Die Entwicklung der russischen Hochschullandschaft zeigt, dass das Land nicht in der Lage war, den Aufschwung der Wissenschaftsfreiheit der 1990er Jahre aufrechtzuerhalten. Die durch die Öleinnahmen finanzierten Reformen der 2000er Jahre beförderten die internationale Integration, unter anderem durch den Beitritt zum Bologna-Prozess. Die Forschungskapazitäten der Universitäten in Russland wurden ausgebaut. Diese Reformen gingen aber zu Lasten der universitären Autonomie und der demokratischen Wissenschafts- und Hochschulverwaltung. Die institutionelle Autonomie russischer Hochschuleinrichtungen blieb jahrelang eines der schwächsten Merkmale der Wissenschaftsfreiheit in Russland. Das hat die Anstrengungen des Staates erleichtert, wieder mehr Kontrolle auszuüben und die ursprüngliche Demokratisierung und Liberalisierung umzukehren.
Nach Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine im Jahr 2014 und insbesondere nach Beginn der Vollinvasion von 2022 ist die Wissenschaftsfreiheit in Russland beträchtlich erodiert. Die Freiheit von Forschung und Lehre wurde durch verstärkte Repressionen, Ideologisierung und Kriegszensur drastisch eingeschränkt. Wissenschaftler:innen und Studierende üben Selbstzensur und sehen sich administrativem Druck oder sogar einer Strafverfolgung ausgesetzt. Gleichzeitig befördern neue ideologische Pflichtkurse antiukrainische Narrative und militaristische Propaganda. Die Freiheit des wissenschaftlichen Austauschs und der Verbreitung von Forschungsergebnissen ist ganz erheblich beschnitten worden. Internationale Verlage und Institutionen brachen ihre Kontakte zu russischen Wissenschaftler:innen ab. Der Ausstieg aus dem Bologna-System hat die russische Wissenschaft zusätzlich isoliert. Die institutionelle Autonomie ist erodiert, weil der Staat zunehmend in die Verwaltung und die Lehrpläne eingreift und militarisierte Aufsichtsgremien innerhalb der Universitäten installiert. Darüber hinaus erfolgte ein drastischer Rückgang der Campus-Integrität, da sich die russischen Universitäten zu streng überwachten Räumen mit einer umfassenden Infrastruktur für Repressalien und Überwachung gewandelt haben. Dissens wird entschlossen unterdrückt, wodurch eine Atmosphäre der Angst erzeugt wird. Die Freiheit der wissenschaftlichen und kulturellen Meinungsäußerung hat am stärksten gelitten. Die Kriegszensur hat Stellungnahmen gegen den Krieg kriminalisiert, wobei Wissenschaftler:innen und Studierenden harte Strafen drohen (die von Entlassung bis hin zu Gefängnisstrafen reichen). Dieser repressive Druck wird durch den Staat, die Universitätsverwaltungen und illiberale politische Graswurzelbewegungen ausgeübt. Die politische Verfolgung innerhalb von Bildungseinrichtungen erfolgt unter anderem durch Denunziationen, den Einsatz von Ethikkommissionen und durch administrative Maßnahmen. Damit sollen oppositionelle und gegen den Krieg gerichtete Aktivitäten bestraft werden; auch Polizei und Justiz greifen unmittelbar ein.
Zensur und Selbstzensur dominieren nun das akademische Leben und beeinflussen die Forschungsagenda. Die Grundzüge der akademischen Integrität scheinen zwar erhalten geblieben zu sein, doch versuchen die Wissenschaftler:innen, sich in »neutralen« Forschungsgebieten zu verstecken oder eine Diskussion heikler Themen auf ein Minimum zu reduzieren. Die Sozial– und Geisteswissenschaften sind besonders betroffen, da die Ergebnisse dort durch ideologischen Konformismus beeinträchtigt werden.
Trotz all dieser Umstände stellen sich einige russische Wissenschaftler:innen und Studierende gegen Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und versuchen, versteckte Proteste oder Widerstandsaktionen zu organisieren.[1] Sie verfassen offene Briefe gegen das militärische Vorgehen Russlands in der Ukraine[2] oder fordern von ihren Rektor:innen, dass diese ihre Unterschrift unter dem Brief des Verbands der Rektor:innen zur Unterstützung der Vollinvasion in die Ukraine zurückziehen.[3]
Eine andere Strategie bestand für russische Wisschenschaftler:innen darin, Zuflucht in einem anderen Land zu suchen. Die volle Dimension dieser Entwicklung ist zwar nur schwer abzuschätzen, aber es ist doch offensichtlich, dass gerade jene, die einst als Brücke der russischen Wissenschaft hin zur Integration in die globale Forschungslandschaft fungiert hatten, aus dem Land geflohen sind.[4] Russische Wissenschaftler:innen erfahren im Exil oft eine Marginalisierung, vor allem durch beschränkte Möglichkeiten in Bezug auf den Erhalt von Visa und die finanzielle Grundlage ihrer Forschungstätigkeit. Die russische Regierung geht weiterhin gegen dissidentische Wissenschaftler:innen vor, indem diese als »ausländische Agenten« und deren Initiativen als »unerwünschte Organisationen« gebrandmarkt werden. Dennoch gibt es Wissenschaftler:innen, die unentwegt versuchen, außerhalb Russlands alternative Bildungs- und Forschungsinitiativen wie die »Freie Universität«, »Smolnyj ohne Grenzen«, den »Boris Nemzow Master« für Russlandstudien an der Karlsuniversität Prag oder »Wissenschaftsbrücken« (auf Russisch: Akademitscheskije Mosty) zu starten. Sie alle setzen sich für einen Beitrag zur globalen Wissenschaft und für Resilienz gegen Repressionen ein, um jetzt schon einen Beitrag für eine möglicherweise offenere Zukunft der russischen Wissenschaft zu leisten.
Eine Unterstützung russischer Wissenschaftler:innen im Exil, etwa durch vereinfachten Erhalt von Visa, Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigungen über zwei Jahre hinaus, Mentor:innenprogramme, subventionierte Sprachkurse und Möglichkeiten zum Networking würde ihrer Integration in die lokalen Wissenschaftslandschaften dienlich sein. Im Zusammenspiel mit der Förderung von gemeinsamen Forschungs– und Bildungsprojekten mit unabhängigen Wissenschaftsplattformen der russischen Diaspora könnten solche Maßnahmen eine unabhängige russische Wissenschaft bewahren und deren Stellung bei der zukünftigen Entwicklung der russischen Gesellschaft stärken.
Quelle: SCIENCE AT RISK Monitoring Report. Academic Freedom in Russia: State Repression and its Influence on Academic Practice, Dezember 2024, https://science-at-risk.org/wp-content/uploads/2024/12/Report_Russia_2024_print_09.12.2024.pdf, S. 38–39.
Verweise
[1] Zavadskaya, Margarita, and Theodore Gerber. “Rise and fall: social science in Russia before and after the war.” Post-Soviet Affairs 39, no. 1-2 (2023): 108–120.
[2] So sammelte beispielsweise ein offener Brief russischer Wissenschaftler:innen und Wissenschaftsjournalist:innen 8.489 Unterschriften; https://www.t-invariant.org/2022/02/we-are-against-war/.
[3] Dubrovskiy, D. (2022). War and the academic community in Russia. Baltic Worlds, 15(1), 38–44.
[4] Chankseliani, Maia, and Elizaveta Belkina. “Academic Exodus from Russia: Unravelling the Crisis.” Journal of Comparative & International Higher Education 16, no. 3 (2024): 97–105.