sich wohl auch erklären, dass nach dem Terroranschlag auf die »Crocus City Hall«, der dank der Propaganda als Fortsetzung des Krieges mit terroristischen Mitteln wahrgenommen wurde, die Umfragewerte für eine »Fortsetzung des Krieges« für kurze Zeit 44 Prozent erreichten.
Trauma des militärischen Misserfolgs
Unabhängig davon, wie sich der ukrainische Vorstoß in das Gebiet Kursk entwickelte, bedeutete die Tatsache, dass die russische Grenze überschritten wurde und sich auf russischem Territorium Kriegsgerät des Gegners befindet, für viele Russ:innen einen unentrinnbaren Beleg für die Schwäche der russischen Armee. Dieser Misserfolg ist ein wirkungsmächtiger Faktor für eine schwindende Popularität des Krieges, ganz wie die Mobilmachung.
Für die Menschen in Russland kann das Vorrücken im Donbass nicht den Verlust eines Teils des Gebietes Kursk aufwiegen. Vor die Wahl gestellt, was wichtiger ist, die Befreiung des Gebietes Kursk oder ein Vorrücken in der Ukraine, wollen 53 Prozent eine Rückgewinnung der russischen Gebiete und nur 15 Prozent einen Sieg jenseits der Grenzen Russlands. Hierbei gibt es keinen Unterschied zwischen konsequenten Verfechter:innen des Krieges und Anhänger:innen einer Friedenslösung.
Auch andere Anzeichen deuten darauf hin, dass der Wert neuer Territorien für die Menschen ein ganz anderer ist als für den Kreml. Wenn die Russ:innen wählen könnten, worauf man bei Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine beharren sollte, würden sich nur 26 Prozent für eine Beibehaltung der von Russland besetzten Gebiete entscheiden. Dem stehen 46 Prozent gegenüber, die in einen Frieden einwilligen würden, wenn die Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichtet, fast doppelt so viele. Sicherheit erscheint wichtiger als Expansion.
Der Vorstoß auf Kursk als Vorbote einer Mobilmachung
Interessant ist, dass drei bis vier Wochen nach dem ukrainischen Vorstoß der Anteil derjenigen, die meinen, der Staat solle Mittel vor allem für die Streitkräfte und nicht für soziale Zwecke einsetzen, von 37 auf 43 Prozent anstieg. Zuvor war dieser Anteil im Sinken begriffen.
»Falls es ein Haushaltsdefizit gibt, wofür sollten staatliche Mittel in erster Linie ausgegeben werden, für die Streitkräfte oder für Soziales?«
Man kann sich vorstellen, dass dies nicht nur mit einem Aufflammen revanchistischer Stimmungen zusammenhängt, sondern auch mit Sorgen wegen einer drohenden Mobilmachung, da der ukrainische Vorstoß die Schwäche der Armee und den Mangel an Soldaten deutlich werden ließ.
Einer Inhaltsanalyse[14] zufolge nahm im Internet die Zahl der Suchanfragen zum Thema Mobilmachung nach dem Vorstoß drastisch zu. Der Staat entlohnt Vertragssoldaten großzügig, doch die Zahl derjenigen, die zu kämpfen bereit sind, ist offensichtlich, trotz der Gelder, nicht mehr ausreichend, um den Bedarf der Armee befriedigen. Und die Menschen in Russland sind bereit, eine Erhöhung der Ausgaben für die Armee zu unterstützen, sogar auf Kosten der Sozialausgaben. Hauptsache, der Feind dringt nicht auf das Territorium Russlands ein und es gibt keine Notwendigkeit für eine massenhafte zwangsweise Mobilmachung. Die Angst vor einer Mobilmachung ist größer als die vor Verarmung.
Das alles bedeutet nicht, dass gleichzeitig nicht auch rund ein Fünftel der Befragten die Notwendigkeit einer Mobilmachung hinnimmt (in Abhängigkeit von der Formulierung der Frage von 18 bis 22 %). Sogar elf Prozent der Friedensbefürworter stimmen dem zu. Und 42 Prozent – also doppelt so viel wie alle Befragten – sind überzeugt, dass eine Mobilmachung sowieso erfolgen werde, trotz offizieller Versicherungen[15] des Gegenteils.
