Wie Putin die russische Nomenklatura beherrscht

Von Fabian Burkhardt (Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung), Maiia Guseva (Universität Münster), Mariia Zheleznova (Universität Bologna)

Zusammenfassung
In dieser Analyse wird untersucht, mit welchen Strategien Wladimir Putin die russische Neo-Nomenklatura beherrscht. Grundlage ist ein Datensatz von stellvertretenden Minister:innen und stellvertretenden Leiter: innen der föderalen Exekutivbehörden in den Jahren 2018 bis 2024. Putin beherrscht diese funktionale Bürokratie mit einer Kombination aus verstärktem Schüren von Angst, konsistenten Karriereanreizen und stringenter Sozialisierung. Trotz einer deutlichen Zunahme der Repressionen im Jahr 2024 zeigen unsere Ergebnisse, dass die Kernmechanismen der Elitenrekrutierung, innersystemischen Mobilität und Rotation nach Entlassungen in den ersten Jahren seit der Vollinvasion in die Ukraine weitgehend bestehen geblieben sind. Diese Mischung aus Anpassungsfähigkeit und Kontinuität beim Umgang mit der russischen Nomenklatura trägt zur Resilienz des Regimes im Krieg bei.

Dynastien und Neo-Nomenklatura

Pawel Fradkow wurde im Juni 2024 zum stellvertretenden Verteidigungsminister ernannt, kurz nachdem Verteidigungsminister Sergej Schojgu durch Andrej Beloussow ersetzt worden war. Wie Beloussow, dessen Vater Rem Beloussow als sowjetischer Ökonom bei Gosplan und Berater für die Kossygin-Reformen tätig war (Burkhardt 2024), stammt auch Fradkow aus einer bedeutenden Nomenklatura-Familie. In den 1980er Jahren war Pawels Vater, Michail Fradkow, ein hochrangiger Beamter im sowjetischen Außenhandel. Unter Putin war Michail Fradkow von 2004 bis 2007 Premierminister und von 2007 bis 2016 Direktor des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR. Heute ist er Vorstandsvorsitzender eines der größten russischen Rüstungsunternehmen, Almaz-Antei. Pawels Bruder, Pjotr Fradkow, ist Vorsitzender der staatlichen Promsviazbank, dem wichtigsten Kreditinstitut der russischen Rüstungsindustrie.

Pavel Fradkow ist ein gutes Beispiel für bürokratische Dynastien in der postsowjetischen russischen Führungsriege, die die politische Macht und den Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen maßgeblich von der Sowjetunion geerbt hat (Snegovaya und Petrov 2022; Marandici 2024). Dennoch sind es nicht nur dynastische Familien, die den späten Putinismus bestimmen: Das System der Rekrutierung, Entlassung und Reproduktion von Staatsdiener:innen ähnelt zunehmend dem System einer Neo-Nomenklatura. Bereits Anfang der 2000er Jahre wiesen Wissenschaftler:innen auf die Einrichtung von Kaderreserven als eine Wiederbelebung des sowjetischen Erbes der Nomenklatura-Ernennungen hin (Huskey 2004; Kryshtanovskaya 2005). Der Zusammenhang zwischen der Mitgliedschaft in der Kaderreserve und einem Aufstieg in der Bürokratie war damals allerdings noch schwach ausgeprägt. Darüber hinaus unterschieden sich das Rekrutierungssystem und die politische Ökonomie des postsowjetischen Russland (etwa durch die Globalisierung und transnationale Einbettung der Bürokrat:innen und den Charakter der Korruption) erheblich vom sowjetischen System des Personalmanagements.

Im Laufe der Zeit sind jedoch immer mehr Ähnlichkeiten zum klassischen Nomenklatura-System zutage getreten (Petrov 2011; Nisnevich 2014; Petrov 2024; Panfilova 2024). So wird beispielsweise die entscheidende Rolle, die die Kommunistische Partei und der KGB bei der Kontrolle von Ernennungen in der Sowjetunion spielte, heute weitgehend durch die Präsidialverwaltung und den FSB übernommen. Die russische Vollinvasion in die Ukraine und der Kriegs-Putinismus haben diese Entwicklung weiter beschleunigt und die Unterschiede beträchtlich verwischt. Durch westliche personenbezogene Sanktionen gegen russische Staatsdiener:innen und faktische Reiseverbote in »unfreundliche« Länder, in denen viele russische Staatsangestellte Vermögenswerte besaßen, ist die Neo-Nomenklatura zunehmend in Russland eingesperrt (»Lokalisierung«). Da die Rolle des Staates durch Unternehmen in Staatsbesitz oder mit Staatsbeteiligung, Staatsunternehmen und öffentliche Aufträge in der Wirtschaft zunimmt, schwindet für die Nomenklatura die Rolle des Privatsektors als Quelle für korrupte Nebeneinkünfte oder als Ausstiegsoption nach dem Staatsdienst weiter. In dieser Analyse argumentieren wir, dass ein vertieftes Verständnis davon, wie Putin die Nomenklatura unter Kontrolle hält, von zentraler Bedeutung ist, um die Resilienz Russlands in Kriegszeiten besser einordnen zu können.

