Zwangsmobilmachung und »verdeckte Mobilmachung«
Seit dem Beginn der Vollinvasion hat Russland an der Front schwere Verluste erlitten. Mediazona und BBC Russia konnten bis Anfang Dezember 2024 die Namen von 82.050 Gefallenen verifizieren und schätzen, dass die tatsächliche Zahl bei mindestens 120.000 liegt.[1] Damit liegt der Blutzoll Russlands nach zweieinhalb Jahren Krieg bereits zehnmal höher als der der Sowjetunion in zehn Jahren Afghanistankrieg. Einschließlich der Verwundeten schätzt NATO-Generalsekretär Mark Rutte die russischen Verluste bis Oktober 2024 sogar auf 600.000 Mann.[2] Neben der zahlenmäßigen Überlegenheit im Abnutzungs- und Zermürbungskrieg gegen die Ukraine strebt der Kreml weiter danach, sein Militärpotential so auszubauen, dass es effektiv als Drohkulisse gegen westliche Länder und die NATO eingesetzt werden kann. Infolgedessen hat Putin die Sollstärke der russischen Streitkräfte schrittweise von einer Million vor der Vollinvasion auf 1,5 Millionen bis Ende 2024 erhöht. Um diese Ziele zu erreichen, muss Russland nicht nur die enormen Kriegsverluste kompensieren, sondern gleichzeitig eine große Zahl neuer Soldaten rekrutieren. Die Herausforderung dürfte umso größer sein, als die Zahl der aktiven Soldaten im Jahr 2021 vor der Vollinvasion 900.000 statt einer Million betrug und damit nur ca. 90 Prozent der offiziellen Sollstärke entsprach.[3] Die Lücke dürfte sich seit dem Krieg noch erheblich vergrößert haben. Recherchen von iStories und CIT-Team zeigen, dass statt der vom Verteidigungsministerium angegebenen 640.000 Vertragssoldaten bis April 2024 offenbar nur 426.000 sogenannte kontraktniki rekrutiert worden sind.[4]
Bei der Rekrutierung verfolgt die russische Führung zwei Strategien, die sich auf drei verschiedene Kategorien von militärischem Personal konzentrieren. Der erste Weg besteht in der Zwangsmobilmachung. Am 21. September 2022 berief Putin 300.000 Männer ein. Diese Maßnahme war unpopulär, löste in der Bevölkerung Angst und Wut aus und führte dazu, dass Hunderttausende Männer das Land verließen. Obwohl der damalige Verteidigungsminister Sergej Schojgu Ende Oktober 2022 erklärte, dass die sogenannte »Teilmobilmachung« abgeschlossen wäre, werden die überlebenden mobilisierten Soldaten bis heute im Kriegsgebiet eingesetzt, da Putins Erlass keine zeitliche Begrenzung vorsieht und nicht offiziell widerrufen wurde.
Angesichts des Risikos wachsender Unzufriedenheit im Inneren aufgrund einer erneuten Zwangsmobilmachungsrunde beschloss der Kreml, die sogenannte »verdeckte Mobilmachung« zu forcieren. Dieser Begriff bezieht sich auf die Anwerbung von militärischem Personal auf, formal gesehen, freiwilliger Basis. Diese Rekruten lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: reguläre Soldaten, die für eine bestimmte Zeit auf Vertragsbasis in den Streitkräften dienen (kontraktniki), und Kämpfer aus einem breiten Spektrum bestehender oder neu gegründeter Freiwilligenformationen. Angesichts der zunehmenden Probleme, neue kontraktniki zu rekrutieren und bereits dienende kontraktniki zur Vertragsverlängerung zu motivieren, erschließen Freiwilligenformationen neue Rekrutierungsquellen. Damit gewinnen sie als flexibles Instrument zur schnellen Anwerbung von Kämpfern für die Front an Bedeutung. Nach Angaben von Mediazona und BBC Russia hatten die freiwilligen Kämpfer – neben Gefängnisinsassen, die bis Mai 2023 von Wagner rekrutiert wurden – seit dem Frühsommer 2022 die größten Verluste zu verzeichnen.