Die Sorgen hinsichtlich einer Mobilmachung werden auch in verwandten Befürchtungen und Ängsten deutlich. Verwundung oder Tod der Menschen an der Front werden in Russland von 78 Prozent als vordringliches Problem genannt. Am stärksten gilt das mit 88–90 Prozent für das Gebiet Belgorod und ethnisch begründete Republiken – Dagestan, Baschkortostan, Tuwa und Burjatien –, die seit Beginn des Krieges Opfer einer verstärkten zwangsweisen Mobilmachung sind.
Das Gebiet Belgorod ist dabei nicht nur durch Verwundete und Gefallene an der Front und konkret an seiner Grenze betroffen, sondern auch durch zivile Opfer aufgrund von Artilleriebeschuss und Drohnenangriffen im Gebiet.
Falls für eine Fortsetzung der militärischen Spezialoperation eine neue Mobilmachung nötig wird, bevorzugen 49 Prozent (gegenüber 36 %), dass die Mobilisierten nach Hause kommen und keine neue Mobilmachung erfolgt, die Spezialoperation also beendet wird.
Ein weiterer Hinweis darauf, dass die Ablehnung einer Mobilmachung zunimmt, ist die veränderte Haltung zu denen, die sich dem Kriegsdienst entziehen. Die werden von 27 Prozent verurteilt, während 51 Prozent Verständnis zeigten (den übrigen fiel es schwer zu antworten). Vor anderthalb Jahren verurteilten es noch 36 Prozent, und 46 Prozent hatten Verständnis.
Die Motive derjenigen, die freiwillig in den Krieg ziehen, werden von 37 Prozent der Befragten mit einem Interesse an Geld erklärt, 24 Prozent geben Pflichtgefühl an, 29 Prozent eine Kombination aus beidem. Es ist wenig überraschend, dass diejenigen, die den Krieg unterstützen, den Freiwilligen eher edle Motive zuschreiben (32 %), auch wenn sie einräumen, dass Geld eine wichtige Rolle spielt (23 %).
Offene Gegner des Krieges glauben praktisch überhaupt nicht an ein Pflichtgefühl bei Vertragssoldaten: 80 Prozent meinen, dass diese allein um des Geldes Willen in den Krieg ziehen.
Das ist nicht ihr Krieg
Daten des Lewada-Zentrums[16] zufolge beschreiben die Befragten den Schaden durch die militärische Spezialoperation in Kategorien der persönlichen Folgen für sich selbst. Der »Nutzen« wird in staatlichen und nationalen Kategorien wie der Rückgewinnung von Territorien, neugewonnenen Territorien, Bevölkerungsgewinn, Verteidigung gegen die NATO, gegen den Faschismus usw. umrissen. Das alles korrespondiert gut mit den Antworten auf unsere Frage »Welchen Nutzen wird Ihnen persönlich ein Sieg Russlands bringen?«
56 Prozent sagen: »Gar keinen[17].« Und bei den 30 Prozent, die konkrete positive Ergebnisse nennen, sind häufiger Meinungen zu finden, dass »das Blutvergießen aufhört, die Männer zurückkommen, Angehörige und Verwandte von der Front zurückkommen, das Verhältnis zu Verwandten in der Ukraine wiederhergestellt wird usw.« Wenn das »Lewada-Zentrum« wie auch andere Institute den Befragten die Formulierung »den militärischen Konflikt beenden und die annektierten Territorien zurückgeben« vorlegen, stimmen 31 Prozent dieser kategorischen Aussage zu, während 72 Prozent einer »Beendigung des militärischen Konflikts« ohne weitere Bedingungen zustimmen. Anscheinend versetzt die weitergehende Formulierung die Befragten in einen Konflikt mit der intensiven propagandistischen Agenda, die den Krieg und die Eroberung neuer Territorien begleitet.
Diese Reaktion ist allerdings nur dann anzutreffen, solange man sich nicht entscheiden muss.
Bei der Wahl zwischen Mobilmachung und Frieden oder zwischen einem Vorrücken im Donbas und einer Befreiung des Gebietes Kursk antworten die meisten Befragten: Frieden bzw. russisches Gebiet! Es ist das zunehmende gesellschaftliche Bedürfnis nach Frieden und die wachsende Bereitschaft zu Kompromissen, die auf ein stärkeres Bewusstsein für die tragischen Folgen des Krieges verweisen.