Unser Datensatz

Um zu verstehen, wie Putin die russische Neo-Nomenklatura beherrscht, haben wir uns auf eine bestimmte Kohorte von Staatsdiener:innen konzentriert: auf stellvertretende Minister:innen und stellvertretende Leiter:innen föderale Exekutivorgane, wie Dienste (Sluschba) und Agenturen (Agentstwo). Diese Staatsdiener:innen gehören zwar nicht zur höchsten Ebene der russischen Führungsriege, sind aber für die Umsetzung staatlichen Handelns unverzichtbar. Sie fungieren als Scharnier zwischen Minister:innen – politischen Amtsträger:innen mit engen Verbindungen zu wichtigen Elitegruppen – und der Staatsverwaltung. Die jüngsten Entlassungen und Ernennungen von stellvertretenden Minister:innen nach der Entlassung von Verteidigungsminister Sergej Schojgu im Mai 2024 sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, welche tiefgreifenden Einblicke sich aus dieser Kohorte von Staatsdiener:innen gewinnen lassen. Häufige Umbesetzungen auf diesen Stellvertreter:innenposten könnten beispielsweise auf eine erhebliche Destabilisierung des Regimes hindeuten. Die Daten zu Entlassungen und Ernennungen dieser vierten Ebene der russischen föderalen Bürokratie wurden mithilfe der Datenbank pravo.gov.ru ermittelt. Die biografischen Eckdaten dieser rund 700 Personen wurden für den Zeitraum von Mai 2018 bis Mai 2024, also die gesamte vierte Amtszeit von Wladimir Putin, aus öffentlich zugänglichen Quellen zusammengetragen und automatisch sowie manuell kodiert. In diese Periode fallen zwei bedeutende Ereignisse: die Regierungsumbildung im Jahr 2020, die mit der Entlassung des damaligen Premierministers Dmitrij Medwedjew und der Ernennung von Michail Mischustin einherging, sowie den Beginn der Vollinvasion in die Ukraine im Februar 2022. Unser Datensatz bietet einen tiefen Einblick, wie in einer personalistischen Autokratie die Staatsverwaltung gesteuert wird. Mit seiner Hilfe können auch die Auswirkungen der Vollinvasion in die Ukraine auf die Rekrutierung der Nomenklatura in Russland beleuchtet werden, um zu untersuchen, ob die Invasion einen wesentlichen Einfluss auf das Personalmanagement hatte. Der Datensatz erlaubt auch einen vorsichtigen Blick in die Zukunft, da viele dieser Staatsdiener:innen als Teil einer aufstrebenden bürokratischen herrschenden Klasse betrachtet werden können, die bei der Gestaltung der Politik in einem Russland nach Putin eine Rolle spielen wird.

In den folgenden Abschnitten werden die drei wesentlichen Instrumente untersucht, die Putin zur Verfügung stehen, um die Nomenklatura zu kontrollieren und ein Gleichgewicht zwischen Loyalität und technokratischer Verwaltung des russischen Staates herzustellen, nämlich Angst, Karriereanreize und Sozialisierung.

Angst

Im Zuge der Entwicklung Russlands hin zu einer »Diktatur der Angst« wird immer deutlicher, dass sich die Repressionen nicht nur gegen außersystemische Oppositionelle und andere Regimekritiker:innen richten, sondern zunehmend auch gegen systeminterne Akteur:innen wie Eliten und die Nomenklatura. Die Vollinvasion hat diesen Trend beschleunigt, wenn auch in mehreren Phasen. Merkliche Unterschiede zeigen sich etwa in der Art der Repression (weich oder hart) gegenüber der Nomenklatura.