Ein Flickenteppich von Freiwilligenformationen
Zu Beginn der Vollinvasion griff die russische Führung auf bestehende Strukturen wie »private« Militärfirmen (PMCs), Donbass-Milizen und Kosakengruppen zurück. Schnell ging der Kreml aber dazu über, die Gründung neuer Einheiten zu fördern. Infolgedessen entstand ein Flickenteppich von Freiwilligenstrukturen mit unterschiedlichem Rechtsstatus, heterogenen Finanzierungs- und Rekrutierungsgrundlagen sowie einem unterschiedlichen Maß an operativer Autonomie gegenüber dem Verteidigungsministerium und dem Generalstab. Die verfügbaren Daten erlauben keinen umfassenden Vergleich in Bezug auf Größe, Vertragsbedingungen, Ausrüstung, Bewaffnung und Ausbildung der verschiedenen Einheiten. Die größten Formationen waren bzw. sind dabei die Wagner-Truppen (vor dem Aufstand) und die Kosakeneinheiten, die jeweils über rund 50.000 Kämpfer in der Ukraine verfügten bzw. verfügen. Während Kämpfer aus den Kosakeneinheiten in Bezug auf ihren Ausbildungsstand homogener zu sein scheinen, waren die Unterschiede bei den Wagner-Söldnern deutlich größer. Die Wagner-Truppe bestand im Kern aus mehreren Tausend erfahrenen Söldnern, die Mehrheit der für Wagner in der Ukraine kämpfenden Männer stellten jedoch Gefängnisinsassen ohne militärische Ausbildung. Auch die Kadyrowzy sind hinsichtlich ihres rechtlichen Status und ihrer Zusammensetzung heterogen. Die meisten der seit langem bestehenden tschetschenischen Einheiten sind formal der Nationalgarde unterstellt, während die nach 2022 geschaffenen Einheiten dem Verteidigungsministerium unterstehen. Die meisten der Kämpfer stammen aus Tschetschenien, mit Ausnahme des Bataillons der Spezialkräfte Achmat, in dem 90 Prozent der Kämpfer Russen von außerhalb Tschetscheniens sind. Im August 2024 behauptete Kadyrow, er habe 40.000 Kämpfer in den Krieg geschickt, darunter 19.000 Freiwillige. Dabei ist zu beachten, dass die Kämpfer nur einen Viermonatsvertrag unterschreiben. Verlängert ein Söldner seinen Vertrag, so wird diese Unterschrift in der Statistik wie ein neuer Vertrag geführt, wodurch Kadyrow die Gesamtzahl der Kämpfer künstlich in die Höhe treibt.[5] Andere Freiwilligeneinheiten bestehen nur aus einigen Dutzend bis hundert Kämpfern; regionale Freiwilligenbataillone bestehen in der Regel aus jeweils rund 400 Mann. Die Tatsache, dass das Durchschnittsalter der freiwilligen Kämpfer während der Vollinvasion deutlich stieg und die Anforderungen an deren körperliche und geistige Gesundheit massiv gesenkt wurden, zeigt deutlich, dass es bei der Rekrutierung von freiwilligen Kämpfern in erster Linie um Quantität und nicht um Qualität geht.
(Pseudo-) private Militärunternehmen
Die vielfältigste Gruppe in Bezug auf Rekrutierung, Finanzierung und operative Kontrolle sind die »privaten« Militärunternehmen. Sie sind nach Paragraph 359 des russischen Strafgesetzbuchs illegal. Dort wird die Gründung, Finanzierung und Rekrutierung irregulärer Einheiten verboten, weshalb die Söldnertruppen entweder im Ausland registriert sind oder sich als private Sicherheitsunternehmen in Russland registrieren lassen, denn diese sind gesetzlich erlaubt. Als Nachzügler im globalen Geschäft der privaten Militärunternehmen gewannen russische Söldnertruppen spätestens seit den 2010er Jahren an Sichtbarkeit und Bedeutung. Während sich die meisten von ihnen zunächst auf Dienstleistungen wie Personenschutz oder die Bekämpfung von Piraterie konzentrierten (Moran Security, RSB Group) oder militärische Beratung und Ausbildung für ausländische Streitkräfte anboten, wurde der Beginn des Ukraine-Krieges 2014 zu einem Wendepunkt. Söldner von Wagner und E.N.O.T. nahmen an Kampfeinsätzen an der Seite der prorussischen Kräfte im Donbass teil. Danach schossen russische Söldnertruppen wie Pilze aus dem Boden und begannen, ihre Aktivitäten und ihr Einsatzgebiet erheblich auszuweiten, das sich nun von der Ukraine bis nach Syrien, Libyen und Afrika südlich der Sahara erstreckt.
