Die Raswedka des Zaren
Die Behörde blickt auf eine lange Geschichte zurück. Ihr Selbstverständnis ist von einer über zweihundertjährigen Tradition geprägt. 1812 wurde die für den militärischen Nachrichtendienst zuständige Sonderkanzlei beim Kriegsministerium gegründet. Das neu geschaffene Amt verfügte mit vier Beamten nur über einen ausgesprochen kleinen Mitarbeiterstab. Mit der Bildung des Sonderbüros verfügte das russische Militär erstmals über eine Organisation, die systematisch nachrichtendienstliche Aufklärung gegen ausländische Streitkräfte betrieb. Deshalb gilt das Jahr 1812 als die Geburtsstunde des russischen Militärgeheimdienstes.
Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege löste Zar Alexander I. 1815 die Sonderkanzlei wieder auf. Erst die russische Niederlage im Krymkrieg führte 1856 zu einem Umdenken. Zar Alexander II. bestätigte damals die Tätigkeit der sogenannten Militäragenten, die als militärische Diplomaten legale Spionage betrieben, aber auch illegale Quellen führten. 1867 übernahm dann das Militär-statistische Komitee beim Generalstab die Aufgaben des Nachrichtendienstes der Armee. Zu diesem Zeitpunkt waren in der Raswedka 22 Generalstabsoffiziere sowie sechs Militäragenten aktiv. 1903 wurde das Amt allerdings aufgelöst und seine Funktionen auf ein Referat übertragen, das dem 2. Generalquartiermeister unterstand. Die bittere Schlappe im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905 führte zu umfangreichen Reformen, die auch den militärischen Nachrichtendienst betrafen. 1906 erfolgte endlich eine Aufteilung der Militäraufklärung in eine Beschaffungsabteilung und mehrere Auswertungsreferate.
Der 1. Weltkrieg stellte die russische Militäraufklärung vor neue Herausforderungen, denen sie nur bedingt gerecht wurde. Die Revolutionen vom Frühjahr und Herbst 1917 führten schließlich zum Zusammenbruch des russischen Imperiums und seiner Raswedka.
Unter neuer Flagge – die Militäraufklärung der Roten Armee
Doch es sollte sich zeigen, dass auch die neuen Machthaber, die Bolschewiki, zur Erhaltung ihrer Macht auf einen militärischen Nachrichtendienst angewiesen waren. Der Geheimdienst der Streitkräfte war jedoch nicht mehr dem Staat, sondern der Kommunistischen Partei verpflichtet. Die GRU wurde 1918 als Registraturverwaltung der Roten Armee gegründet. Sie versuchte vornehmlich an Informationen von militärischer Bedeutung zu gelangen. Zu diesem Zweck hatten ihre Agenten im Ausland Truppenverbände jeder Art zu beobachten und Angaben über deren Struktur, Organisation sowie Bewaffnung zu sammeln. Weiterhin sollten Informationen über Stationierungsorte, rüstungswirtschaftliche Kapazitäten und zur politischen Stimmung beschafft werden. Haupteinsatzort war zunächst Europa, wobei sich die Nachrichtenbeschaffung neben Polen vor allem auf Deutschland konzentrierte.
1926 wurde die GRU zur 4. Verwaltung des Stabes der Roten Armee erweitert. Unter der Leitung ihres Chefs Jan Bersin gelang es, eine straff organisierte und hochqualifizierte Spionageorganisation zu schaffen, die 1934 in Statistische Informationsverwaltung der Roten Armee umbenannt wurde. Die GRU wollte sicherstellen, dass ihre Spionagenetze auch unter Kriegsbedingungen funktionieren. Zu diesem Zweck wurden in den betreffenden Ländern illegale Residenturen eingerichtet, d. h. ihre Mitarbeiter waren nicht durch einen Diplomatenstatus geschützt. Leiter dieser illegalen Netze konnten Angehörige der GRU, ausnahmslos als ausländische Staatsangehörige getarnt, aber auch prosowjetische Ausländer sein. Zu den bekanntesten von ihnen zählten später Ilse Stöbe (Netz »Alta« – Deutschland), Leopold Trepper (Netz »Kent« – Belgien) und Richard Sorge (Netz »Ramzaj« – Japan).