Weiche Repressionen wurden bereits in der frühen Phase des Krieges eingesetzt. Diese Maßnahmen umfassten eine Reihe erheblicher Einschränkungen, darunter Beschränkungen für Auslandsreisen sowie für die Bewegungsfreiheit innerhalb der Russischen Föderation. Hochrangige Staatsdiener:innen wurden aufgefordert, ihre Diplomaten- und Privatpässe an Geheimdienstbeamte des FSB auszuhändigen. Auslandsreisen waren nur in Länder zulässig, die nicht auf der Liste der »unfreundlichen Länder« der Regierung standen, und bedurften der vorherigen Genehmigung durch den Kreml (Seddon 2023). Personen, die solchen Reisebeschränkungen nicht unterlagen, wurden bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland routinemäßig vom FSB verhört (Kozlov 2023). Die Nomenklatura lebte in ständiger Angst vor der Überwachung durch die Geheimdienste, sowohl im Büro als auch bei der Arbeit und bei privaten Treffen außerhalb von Regierungsgebäuden. Um ihren Aufenthaltsort zu schützen, ergriffen sie häufig Vorkehrungen, indem sie ihre Mobiltelefone ausschalteten oder auf einen Besuch im Café verzichteten und stattdessen im Park spazieren gingen (Prokopenko 2025). Eine weitere weiche repressive Maßnahme war das informelle Verbot, auf eigenen Wunsch vom Amt zurückzutreten. Die Betroffenen waren in ihren Positionen gefangen und ihre weitere Karriere hing von den unvorhersehbaren Plänen des Kremls ab. Die Geheimdienste übten informellen Druck aus, indem sie damit drohten, im Falle eines nicht genehmigten oder nicht abgesprochenen Rücktritts dafür zu sorgen, dass eine spätere Anstellung im staatlichen Sektor oder sogar in der Privatwirtschaft ausgeschlossen ist. Hier ist jedoch anzumerken, dass dies nicht bedeutet, dass nach Kriegsbeginn keine Staatsdiener:innen entlassen wurden. Unsere Daten zeigen, dass die monatlichen Entlassungsraten in den Jahren 2022 und 2023 nicht wesentlich von denen der Vorjahre abweichen. Die erhöhte Fluktuationsrate in den Jahren 2020 und 2021 war hauptsächlich auf die Regierungsumbildung im Januar 2020 zurückzuführen, bei der Dmitrij Medwedjew sein Amt an Michail Mischustin abgab. Die Amtszeit der entlassenen Staatsdiener:innen war nach Kriegsbeginn ähnlich lang wie zuvor. Zwar erfolgte eine beträchtliche Anzahl von Entlassungen offenbar routinemäßig, doch machte der Kreml über öffentliche Kanäle seit Februar 2022 verstärkt deutlich, dass bestimmte Entlassungen eine Folge von Fehlentscheidungen oder Illoyalität waren. So wurde etwa im Oktober 2022 der stellvertretende Verkehrsminister Alexander Suchanow kurz nach Explosionen auf der Krymbrücke entlassen, weil letztere als schwerwiegendes Versagen seines Ministeriums gewertet wurden. In der Folge wurden die Aufsichtsbefugnisse über die Brücke vom Verkehrsministerium auf den FSB übertragen. Im Februar 2024 wurde Denis Guljajew, stellvertretender Leiter des Föderalen Dienstes für die Kontrolle des Alkohol- und Tabakmarktes (Rosalkogoltabakkontrol), entlassen. Kremlnahe Medien verbreiteten die These, Guljajew habe versucht, Auslandsvermögen zu verbergen.

Die Tendenz, Strafverfahren als Mittel der harten Repression einzusetzen, blieb bis 2023 relativ stabil. Nach unseren Daten wurden von 2018 bis 2023 durchschnittlich etwas mehr als zwei Strafverfahren pro Jahr gegen stellvertretende Minister:innen und stellvertretende Leiter:innen anderer föderaler Exekutivbehörden eingeleitet. Allein im Jahr 2024 wurden nun jedoch ganze zehn Stellvertreter:innen wegen strafrechtlicher Beschuldigungen festgenommen, darunter drei stellvertretende Verteidigungsminister: Timur Iwanow, Pawel Popow und Dmitrij Bulgakow. In der Regel wurden Strafanzeigen gegen Staatsdiener:innen mit zivilem Hintergrund erhoben, was statistisch gesehen am wahrscheinlichsten ist, da die meisten Staatsdiener:innen einen zivilen Hintergrund haben. Zudem sind Zivilist:innen für Strafverfolgungsbehörden ein viel leichteres Ziel. Zwar wurde Korruption als Hauptgrund für die Einleitung der Strafverfahren angegeben. Doch hat sich der Bereich, in dem wegen mutmaßlicher Korruption vorgegangen wird, offenbar vom zivilen Sektor in den militärischen Bereich verlagert. Der Krieg gegen die Ukraine ist für Putin und sein Regime von persönlicher Bedeutung, weshalb er nach mehr »Effizienz« strebt. Der Krieg hat neue und umfangreiche Ressourcen mobilisiert; zentrale Wirtschaftseliten in Putins Umgebung sind nun bestrebt, diese unter ihre Kontrolle zu bringen. Gleichzeitig ist das Gesamtvolumen der verfügbaren Ressourcen geschrumpft und in den Bereich der Militärausgaben verlagert worden. Dies hat die Konflikte zwischen den Eliten um den Zugang zu diesen Finanzströmen verschärft (Yakovlev 2025).

Korruption war historisch gesehen ein wichtiger Schmierstoff für den russischen Staatsapparat. Seit 2024 werden Korruptionsvorwürfe jedoch auch als Instrument eingesetzt, um nicht nur Konflikte innerhalb der Elite zu schüren, sondern auch ein klares Signal zu senden: Personen, die sich im Rüstungssektor an übermäßigen und nicht genehmigten Rent-Seeking-Aktivitäten beteiligen, müssen mit schwerwiegenden Konsequenzen rechnen. Dieser Trend wird durch Daten über andere Staatsdiener:innen im gesamten öffentlichen Sektor bestätigt. Der erhebliche Anstieg der Strafverfahren nach Beginn von Putins fünfter Amtszeit im Mai 2024 zeigt dies deutlich (Agentstvo 2024). Die jüngste Eskalation der Repressionen gegen die Nomenklatura erreichte mit dem mutmaßlichen Selbstmord des Verkehrsministers Roman Starowojt Anfang Juli 2025 einen neuen Höhepunkt. Starowojt drohte möglicherweise eine strafrechtliche Verfolgung wegen Korruption beim Bau von Verteidigungsanlagen an der ukrainischen Grenze während seiner Amtszeit als Gouverneur der Oblast Kursk. Dies ist vor dem Hintergrund des ukrainischen Vorstoßes in die Oblast Kursk im August 2024 besonders brisant. Starowojt, früher angeblich ein Protegé der Rotenberg-Brüder und von September bis Oktober 2018 stellvertretender Verkehrsminister, sendet mit seinem Tod ein unmissverständliches Signal an die Elite, dass niemand in der föderalen Exekutive über jedweden Verdacht erhaben ist. Paradoxerweise wurde der Selbstmord Starowojts von innersystemischen Staatsdiener:innen als eine Form des Widerstands wahrgenommen. Während von der Nomenklatura traditionell erwartet wird, dass sie sich in ihr Schicksal fügt und eine Gefängnisstrafe akzeptiert, ist Selbstmord eine der wenigen Möglichkeiten, um dem rigiden System der Personalrotation innerhalb der Nomenklatura zu entkommen (Rustamova und Liutova 2025).