Bis zur Vollinvasion in der Ukraine im Jahr 2022 wurde die Beziehung zwischen den Söldnertruppen und dem Kreml häufig als eine besondere Form der öffentlich-privaten Partnerschaft beschrieben, die auf dem Versprechen beruht, dass die Eigner der PMCs ihre privaten Geschäftsinteressen verfolgen können, wenn sie gleichzeitig die geopolitischen und militärischen Interessen des Kremls mehren: indem der Einfluss Russlands in Regionen ausgeweitet wird, in denen Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr präsent war; indem sie als militärischer »force multiplier« für die regulären Streitkräfte dienen und indem sie es dem Kreml ermöglichen, Russlands militärische Aktivitäten im Ausland (plausibel) abzustreiten. Im Jahr 2012 lobte Putin die Söldnertruppen als ein potenzielles »Instrument zur Verwirklichung nationaler Interessen ohne direkte Beteiligung der Regierung«. Trotz undurchsichtiger Eigentums- und Managementstrukturen unterhielten viele PMCs zudem von Anfang an enge Verbindungen zu russischen Geheimdiensten wie dem FSB und der GRU und dem Verteidigungsministerium, deren Ausbildungseinrichtungen sie unter anderem nutzten und von denen sie militärische Ausrüstung bezogen. Einige Militärunternehmen wie Patriot, Redut und Schtschit können sogar als reine Tarnorganisationen des Verteidigungsministeriums und der GRU eingestuft werden.
Die groß angelegte Invasion veränderte das Interessenkalkül des Kremls sowie der Söldnertruppen und ihrer Sponsoren. Das Prinzip der (plausiblen) Abstreitbarkeit verlor an Bedeutung. Viel bedeutsamer war jetzt, über die PMCs neue Rekrutierungskanäle erschließen zu können und die Söldner in den verlustreichen Kämpfen an der Front einsetzen zu können, um so die Verluste unter den regulären Soldaten zu reduzieren. Das neue Militärunternehmen Española rekrutiert beispielsweise unter Fußball-Hooligans, während Andrejewskij Krest gezielt orthodoxe Gläubige anwirbt. Prigoschin wiederum war der Erste, der ab August 2022 massenhaft Gefängnisinsassen rekrutierte und mit der Taktik, Söldner in nicht enden wollenden Wellen gegen die ukrainischen Verteidigungslinie in der Schlacht um Bachmut zu peitschen, Zehntausende Männer verheizte.
Kosaken, pro-russische Milizen und die russisch-orthodoxe Kirche
Während monetäre Anreize wie hohe Anwerbeprämien und Soldzahlungen bei der Rekrutierung von kontraktniki und Söldnern eine entscheidende Rolle spielen, dürften bei der Rekrutierung »patriotisch«-nationalistischer Kräfte eher ideologische Motive ausschlaggebend sein. Bislang zeigt Putin eine ambivalente Haltung gegenüber diesem Milieu. Einerseits spricht er sie gezielt im Rahmen der »patriotisch«-militärischen Erziehung der Gesellschaft an. Andererseits lässt er Skepsis walten gegenüber Personen und Gruppen, die seine Kriegsführung in der Ukraine als zu zögerlich kritisieren. Daher setzt der Kreml bei der Rekrutierung auf »patriotische« Kräfte, die als loyal gelten. Dazu gehören pro-russische Milizen wie die Union der Donbass-Freiwilligen, die russisch-orthodoxe Kirche und Kosaken, die seit 2014 in der Ukraine für Russland kämpfen. In der Tradition der kriegerischen Bauern im zaristischen Russland sind »Patriotismus«, Militarismus und das orthodoxe Christentum die zentralen Werte der Kosaken. Nach Angaben der Allrussischen Kosakengesellschaft kämpften zwischen Februar 2022 und Ende Juli 2024 50.000 Kosaken in der Ukraine.[6] Im April 2024 wurde ein Gesetz zur Schaffung einer Kosakenreserve von 60.000 Mann verabschiedet. Darüber hinaus drängen sowohl der Kreml als auch die Allrussische Kosakengesellschaft auf die Gründung neuer Kosakenorganisationen in besetzten Gebieten wie Cherson und Saporischschja, um die russische Besatzungsherrschaft zu festigen.