Daneben wurde seit den 1930er Jahren die Zahl der Militärattachés beträchtlich erhöht. Sie führten für die GRU die »offizielle« Militärspionage durch. Unterstützt wurden sie bei ihrer Arbeit von inoffiziellen Mitarbeitern der GRU, die getarnt in den verschiedensten sowjetischen Auslandsbehörden und -organisationen arbeiteten. Auch sie sammelten offene Informationen über ausländische Streitkräfte, versuchten aber auch geheime Quellen zu führen.
Das politische System der UdSSR begünstigte die Anwerbung von Agenten. Die Ideale des Kommunismus erwiesen sich als fruchtbarer Nährboden für die Rekrutierung von Spionen. Um an dringend benötigte Quellen zu gelangen, nutzte der Militärgeheimdienst aber auch kompromittierendes Material und finanzielle Anreize. Dadurch vermochten es die rund 400 GRU-Offiziere bis Mitte der 1930er Jahre wirksame Spionagenetze aufzubauen, die die sowjetische Partei- und Staatsführung mit geheimen Informationen versorgten. Die Agentenmeldungen übten Einfluss auf wichtige Entscheidungsprozesse in Fragen der Außen- und Militärpolitik aus.
Von den Massenrepressalien Josef Stalins blieb auch die GRU nicht verschont. Die Informationsnetze des militärischen Nachrichtendienstes brachen Ende der 1930er Jahre fast vollständig zusammen. Ihr Neuaufbau, durchgeführt von schlecht ausgebildeten Geheimdienstmitarbeitern, die oft nicht einmal die Sprache des Einsatzlandes beherrschten, erforderte viel Zeit. Zeit, die nach Ausbruch des 2. Weltkrieges nicht mehr zur Verfügung stand.
Bis Anfang 1941 gelang zumindest die organisatorische Wiederherstellung des Auslandsnetzes der GRU. Zu diesem Zeitpunkt verfügte der Militärgeheimdienst der Roten Armee über rund 1000 Mitarbeiter, von denen die Hälfte im illegalen Einsatz stand. Für die GRU waren die Folgen der Säuberungen eine denkbar schlechte Voraussetzung, um in den Zweiten Weltkrieg einzutreten. Einen Konflikt, in dem das Deutsche Reich die Militäraufklärung der Roten Armee zunächst an die Grenzen ihrer Möglichkeiten brachte. Im weiteren Kriegsverlauf konnte der Dienst dann aber doch noch spektakuläre Erfolge erzielen.
Als verhängnisvoll erwies sich jedoch, dass den sowjetischen Diktator nahezu ausschließlich die Rohinformationen der Quellen der GRU interessierten. Von einer zusammenfassenden Analyse der geheimen Meldungen hielt der Diktator wenig, betrachtete er sich doch selbst als uneingeschränkte Autorität auf dem Gebiet der Spionage. Damit ist ein wesentliches Grundproblem des Militärnachrichtendienstes unter Stalin genannt, das sich auch durch die zahlreichen Reorganisationen nicht beheben ließ: Das Fehlen von Strukturen, die sich mit einer qualifizierten Auswertung der Informationen befassten.
Die sowjetische Militärspionage im Kalten Krieg
Der durch das Ende des 2. Weltkrieges und den Beginn des Kalten Krieges bestimmte Bedarf nach verbesserter Auswertung der Agenteninformationen veranlasste Stalin im Mai 1947 zu einer radikalen Umbildung der sowjetischen Nachrichtendienststrukturen. Die bisher eigenständig arbeitenden Spionagedienste von Staatssicherheit, Armee, Außen- und Außenwirtschaftsministerium sowie der Partei wurden nunmehr direkt dem Ministerrat unterstellt. Ein hier angesiedeltes Komitee für Information (KI) sollte zukünftig die Einsätze der zahlreichen Auslandsnachrichtendienste koordinieren und für eine kompetente Analyse der beschafften Spionageinformationen sorgen.