Karriereanreize

Allerdings können (kriegsführende) Diktator:innen nicht allein durch Angst regieren. Um sich die Loyalität der Nomenklatura zu sichern und sie an das Regime zu binden, müssen Karrieremöglichkeiten geschaffen werden. Ein solcher Anreiz könnte beispielsweise darin bestehen, Zugang zu einem Teil der kriegsbedingten Finanzströme zu gewähren, verbunden mit einer verringerten öffentlichen Aufsicht der Einkommensverhältnisse. Konsequenterweise wurde die Veröffentlichung von Einkommenserklärungen aufgrund des Krieges gegen die Ukraine im Dezember 2022 ausgesetzt.

Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Karrierepfade in der russischen Nomenklatura und darauf, welche Anreize das Regime während des Krieges für russische Staatsdiener:innen setzt. Ein wichtiger Indikator war dabei die Position, die diese Staatsdiener:innen vor ihrer Ernennung zu stellvertretenden Minister:innen oder stellvertretenden Leiter:innen anderer föderaler Exekutivbehörden innehatten. Jedes Jahr bekleideten 70 bis 80 Prozent der neu ernannten Staatsdiener:innen zuvor eine andere Position in der föderalen Exekutive. Oft handelte es sich dabei um eine niedrigere Position, beispielsweise als Abteilungsleiter:in desselben Ministeriums oder einer anderen Exekutivbehörde. Die Ernennung zum:r stellvertretenden Minister:in stellte dann den nächsten Schritt in ihrer Karriere dar. Es kommt jedoch auch zu horizontalen Versetzungen, bei denen Staatsdiener:innen in Positionen mit ähnlichem administrativem Gewicht innerhalb der föderalen Exekutive ernannt werden. Die zweithäufigste und dritthäufigste frühere Tätigkeit der Beamt:innen vor ihrer Ernennung zum:r stellvertretenden Leiter:in waren Positionen in der regionalen Exekutive (10 bis 15 Prozent) bzw. in staatlichen Unternehmen (5 bis 10 Prozent) oder in privaten Firmen (unter 5 Prozent). Andere Positionen, beispielsweise in der Wissenschaft, in Stiftungen oder im Parlament, spielten eine minimale Rolle. Die Streuung der bisherigen Berufserfahrung vor der Ernennung blieb im Untersuchungszeitraum von 2018 bis 2024 weitgehend unverändert. Die einzige Ausnahme war das Jahr 2022: Der Anteil derjenigen mit einer vorherigen Stelle in der föderalen Exekutive sank unter 60 Prozent, während der Anteil der Einstellungen aus den regionalen Verwaltungen auf über 25 Prozent stieg. Dies blieb jedoch eine Anomalie, die sich in den folgenden Jahren wieder normalisierte. Im Wesentlichen bedeutet dies, dass der Krieg das etablierte Rekrutierungssystem, das sich in erster Linie aus der föderalen und den regionalen Exekutiven speist – was einen geschlossenen, institutionalisierten Mechanismus für berufliche Karrierepfade darstellt – nicht maßgeblich beeinflusst hat.

Diese systematischen, nahezu mechanischen Rekrutierungsmuster in der Nomenklatura stehen in einem wachsenden Kontrast zu den höheren Ebenen der russischen Elite und der Personalisierung des Regimes, in dem persönliche Loyalität gegenüber Putin über alles andere gestellt wird. Einige wichtige Personalwechsel im Jahr 2024 veranschaulichen dies eindrücklich: Alexej Djumin (ein ehemaliger Leibwächter Putins) wurde Sekretär des Staatsrats, Irina Podnossowa (eine ehemalige Kommilitonin Putins) wurde Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs. Sie starb Ende Juli 2025 im Amt, ebenso wie ihr Vorgänger Wjatscheslaw Lebedjew ein Jahr zuvor, eines natürlichen Todes. Walerij Pikaljow (ein weiterer ehemaliger Leibwächter Putins) wurde Leiter des Föderalen Zolldienstes. Anna Ziwiljowa, Putins Cousine ersten Grades, wurde stellvertretende Ministerin und Staatssekretärin im Verteidigungsministerium. Ihr Ehemann Sergej Ziwiljow wurde Minister für Energiewirtschaft. Dmitrij Patruschew, der Sohn von Nikolaj Patruschew, wurde stellvertretender Ministerpräsident und Boris Kowaltschuk, der Sohn von Jurij Kowaltschuk, wurde Vorsitzender des Rechnungshofes.