Freiwilligenorganisationen, die mit russischen Regionen und Unternehmen verbunden sind
Während Söldnertruppen, Milizen und Kosakentruppen bereits vor der umfassenden Invasion in der Ukraine existierten, entstanden zwei neue Kategorien von Freiwilligenformationen erst danach. Im Juli 2022 wies die russische Regierung die Gouverneure der 85 Subjekte der Russischen Föderation (einschließlich der rechtswidrig annektierten Krym und Sewastopol) an, Bataillone mit jeweils 400 Mann zu bilden. Das Modell der Lastenteilung zwischen dem föderalen Zentrum und den Regionen sah vor, dass Gouverneure und regionale Geschäftsleute Anwerbeprämien und Ausrüstung finanzieren, während die regulären Gehälter vom Verteidigungsministerium gezahlt werden. Da die Prämien von Region zu Region sehr unterschiedlich ausfallen, werden in einigen Freiwilligenbataillonen – wie etwa dem »Sobjanin-Regiment« in Moskau – nicht nur Männer aus diesen Regionen rekrutiert, sondern auch solche, die aus anderen Gebieten Russlands stammen. Da die Regionen dabei lediglich als »Dienstleister« und verlängerter Arm für die Rekrutierung und die Finanzierung der Einheiten benutzt werden, trifft der Begriff »Gouverneursarmeen« nicht zu. Eine Ausnahme gibt es jedoch: die Kadyrowtsy. Bereits lange vor der Vollinvasion hatte das Oberhaupt der Republik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, seine Privatarmee aufgebaut. Obwohl ihre Einheiten nominell der Nationalgarde – und in geringerem Maße dem Verteidigungsministerium – unterstehen, ist es in Wirklichkeit Kadyrow, der den Rekrutierungs- und Ausbildungsprozess in Tschetschenien kontrolliert. So werden die Kämpfer beispielsweise an der nach Wladimir Putin benannten Universität der russischen Spezialeinheiten in Gudermes ausgebildet. Anders als der Name vermuten lässt, handelt es sich dabei aber nicht um eine Einrichtung des russischen Verteidigungsministeriums oder der Nationalgarde. Vielmehr ist sie formal eine private Einrichtung unter den Auspizien Kadyrows, über die die Loyalität der dort ausgebildeten Kämpfer und Soldaten gegenüber Kadyrow sichergestellt wird. Kadyrow schaffte es auch nach der Vollinvasion, aus den Forderungen des Zentrums Vorteile für sich herauszuschlagen. Als die russische Regierung im Sommer 2022 die Regionen aufforderte, jeweils ein Freiwilligenbataillon für den Kampf in der Ukraine aufzustellen, hob er gleich vier neue Bataillone aus der Taufe (die Achmat-Bataillone Ost, Nord, West und Süd). Damit zeigte er sich nicht nur als treuer Gefolgsmann Putins, sondern vergrößerte gleichzeitig die Anzahl der ihm allein loyal gesinnten Truppen.