Gleichwohl zeigte sich relativ rasch, dass die neue Superbehörde die Erwartungen nicht erfüllte. Zum einen wirkte sich die Trennung des militärischen wie des politischen Nachrichtendienstes von ihren bisherigen Ministerien, auf deren Ressourcen sie bei Operationen und Einsätzen bislang immer wieder hatten zurückgreifen können, negativ auf die Nachrichtengewinnung im Ausland aus. Zum anderen wurde sichtbar, dass die unterschiedlichen Einsatzphilosophien und Geheimdienstmentalitäten der Mitarbeiter von Militär- und Auslandsspionage nur schwer in einer Behörde zu integrieren waren. Infolge dieser Probleme und des ständigen Kompetenzgerangels zwischen den Führungsebenen des KI gelang es der Militärführung bereits Ende 1948, die Hauptverwaltung für Aufklärung wieder aus dem Komitee herauszulösen. Stalin bevorzugte zudem weiterhin von der GRU beschaffte Originaldokumente als Grundlage für seine politischen Entscheidungen. Diese wichen jedoch häufig stark vom tatsächlichen Lagebild ab.
Unter Nikita Chruschtschow zeigte sich alsbald eine völlig neue Arbeitsweise der Auslandsgeheimdienste. Ziel dieser Maßnahmen dürfte es gewesen sein, den Einfluss der kommunistischen Partei noch weiter auszubauen. Zunächst wurde deshalb der ohnehin begrenzte Zugang der Nachrichtendienstchefs zu den politischen Entscheidungsgremien noch stärker eingeschränkt als unter seinem Amtsvorgänger Stalin. Infolgedessen reichte es nun nicht mehr aus, die Informationen der einzelnen Agenten und Quellen zusammenzustellen und ohne umfassende Analyse der politischen Führung vorzulegen. Vielmehr galt es für die Nachrichtendienste, fundierte Lageberichte über die jeweilige politische, wirtschaftliche, militärische oder rüstungswirtschaftliche Situation zu erstellen. Diese sollten als Entscheidungshilfe für die Lösung wichtiger politischer Fragen dienen.
Die von der GRU beschafften Informationen legten dem Kreml vor allem während der Berlin- und Kuba-Krise 1958–1962 die politischen und militärischen Maßnahmen des Westens in einem hohen Maße offen. Sie gewährten Einblick in fast alle wichtigen Entscheidungen der Westmächte bis hinauf in die höchsten Regierungsebenen. Für die sowjetische Politik besaßen diese Spionageerkenntnisse einen hohen Wert. Chruschtschow war dadurch klar, wie weit er mit seinem Bluff im Machtpoker gehen konnte. Damit wirkte der Militärgeheimdienst sogar mäßigend auf dessen Außenpolitik.
In den Jahrzehnten nach Chruschtschows Entmachtung blähte sich der Apparat des Militärgeheimdienstes immer weiter auf. Existierten 1953 knapp 900 Planstellen der GRU, so schätzte der US-Militärnachrichtendienst DIA Mitte der 1970er Jahre deren Größe auf 60.500 Soldaten und Offiziere. Diese Zahl schloss allerdings auch die Armee-Einheiten ein, die beispielsweise wie die Funkaufklärung dem militärischen Geheimdienst der Sowjetarmee operativ unterstanden. Die Leistungsfähigkeit verbesserte sich dadurch jedoch nicht. Ende 1990 musste der 1. Stellvertretende Chef der GRU, Vizeadmiral Igor Badejew, zugeben, dass mehr als 97 Prozent aller durch die Agenten gelieferten Dokumente aus offenen Quellen – also aus Büchern, Zeitschriften oder Zeitungen – stammten, 2,7 Prozent waren als »nur für den Dienstgebrauch« eingestuft, verfügten also über die geringste Geheimhaltungsstufe. Nur 0,3 Prozent trugen überhaupt den Vermerk »geheim«. Als am 26. Dezember 1991 die rote Fahne über dem Kreml niedergeholt wurde, ging unwiderruflich eine Ära zu Ende, die über 73 Jahre die Geschicke des militärischen Nachrichtendienstes bestimmt hatte.
Die GRU als Machtinstrument Putins
Den Zerfall der Sowjetunion überlebte die GRU trotz empfindlicher personeller und finanzieller Einschnitte weitgehend unbeschadet. Ende der 1990er Jahre gelang es ihr schließlich, personell mit ihrem Konkurrenten, dem politischen Auslandsnachrichtendienst SWR, gleichzuziehen. Beide Dienste verfügten damals jeweils über rund 11.000 Planstellen. Gleichzeitig konnte die GRU nach dem Machtantritt von Präsident Wladimir Putin den Versuch des SWR abwehren, weite Teile der Militärspionage zu übernehmen. Wohl auch aus diesem Grund fand der Militärnachrichtendienst schneller als sein ziviler Gegenspieler zu seiner »gewohnten« Angriffslust zurück. Damit gehörten aggressives und gewaltsames Vorgehen seit Beginn des neuen Jahrtausends wieder zu den »Kernkompetenzen« der GRU.