Die russische Spitzenelite kann getrost als gerontokratisch bezeichnet werden, da viele Mitglieder des inneren Kreises um Putin, darunter Staatsdiener:innen und Wirtschaftsmagnat:innen, über 70 Jahre alt sind. Eine Untersuchung von Anfang 2022 zeigt, dass sich in der russischen Nomenklatura altersbezogen mehrere Trends beobachten lassen (Savina 2022): Je näher eine staatliche Institution dem Präsidenten steht, desto älter sind im Durchschnitt ihre Staatsdiener:innen und desto mehr sind nominelle Rentner. Zwischen 2012 und 2022 stieg das Durchschnittsalter in allen staatlichen Behörden, mit Ausnahme der Gouverneursposten. In den Behörden, die dem Präsidenten unterstehen, war die Fluktuation unter den Beamten zudem geringer. So lag das Durchschnittsalter der Staatsdiener:innen im Sicherheitsrat kurz vor Beginn der Vollinvasion bei 62 Jahren. In der Präsidialverwaltung lag es bei 58 Jahren. Unter Minister:innen und Leiter:innen von föderalen Exekutivbehörden lag es bei 54 Jahren. Gouverneur:innen waren im Durchschnitt 51 Jahre alt.

Unsere Daten zeigen ähnliche Trends. Demnach sind stellvertretende Minister:innen und Leiter:innen anderer föderaler Exekutivbehörden tendenziell jünger als ihre Vorgesetzten. Darüber hinaus können wir den Trend bestätigen, dass Beamt:innen in Exekutivbehörden, die dem Präsidenten unterstellt sind, deutlich älter sind als Staatsdiener:innen in Behörden, die dem Premierminister unterstehen. So lag das Durchschnittsalter 2020 in ersteren bei über 53 Jahren und in letzteren bei über 44 Jahren. Es gibt jedoch eine bemerkenswerte Abweichung von der zitierten Istories-Untersuchung (Savina 2022): Laut unseren Daten sank das Durchschnittsalter der stellvertretenden Leiter von etwa 49 Jahren im Jahr 2018 auf knapp über 46 Jahre im Jahr 2023. Darüber hinaus hat sich der Unterschied zwischen den Exekutivbehörden des Präsidenten und des Premierministers im Laufe der Zeit verringert. Ob sich dieser Trend ab 2024 mit zunehmender Dauer des Krieges fortsetzen wird, bleibt abzuwarten. Für unseren Untersuchungszeitraum scheint das Rekrutierungssystem der Nomenklatura jedoch Möglichkeiten für einen Aufstieg jüngerer Alterskohorten bewahrt zu haben, auch wenn für Spitzenpositionen in der herrschenden Klasse zweifellos eine gläserne Decke besteht.

Die erste Arbeitsstätte eines:r stellvertretenden Leiter:in unmittelbar nach der Entlassung ist von enormer Bedeutung, da die Möglichkeiten der zukünftigen Position das Verhalten und die Erwartungshaltung der Staatsdiener:innen noch während ihrer Amtszeit erheblich prägen. Aufgrund der hierarchischen Struktur der Exekutive kann jedoch nicht jede:r Stellvertreter:in Minister:in werden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass nur 20 bis 30 Prozent der entlassenen stellvertretenden Leiter:innen eine andere Position in der föderalen Exekutive erhalten. Ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, sind gut bezahlte Stellen in staatlichen Unternehmen und Korporationen. In diesen Bereichen finden 20 bis 30 Prozent der Entlassenen eine Anstellung. 10 bis 20 Prozent wechseln in Führungspositionen in der Privatwirtschaft. Ein Beispiel ist Jurij Zwetkow, der im Januar 2021 als stellvertretender Verkehrsminister entlassen wurde und später zum stellvertretenden Generaldirektor von Sovcomflot, Russlands größter staatlicher Reederei, ernannt wurde. Sawwa Schipow wiederum war von 2016 bis 2020 stellvertretender Minister für wirtschaftliche Entwicklung und wurde anschließend zum stellvertretenden Generaldirektor für digitale Transformation bei Uralchem ernannt. Uralchem ist ein privater Hersteller von chemischen Produkten, der zu dieser Zeit vom Wirtschaftsmagnaten Dmitrij Masepin kontrolliert wurde. Dies sind typische Beispiele dafür, dass das Ausscheiden aus der föderalen Exekutive nicht unbedingt einen Rückschritt in der beruflichen Laufbahn bedeutet, sondern einen legitimen Karriereweg innerhalb des Systems der Nomenklatura-Rotation darstellt. Es gibt kaum Anzeichen dafür, dass sich diese Drehtüren aufgrund des Krieges geschlossen haben. So stellte beispielsweise Rostelecom allein in den Jahren 2023 und 2024 drei ehemalige stellvertretende Minister:innen ein. Das Ministerium für digitale Entwicklung wies in unserem Datensatz die höchste Fluktuationsrate unter den stellvertretenden Minister:innen auf. Ein Wechsel in regionale Regierungsämter ist hinsichtlich der weiteren Karriereaussichten ambivalent, während Posten in Stiftungen, akademischen Einrichtungen, Parteien oder Parlamenten eindeutig eine Degradierung darstellen. Zwischen 10 und 20 Prozent der Entlassungen wurden jährlich als »unbekannt« kodiert. Das bedeutet, dass wir die weitere Position eines:r Staatsdieners:in nicht ermitteln konnten und er oder sie dauerhaft aus dem System der Nomenklatura-Rotation ausgeschieden ist. Wäre die Zahl der »unbekannten« Schicksale von Staatsdiener:innen nach dem Februar 2022 deutlich gestiegen, so könnte dies möglicherweise bedeuten, dass sich mehr Staatsdiener:innen aufgrund von Unzufriedenheit mit dem Krieg gegen die Ukraine im Stillen vom Regime losgesagt oder die Nomenklatura verlassen haben. Unsere Erkenntnisse sind in dieser Hinsicht jedoch nicht eindeutig, da es mitunter mehr als ein Jahr dauern kann, bis Staatsdiener:innen eine neue Stelle im System finden. Es ist jedoch klar, dass diejenigen, die dieses gut geölte System der Nomenklatura-Rotation bewusst verlassen haben, dies still und ohne lautstarken Protest getan haben. Insgesamt kommen wir zu dem Schluss, dass der Krieg bis zum Ende von Putins vierter Amtszeit im Frühjahr 2024 keinen wesentlichen Einfluss auf die Karrierewege in der Nomenklatura nach der Entlassung als stellvertretende:r Minister:in oder Leiter:in hatte.