Darüber hinaus haben (halb-)staatliche und private Unternehmen seit Sommer 2022 Freiwilligenbataillone gebildet. Gazprom (Potok, Plamja, Fakel), Roskosmos (Uran) und Rusal (Sokol) rekrutieren unter ihren Mitarbeitern und Sicherheitsunternehmen Kämpfer für die Front. Darüber hinaus sollen sich wohlhabende Einzelpersonen und Unternehmer wie Gennadij Timtschenko, Oleg Deripaska, Konstantin Malofejew und Igor Altuschkin aktiv an der (Mit-)Finanzierung unterschiedlicher Freiwilligeneinheiten beteiligen.[7]
Lehren aus dem Wagner-Aufstand
Durch die Nutzung bestehender und die Schaffung neuer Freiwilligenformationen konnte die russische Führung schnell eine große Zahl von Kämpfern rekrutieren und gleichzeitig die finanziellen Lasten mit Regionen, Konzernen und Einzelunternehmern teilen. Die »Proxyfizierung« von Gewaltstrukturen birgt jedoch auch Risiken für Putins Regime und den russischen Staat. Diese Risiken reichen von eher praktischen Fragen der militärischen Interoperabilität auf dem Schlachtfeld (aufgrund unterschiedlicher militärischer Ausbildung und Ausrüstung) über eine unzureichende Kontrolle der einzelnen Strukturen durch das Verteidigungsministerium bis hin zur Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols. Der Wagner-Aufstand hat diese Herausforderungen verdeutlicht und im Nachgang zu Anpassungen im Umgang mit Freiwilligenverbänden geführt.
Im Frühjahr 2023 eskalierte der Streit über die Verteilung von Ressourcen und Kompetenzen zwischen Prigoschin und dem damaligen Verteidigungsminister Schojgu zu einem offenen Machtkampf. Als Prigoschin dazu überging, nicht mehr nur die militärische Führung als inkompetent und dekadent zu kritisieren, sondern Putins Begründung für die groß angelegte Invasion in Frage zu stellen, stellte er auch Putins Macht offen in Frage. Der Konflikt eskalierte endgültig, als Prigoschin den Befehl Schojgus verweigerte, wonach alle Freiwilligenformationen bis zum 1. Juli 2023 einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abzuschließen hatten. Am 23. Juni 2023 setzte Prigoschin mit einem Teil seiner Wagner-Söldner zum »Marsch der Gerechtigkeit« Richtung Moskau an und wagte den offenen Machtkampf.
Nachdem der Kreml den Aufstand erfolgreich niedergeschlagen hatte, wurde das »Wagner-Modell« zerstört. Unter den Freiwilligenverbänden war Wagner insofern einzigartig, als dessen spezielle öffentlich-private Partnerschaft mit dem Verteidigungsministerium und dem Kreml weitreichende Freiheiten für Prigoschin beinhaltete: unabhängige Rekrutierungsquellen (es wurde ihm das Recht eingeräumt, Gefängnisinsassen staatliche Amnestie als Gegenleistung für den Dienst bei Wagner anzubieten), eigenständige Kommandostrukturen an der Front und direkte Kontrolle über die vom Verteidigungsministerium stammenden Finanzmittel. Dadurch konnte Prigoschin auf persönlicher Loyalität beruhende Beziehungen zu seinen Kommandeuren aufbauen. Darüber hinaus war Wagner in das weit verzweigte Unternehmensnetzwerk eines Gewaltunternehmers eingebunden, der als politischer Außenseiter die Ambition verfolgte, in den inneren Kreis von Putins Machtzirkel zu gelangen. Nach der Niederschlagung von Prigoschins Aufstand wurde sein Geschäftsnetzwerk zerstört, und im August 2023 starb er zusammen mit dem Gründer von Wagner, Dmitrij Utkin, bei einem Flugzeugabsturz. Die Wagner-Söldner wurden vor die Wahl gestellt, entweder Verträge mit dem Verteidigungsministerium (oder der Nationalgarde) zu unterzeichnen oder nach Belarus ins Exil zu gehen. Wagner wurde als kämpfende Söldnertruppe aufgelöst, obwohl der Markenname und eine kleine Einheit unter der Führung von Prigoschins Sohn Pawel in den Reihen der Nationalgarde weiter bestehen.