Die Probleme während des georgischen Feldzugs von 2008 – mangelhafte Aufklärung, unzureichende Ausbildung sowie schwerfällige Kommando- und Führungsstrukturen – hatten jedoch deutlich gemacht, dass die Militäraufklärung auch beträchtliche Schwächen aufwies. Diese Misserfolge machten sich Kritiker der GRU im Militär und im SWR zunutze. Der politische Auslandsnachrichtendienst argumentierte, der Geheimdienst der russischen Streitkräfte könne sich besser auf ihre taktischen Aufklärungsoperationen konzentrieren, wenn sie dem SWR die strategische Aufklärung endlich vollständig überlassen würde. Erstmals stand damit die Existenz der GRU auf dem Spiel.
Dieses Szenario trat jedoch nicht ein. Präsident Dmitrij Medwedjew ernannte 2009 Alexander Schljachturow zum neuen GRU-Chef. Der weitgehend unbekannte Geheimdienstoffizier sollte den Dienst endlich für grundlegende Reformen öffnen, um seine Effektivität zu erhöhen. Dieser Funktion wurde der General gerecht, bis zu seiner Verabschiedung Ende 2011 hatte er der Behörde schmerzhafte Einschnitte verordnet: Er entließ 80 von 100 Generälen und verringerte die Zahl der GRU-Mitarbeiter um 1000 Mann. Diese Verluste konnte sein Nachfolger Igor Sergun später allerdings wieder weitgehend rückgängig machen. Hierzu trug vor allem der von der politischen Führung als erfolgreich angesehene Einsatz der sogenannten »Grünen Männchen« bei der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krym bei. Hinter dem verharmlosenden Begriff verbargen sich Elitesoldaten der GRU, die seit Anfang März 2014 auf der Halbinsel ukrainische Verwaltungsgebäude, Polizeieinrichtungen und Kasernen besetzten. Die GRU-Führung hatte offensichtlich ihre Lehren aus dem Krieg in Georgien gezogen und legte nun Wert auf den Einsatz von hochmobilen, leichten, allzeit einsatzbereiten Brigaden der Militäraufklärung. Damit festigte der Dienst seine Position als schlagfertiges Instrument der russischen Führung für die Durchsetzung ihres Konzepts der »nichtlinearen Kriege«. Gleichfalls als Erfolge dürfte die GRU die Einsätze des Militärgeheimdienstes im Donbas und in Syrien verbucht haben. In den folgenden Jahren weitete dieser zudem seine Attacken in Westeuropa und den USA aus. Eine der spektakulärsten Operationen traf 2018 jedoch einen ehemaligen Offizier des Dienstes, der in den 1990er Jahren für Großbritannien spioniert hatte. Dort fiel Sergej Skripal, so der Name des Doppelagenten, am 4. März 2018 zusammen mit seiner Tochter einem Mordanschlag mit dem Nervengift Nowitschok zum Opfer, den beide nur knapp überlebten.
In der Öffentlichkeit stellt sich die Militäraufklärung gerne deutlich robuster dar als die Konkurrenz vom SWR. Während letzterer auf die weitgehend »geräuschlose« Arbeit seiner als Botschaftsmitarbeiter getarnten oder als »Illegale« operierenden Agenten setzt, geht der Militärgeheimdienst deutlich risikoreicher und gewaltbereiter vor. Bei der GRU kommt die Erfahrung und das Gefühl hinzu, durch die Konkurrenz in der eigenen Existenz bedroht zu sein. Folglich muss der Militärgeheimdienst aggressiver vorgehen, um seine Rolle im »Konzert« der russischen Geheimdienste weiterspielen zu können. Daraus resultiert sein Auftreten als risikobereiter und waghalsiger Akteur in allen Brennpunkten der Außenpolitik Putins.