Sozialisierung

Ein dritter Mechanismus, mit dem das russische Regime Staatsdiener:innen dazu bringt, die Umstände eher hinzunehmen und sich anzupassen, statt ihr soziales Umfeld aktiv zu gestalten oder gar infrage zu stellen, ist die Sozialisierung. Ein Aspekt der langfristigen Sozialisierung der Nomenklatura ist die Moskau-Zentriertheit. Zwischen 70 und 80 Prozent der jährlich ernannten stellvertretenden Leiter:innen waren zuvor hauptsächlich in Moskau tätig. Das bedeutet nicht, dass sie alle in Moskau geboren oder aufgewachsen sind. Um in der föderalen Exekutive aufzusteigen, ist es jedoch notwendig, frühzeitig den Sprung nach Moskau zu schaffen – sei es für ein Studium oder für einen Einstiegsposten in der öffentlichen Verwaltung. Zwar spielen regionale Netzwerke bei der Vergabe von Posten in der föderalen Exekutive sicherlich eine Rolle, entscheidend bleibt jedoch die Sozialisierung in Moskau. An zweiter Stelle liegen mit 5 bis 10 Prozent »nomadische« Bürokrat:innen ohne feste regionale Basis, gefolgt von St. Petersburg auf dem dritten Platz. Regionen wie Tatarstan, Nowosibirsk und Saratow sind bei den Ernennungen hingegen kaum vertreten.

Diese Tendenz zeigt sich auch bei den Hochschulabschlüssen. Nahezu alle stellvertretenden Leiter:innen verfügen über mindestens einen Hochschulabschluss, wobei Absolvent:innen von Moskauer Einrichtungen dominieren. Bei den zweiten Hochschulabschlüssen wird die Übermacht der Moskauer Hochschulen noch deutlicher. So haben beispielsweise fünfmal so viele Staatsdiener:innen ihren ersten Hochschulabschluss an einer Moskauer Bildungseinrichtung erworben, verglichen mit Abschlüssen an Universitäten in St. Petersburg. Ein zweiter Abschluss an der Russischen Präsidialakademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung (RANEPA) wird für eine Karriere in der föderalen Exekutive immer wichtiger. Von den in unserer Datenbank erfassten ernannten Staatsdiener:innen haben 70 einen zweiten Abschluss an der RANEPA erworben. An zweiter Stelle steht die Moskauer Staatliche Universität mit etwa 20 Abschlüssen, gefolgt vom Moskauer Staatlichen Institut für internationale Beziehungen (MGIMO), der Staatlichen Universität für Management und der Moskauer Staatlichen Juristischen Kutafin-Universität mit jeweils weniger als zehn Abschlüssen. Die RANEPA steht unter der Kontrolle von Sergej Kirijenko, dem ersten stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung, und fungiert als Kaderschmiede für die Ausbildung von Staatsdiener:innen für die präsidiale Reserve sowie für Programme wie den Wettbewerb »Führungskräfte Russlands«, die »Schule für Gouverneure« und das Programm »Heldenzeit«. Diese Weiterbildungsprogramme an der RANEPA sowie die Indoktrinierung bezüglich des russischen Krieges gegen die Ukraine und der Stellung Russlands in der Welt werden entscheidend dazu beitragen, den beruflichen Kompass und die Weltanschauung russischer Staatsdiener:innen über die Ära des Putinismus hinaus zu prägen.