Das Verteidigungsministerium und der Generalstab nutzten diese Gelegenheit, um eine stärkere Kontrolle aller Freiwilligenverbände durchzusetzen. Zu diesem Zweck mussten entweder die Freiwilligenverbände oder die einzelnen Kämpfer Verträge mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnen, wodurch sogar die bisher illegalen »privaten« Militärunternehmen und ihre Söldner de facto legalisiert wurden. Die Querfinanzierung durch Geschäftsleute und regionale Akteure wird nach wie vor gefördert und erwartet, aber die Geldströme zu den Freiwilligenverbänden werden nun über das Verteidigungsministerium geleitet. Dies hat zur Folge, dass die Verbindungen zwischen den Sponsoren und den Kommandeuren geschwächt wurden. Darüber hinaus wurden die Freiwilligenformationen administrativ drei größeren Organisationen unterstellt, die vom Verteidigungsministerium und/oder der GRU kontrolliert werden: BARS, das »Freiwilligen-Expeditionssturmkorps« und das »Afrikakorps«.[8] Ursprünglich wurde BARS 2015 als »Kampfreserve der Armee« zur Ausbildung von Reservisten gegründet, heute wird unter dem Label BARS aber auch ein breites Spektrum von Einheiten gefasst, die in der Ukraine kämpfen. Hierzu gehören Einheiten, die aus zwangsmobilisierten Soldaten vom September 2022 bestehen, regionale Freiwilligeneinheiten sowie Freiwilligenformationen, die eher ideologisch motiviert sind, wie Teile der Union der Donbass-Freiwilligen, die Zarenwölfe oder Einheiten der Allrussischen Kosakengesellschaft. Während das BARS-System als formale Dachorganisation für verschiedene Einheiten beschrieben werden kann, ohne dass sich das Verteidigungsministerium zu sehr in deren interne Strukturen einzumischen scheint, spiegelt die Gründung des Freiwilligen-Expeditionssturmkorps im Jahr 2023 eindeutig den Wunsch der russischen Militärführung wider, ihre administrative und operative Kontrolle über alle in der Ukraine kämpfenden Freiwilligen- und Söldnergruppen zu verbessern. Unter der Leitung von Generalleutnant Wladimir Alexejew (GRU) hat die neue Struktur die Aufgabe, die Interoperabilität der verschiedenen Einheiten in den Bereichen Ausbildung und Führungsstrukturen zu verbessern.[9] Das Afrikakorps wiederum wurde 2023 von der GRU gegründet, um vor allem die Aktivitäten von Wagner in Afrika zu übernehmen. BARS, das Freiwilligen-Expeditionssturmkorps und das Afrikakorps nutzen pseudo-private Militärunternehmen wie Redut oder Konwoj, die de facto vom Verteidigungsministerium und der GRU kontrolliert werden, als Tarnorganisationen, um freiwillige Kämpfer zu rekrutieren. Diese undurchsichtige Struktur spiegelt den Wunsch wider, so viele Rekrutierungs- und Finanzierungskanäle wie möglich offen zu halten, um weiterhin eine möglichste große Bandbreite an Freiwilligen anzusprechen, die Verteilung der finanziellen Lasten aufrechtzuerhalten und gleichzeitig Interoperabilität zu fördern und Kontrolle zu gewährleisten.
Risiken für die Regimestabilität?
Trotz der formalen Unterordnung unter die staatlichen Strukturen sind die Risiken für eine weitere »Proxyfizierung« von Gewaltstrukturen nicht vollständig beseitigt. Unter Umständen könnten sie sogar zunehmen. Schließlich hat eine große Zahl von Akteuren außerhalb der regulären Streitkräfte und der GRU nun Erfahrungen in ganz unterschiedlichen Bereichen der »verdeckten Mobilmachung« gewonnen, von der Finanzierung über administrative Fragen wie der Abwicklung von Rekrutierungs- und Beschaffungsprozessen bis hin zum Aufbau oder der Stärkung von Verbindungen zu Gruppen, die bereits über langjährige Erfahrungen im Bereich der Proxy-Strukturen verfügen.