Der Angriff gegen die Ukraine zeigte jedoch deutlich die Grenzen der Möglichkeiten der GRU. Ihr gelang es in den ersten Tagen der Invasion nicht, das mit umfangreichen finanziellen Mitteln aufgebaute Agentennetz in der Ukraine zu aktivieren, um die russischen Truppen tatkräftig zu unterstützen. Es wird geschätzt, dass sowohl der 5. Dienst des FSB als auch der GRU jeweils mehrere hundert Agenten in der Ukraine führten, die im Zuge des geplanten Angriffes vor allem Sabotageanschläge und Zersetzungsoperationen durchführen sollten. Hierfür wurde vor allem der ukrainische Sicherheitsapparat infiltriert. Das Scheitern des russischen Blitzangriffes sorgte jedoch dafür, dass die Masse der Agenten abtauchte. Statt im Zusammenspiel mit klandestinen Kräften Schlüsselobjekte zu besetzen, stießen die russischen Streitkräfte auf erbitterten Widerstand der ukrainischen Verteidiger. Die gefürchteten Cyber-Attacken des militärischen Nachrichtendienstes liefen weitgehend ins Leere und vermochten es nicht, kritische Bereiche des ukrainischen Staates und seiner Streitkräfte dauerhaft lahmzulegen. Doch auch auf den Gebieten seiner militärischen Kernkompetenzen musste die GRU empfindliche Niederlagen hinnehmen. Zu Beginn des russischen Angriffes schlugen nicht wenige Angriffe ihrer Spezialtruppen auf strategisch wichtige Objekte fehl. So scheiterte am 27. Februar 2022 der Angriff einer Einheit der 2. Speznas-Brigade der GRU, die den Auftrag hatte, die Zentrale des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU in Charkiw zu besetzen. Die 25-köpfige Gruppe wurde komplett aufgerieben. Danach fanden die Elitekrieger in zahlreichen Fällen als gewöhnliche Sturminfanterie Verwendung, was einen hohen Blutzoll zur Folge hatte. Bislang sind nachweislich knapp 700 Angehörige der Spezialtruppen der GRU, darunter 142 Offiziere, gefallen. Die Aufklärungsspezialisten sind damit an der Front gebunden und stehen nicht für die Aufgaben zur Verfügung, für die sie ausgebildet wurden: das Ausfindigmachen von Zielen mit hoher Priorität im Hinterland des Gegners. Diese Rolle wäre umso wichtiger, als es den russischen Luftstreitkräften bisher nicht gelungen ist, die strategische Luftherrschaft zu erlangen.
Spektakuläre Erfolge im Bereich der Diversionsoperationen erzielte nicht der GRU, sondern sein Pendant, die ukrainische Militäraufklärung HUR. Der russische Militärgeheimdienst vermochte es dagegen nicht, Schlüsselobjekte der kritischen Infrastruktur auszuschalten, noch konnten operativ-taktisch wichtige Waffen der Ukrainer, wie beispielsweise die Raketenwerfer vom Typ HIMARS oder die Startrampen des Flugabwehrsystems Patriot, durch Angriffe von Kommandokräften in größerer Zahl außer Gefecht gesetzt werden.
Gleichwohl ist Putin weiter auf seinen militärischen Nachrichtendienst angewiesen, verfügt doch nur die GRU innerhalb des russischen Geheimdienstsystems über die gesamte Palette an nachrichtendienstlichen Fähigkeiten. Die GRU kann sowohl auf Agenten und Spione (Human Intelligence/HUMINT), die Aufklärungsdaten von Satelliten, Drohnen und Flugzeugen (Imagery Intelligence/IMINT bzw. Geospatial Intelligence/GEOINT), die technische Erfassung und wissenschaftliche Auswertung der aufgefangenen Daten von Waffentests (Measurement and Signature Intelligence/MASINT) sowie die Sammlung und Analyse von elektronischen Signalen zur nachrichtendienstlichen Auswertung (Signal Intelligence/SIGINT) zurückgreifen. Hinzu kommen die Auswertung von offenen Quellen (Open-source Intelligence/OSINT) sowie die Technologiespionage (Technical Intelligence/TECHINT). Cyber Intelligence/CYBINT spielt weiterhin eine zunehmend wichtige Rolle bei der Gewinnung nachrichtendienstlicher Informationen aus dem Cyberspace. Zudem verfügt die GRU mit ihren Speznas-Brigaden über hochgerüstete und umfassend ausgebildete Spezialkräfte, die für die Erfüllung geheimdienstlicher Aufgaben bereitstehen. Es ist davon auszugehen, dass der russische Militärgeheimdienst auch im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts eine gefährliche Waffe der politischen und militärischen Führung Russlands bleiben wird.