Ein weiterer Aspekt dieser Sozialisierung ist die »Lokalisierung« (d. h. die Einschränkung der Reisetätigkeit und das Verbot, Eigentum im Ausland zu besitzen) der Nomenklatura sowie der abnehmende Einfluss des Auslands auf deren Karrierewege in Russland. Auch die Hochschulbildung ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich. Denn weniger als fünf Prozent der jährlich ernannten stellvertretenden Leiter:innen haben einen Abschluss einer westlichen Universität. Ein Abschluss einer russischen Universität ist für eine Karriere in der Nomenklatura somit unerlässlich. Bislang gibt es jedoch keine Anzeichen dafür, dass Abschlüsse westlicher Institutionen als Vorwand für Säuberungen dienten. Tatsächlich gibt es mehrere bemerkenswerte Beispiele für Staatsdiener:innen mit Abschlüssen westlicher Institutionen, die während des Krieges Schlüsselrollen in der russischen Staatsverwaltung einnehmen. Ein typisches Beispiel ist die kürzliche Ernennung von Andrej Nikitin, des ehemaligen Gouverneurs von Nowgorod und MBA-Absolventen der Stockholm School of Economics, zum stellvertretenden Verkehrsminister im Februar 2025 und dann zum Verkehrsminister im Juli 2025. Obwohl Nikitin ein technokratischer Regierungsstil nachgesagt wird, unterhalten er und seine Familie Geschäftsbeziehungen zu Arkadij Rotenberg sowie zu einer engen Freundin von Putins Tochter Jekaterina Tichonowa (Basmanov, 2025). Ein weiterer Nomenklatura-Vertreter dieser Kategorie ist der stellvertretende Energieminister Pawel Sorokin, der einen Abschluss in Finanzwissenschaften der Universität London hat. Im Jahr 2023 bezeichnete das Wall Street Journal Sorokin als Russlands »Geheimwaffe«, um die Auswirkungen der westlichen Sanktionen auf den russischen Ölsektor abzuschwächen (Faucon 2023). Der stellvertretende Finanzminister Alexej Sasonow hat einen Executive MBA der Oxford Saïd Business School und ist für die Steuer- und Zollpolitik zuständig. Alexander Maslennikow, ein enger Verbündeter des Präsidentenberaters für Wirtschaftsfragen, Maxim Oreschkin, wurde im März 2025 zum stellvertretenden Sekretär des russischen Sicherheitsrates ernannt. Bislang scheint es, dass ein ausländischer Abschluss der Karriere nicht schadet, sofern der/die Staatsdiener:in das erworbene Wissen und Netzwerke zum Vorteil des russischen Regimes einsetzt.

Die personenbezogenen Sanktionen des Westens haben kaum Einfluss auf die Karrierewege der russischen Nomenklatura. Wir haben die Strafmaßnahmen der USA, Großbritanniens, der EU und der Ukraine untersucht. Unter diesen vier Akteuren werden die Sanktionen uneinheitlich eingesetzt und die überwiegende Mehrheit der stellvertretenden Minister:innen und Leiter:innen in unserem Datensatz ist gar nicht sanktioniert. Unsere Analysen zeigen keine erkennbaren Auswirkungen auf die verschiedenen Faktoren in der Karriere von Nomenklatura-Mitgliedern, beispielsweise auf Beförderungen oder die Länge der Amtszeit von Staatsdiener:innen in der föderalen Exekutive. Dies deutet darauf hin, dass personenbezogene Sanktionen des Westens zumindest in Bezug auf unseren Datensatz irrelevant sind. Sie veranlassen russische Staatsdiener:innen weder dazu, sich aufgrund der Kosten des Krieges gegen Putin zu wenden, noch verbessern sie die Karrierechancen aufstrebender Loyalist:innen.

Eine »neue Elite«?

Ende Februar 2024 erklärte Wladimir Putin, dass die Veteranen der »militärischen Spezialoperation« die wahre Elite Russlands seien und Führungspositionen in der russischen Exekutive übernehmen sollten. Im März 2024 wurde daraufhin das Förderprogramm »Heldenzeit« ins Leben gerufen. Da unsere Daten nur bis Mai 2024 reichen, können wir keine datenbasierten Aussagen zur Wirksamkeit des Programms treffen. Andere Beobachter:innen sind jedoch der Meinung, dass die Ernennungen von Absolventen dieses Programms nicht den Schluss zulassen, dass Veteranen zur »neuen Elite« werden könnten (Erlich 2025; Novaya Gazeta Europe 2024). In der ersten Runde wurden nur 83 von 44.000 Bewerber:innen ausgewählt und ihre anschließenden Karriereverläufe deuten darauf hin, dass sie eher in den Regionen als in der föderalen Nomenklatura eingesetzt werden. Eines der wenigen Beispiele ist Olga Koludarowa, die derzeit stellvertretende Bildungsministerin ist. Sie war von 2022 bis 2024 Ministerin für Bildung und Wissenschaft in der von Russland besetzten »Volksrepublik Donezk« und konnte anschließend eine Stufe in der russischen Verwaltungshierarchie überspringen. Zu ihren »Errungenschaften« in dieser Zeit zählen die Russifizierung und die Zwangsumsiedlung ukrainischer Kinder. Ein weiteres Beispiel ist Igor Jurgin. Der mit dem Orden »Held Russlands« dekorierte Frontsoldat und Finalist des Programms »Heldenzeit« wurde zum Leiter der Abteilung für staatliche Politik in den Bereichen Erziehung, Weiterbildung und Kinderfreizeit ernannt. Diese Position liegt eine Stufe unterhalb des Rangs eines stellvertretenden föderalen Bildungsministers.