Obwohl die meisten Akteure die Gründung und Finanzierung von Freiwilligenverbänden in erster Linie als ein Mittel betrachten, um ihre Loyalität gegenüber dem Präsidenten unter Beweis zu stellen, dienen sie zunehmend auch dazu, ihre eigene Stellung innerhalb der Eliten zu demonstrieren. Unter bestimmten Umständen ist nicht auszuschließen, dass sich Freiwilligenverbände und Söldner zu einem Instrument zum Schutz partikularer Interessengruppen wandeln. Damit ein solches Szenario eintritt, müssten allerdings drei Faktoren zusammentreffen: Erstens ein politisch oder gesundheitlich angeschlagener Präsident und eine profunde Nachfolgekrise, zweitens eine offene Eskalation der Konflikte innerhalb der Elite, die sonst nur unter der Oberfläche schwelen, und drittens eine massive Schwächung der Sicherheitsdienste und Streitkräfte. In einer solchen Situation könnten einzelne Akteure oder Akteursgruppen auf ihre gesammelten Erfahrungen bei der Rekrutierung von Freiwilligenstrukturen zurückgreifen und/oder ihre Kontakte zu bestehenden Gewaltstrukturen nutzen, um ihre Position zu sichern oder zu stärken. Regionale Freiwilligenverbände könnten zu Gouverneursarmeen werden; die Militärunternehmen großer Konzerne und reicher Einzelpersonen könnten deren Interessen mit Gewalt absichern. Ein solches Szenario würde jedoch erfordern, dass auch die dritte Voraussetzung gegeben ist: eine Schwächung der regulären Streitkräfte und der Zusammenbruch der zentralen Kontrolle über die Sicherheitsstrukturen. Realistischer erscheint eine abgeschwächte Version dieses Szenarios. Angesichts der neofeudalen Beziehung zwischen Putin und Kadyrow könnte ein Führungswechsel in Moskau den tschetschenischen Herrscher dazu verleiten, die Kadyrowzy zu nutzen, um das bestehende Beziehungsmodell zu seinem Vorteil neu auszuhandeln, indem zum Beispiel die Beteiligung der Kadyrow-Einheiten an Kriegen Russlands als Drohung eingestellt würde, die Einheiten des tschetschenischen Präsidenten föderale Einrichtungen in Tschetschenien besetzen und/oder mit der gewaltsamen Abspaltung Tschetscheniens drohen.
Solange jedoch nicht alle diese Voraussetzungen erfüllt sind und die Machtvertikale des Präsidenten unangefochten bleibt, gibt es für Putin keinen zwingenden Grund, das derzeitige Modell der Freiwilligenverbände als Mittel zum Sieg im Krieg gegen die Ukraine grundsätzlich in Frage zu stellen. Im polyzentrischen System der russischen Sicherheitsstrukturen stellt der Wettbewerb zwischen den einzelnen Strukturen, der bewusst durch überlappende Zuständigkeiten und Finanzierungskanäle gefördert wird, ein wichtiges Instrument zu deren Kontrolle durch den Präsidenten dar. Vor diesem Hintergrund könnte Putin die Vielfalt der Freiwilligenformationen auch als Versicherung gegen ein Erstarken des Militärs in Kriegszeiten nutzen.
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Verweise
[1] https://en.zona.media/article/2022/05/20/casualties_eng
[2] https://www.nato.int/cps/en/natohq/opinions_230105.htm
[3] https://www.iiss.org/publications/the-military-balance/the-military-balance-2022/
[4] https://istories.media/en/stories/2024/08/01/more-soldiers-at-all-costs/
[5] https://novayagazeta.eu/articles/2024/09/04/an-army-of-one-en
[6] https://vsko.ru/16345-2
[7] https://www.themoscowtimes.com/2023/04/04/russian-copper-billionaire-bankrolling-military-unit-fighting-in-ukraine-a80702
[8] https://static.rusi.org/SR-Russian-Unconventional-Weapons-final-web.pdf
[9] https://mayak-intelligence.com/wp-content/uploads/2024/10/report-prigozhins-children.pdf