Fairerweise ist zu erwähnen, dass dieses stärkere Bewusstsein noch nicht eine Erhellung oder ein vollständiges Verstehen der Ursprünge und Folgen des Krieges bedeutet. Es ist sehr schwierig, sich von der rationalisierten Unausweichlichkeit des Krieges zu lösen, von der Konfrontation zwischen Russland und dem gesamten Westen – und eben nicht nur der »kleinen« Ukraine –, vom Mythos der Friedensliebe und des Internationalismus der Russ:innen.
Bisher sind recht egozentrische Faktoren wirksam, die einer Ermüdung durch den Krieg, einer Enttäuschung durch fehlende militärische Erfolge, den eigenen Ängsten und Verlusten entspringen. Doch lässt sich denken, dass selbst eine Befreiung des Gebietes Kursk und ein Vorrücken in der Ukraine die Menschen in Russland nicht in eine Zeit zurückversetzen dürften, in der sie nicht verstehen, dass ein wahrhafter Krieg stattfindet.
Nach 1.000 Tagen Krieg beginnt sich ein zunehmend größerer Kreis von Russ:innen der materiellen Folgen dieses Krieges bewusst zu werden. Diese Erkenntnis bedeutet keine Veränderung des Wertesystems der Menschen, sie führt nicht zu einem tieferen Verständnis über das aggressive Wesen der Kriegshandlungen Russlands oder einer Empathie für die Ukrainer:innen. Es verstärkt lediglich die Antikriegsstimmungen. Allerdings trägt »Antikriegs–« die Assoziation mit Protesten und Aktivismus in sich, was nicht dem Wesen dieser Stimmungen entspricht. Die Russ:innen verstehen nicht die Ziele des Krieges, und wenn sie diese verstehen, dann würde nur ein kleiner Teil von ihnen sie teilen. Sie wollen einfach für sich Frieden[18].
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder
Die vorliegende Analyse basiert auf der Publikation »Public Perception of the War: Shifting from Repression of Consciousness to Awareness« von Elena Koneva bei Russia.Post (https://russiapost.info/society/public_perception) und ist eine durch die Autorin leicht veränderte Fassung des Beitrags. Der Beitrag entstand auf Grundlage von Meinungsumfragen von Chroniki und ExtremeScan, durchgeführt im Zeitraum von Februar 2022 bis Oktober 2024.
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Verweise
[1] https://www.extremescan.eu/
[2] https://www.chronicles.report/
[3] https://www.extremescan.eu/ru/post/lyudi-chotyat-nevozmozhnogo-mira
[4] https://re-russia.net/en/expertise/0123/
[5] https://uatv.ua/ot-shoka-do-vytesneniya-kak-menyaetsya-otnoshenie-rossiyan-k-vojne-obsuzhdaem-s-sotsiologom-elenoj-konevoj/
[6] https://russiapost.info/politics/shortlived_campaign
[7] https://news.liga.net/politics/news/opros-u-70-ukraintsev-est-blizkie-kto-voeval-ili-voyuet-na-zapade-i-v-tsentre-bolshe
[8] https://re-russia.net/en/analytics/0150/
[9] https://www.extremescan.eu/post/the-crocus-city-terrorist-attack-concluding-the-election-and-continuing-the-special-military-operat
[10] https://osf.io/preprints/osf/g4an5
[11] https://republic.ru/posts/113309?invite=359be11844b03ce8f09f32736b56d8d0
[12] https://media.fom.ru/fom-bd/d40no2024.pdf
[13] https://open-minds-institute-e9f5-d6fa5938c57ba.webflow.io/reports/how-the-kursk-region-incursion-shifted-russians-attitudes-towards-the-war
[14] https://open-minds-institute-e9f5-d6fa5938c57ba.webflow.io/reports/how-the-kursk-region-incursion-shifted-russians-attitudes-towards-the-war
[15] https://www.gazeta.ru/army/news/2024/09/30/24043453.shtml
[16] https://www.levada.ru/2024/10/09/konflikt-s-ukrainoj-vnimanie-podderzhka-otnoshenie-k-razlichnym-usloviyam-mirnogo-soglasheniya-v-sentyabre-2024-goda/
[17] https://www.moscowtimes.ru/2023/05/09/pobeda-eto-vernutsya-nazad-tuda-gde-voina-esche-ne-nachalas-a42402
[18] https://republic.ru/posts/111072?invite=4bfd6541b2f588826b215b08eebbff53