Aus gutem Grund erhielten Veteranen bisher vorrangig Posten im Bereich der Indoktrination. Denn einer der wichtigsten Indikatoren für die Resilienz des Regimes ist darin zu sehen, ob Veteranen, die vor allem aufgrund ihrer uneingeschränkten Loyalität gegenüber Putin und den Kriegsanstrengungen befördert wurden, auch in Positionen berufen werden, für die normalerweise technokratisches Fachwissen erforderlich ist. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass der Anteil der jährlich ernannten stellvertretenden Minister:innen und stellvertretenden Leiter:innen von Exekutivbehörden mit zivilem Hintergrund mit rund 80 Prozent relativ hoch ist und sich im Laufe der Zeit kaum verändert hat. Damit eine »neue« Führungselite entstehen kann, müsste also die Zahl der Ernennungen von »Veteranen« deutlich steigen. Insgesamt ist die derzeitige Nomenklatura jedoch nicht daran interessiert, eine »neue Elite« aufsteigen zu lassen, da sich deren Karrierewege stark von jenen vor 2022 unterscheiden. Vielmehr versucht die Nomenklatura, so viel wie möglich von der Kriegswirtschaft zu profitieren und gleichzeitig ihren etablierten Status zu bewahren.

Fazit

In dieser Analyse haben wir dargelegt, dass der russische Diktator seine Nomenklatura durch Angst, Karriereanreize und Sozialisierung kontrolliert. Im vierten Jahr des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat der Kreml die Repressionen gegen die Elite als Element des »Kriegs-Putinismus« erheblich verschärft, während die Veränderungen bei den beiden anderen Instrumenten langsamer voranschreiten. Die Regierungsumbildung von 2020 hatte für stellvertretende Minister:innen und andere stellvertretende Leiter:innen föderaler Exekutivbehörden größere Auswirkungen auf den Verbleib im Amt als der Beginn der Vollinvasion in die Ukraine im Jahr 2022. Je länger der Krieg andauert, desto wahrscheinlicher wird, dass Anpassungen der Karriereanreize und der Sozialisierung vorgenommen werden. Eine massive Umverteilung von Eigentum sowie Veränderungen in den Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft werden sich höchstwahrscheinlich auf Patronagebeziehungen und somit auch auf die Rekrutierungsmuster in der Exekutive auswirken. Im Hinblick auf die zunehmende Indoktrinierung der präsidialen Kaderreserven bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen die Forderung, Loyalität offen zu demonstrieren und die grundlegenden ideologischen Prinzipien des Kriegs-Putinismus zu teilen, auf die technokratischen Kompetenzen dieser Staatsdiener:innen hat, die für die Steuerung des Staates ebenfalls unentbehrlich sind. Eine langfristige wirtschaftliche Stagnation könnte die Rotation der Nomenklatura erheblich beeinträchtigen, da vormals hochdotierte Arbeitsplätze in staatlichen Unternehmen, im vom Staat abhängigen Privatsektor und in der föderalen Exekutive an Attraktivität verlieren. Solange jedoch kein alternatives Machtzentrum zu Putin entsteht, gibt es im Fall einer verschärften Regimekrise wenige Optionen, sich vom Regime loszusagen (Burkhardt 2022). Wie der Prigoschin-Aufstand gezeigt hat, nimmt die Nomenklatura in solchen entscheidenden Momenten eine abwartende Haltung ein (Yakovlev et al., 2025). Daher wird die Nomenklatura als soziale Schicht im späten Putinismus und über Putin hinaus ihre Privilegien unter allen Umständen verteidigen – auch gegen eine »neue Elite«.

Lesetipps / Bibliographie

 

  • Burkhardt, Fabian. 2022. »The Fog of War and Power Dynamics in Russia‘s Elite: Defections and Purges, or Simply Wishful Thinking?« Russian Analytical Digest 281: 10-14. https://doi.org/10.3929/ethz-b-000539633.
  • Kozlov, Petr. 2023. »В России уже год непублично действует «железный занавес» для чиновников и топов крупных корпораций.« Kozlov Paper (blog), March 27, 2023. https://kozlovpaper.substack.com/p/17f.
  • Kryshtanovskaya, Olʹga V. Анатомия российской элиты. Moskva: Zakharov, 2005.
  • Nisnevich, Yuliy A. 2014. »Правящая номенклатура сегодня: «захват государства».« Obshchestvennye nauki i sovremennostʹ 5 (2014): 88–97.
  • Panfilova, Elena. 2024. »Грибница. Зачем на должности назначаются родственники политических тяжеловесов и выходцы из семей еще советской номенклатуры, которая никуда и не уходила.« Novaya Gazeta 57 (2024): 6–9. https://novayagazeta.ru/issues/3303.
  • Petrov, Nikolay. 2011. »Chapter 24: The Nomenklatura and the Elite.« In Russia in 2020: Scenarios for the Future, edited by Maria Lipman and Nikolay Petrov. Washington, DC: Carnegie Endowment for International Peace, 499–530. https://muse.jhu.edu/pub/451/edited_volume/chapter/1196191.
  • Petrov, Nikolai. 2024. »The Putin Regime in Russia.« In Personalism and Personalist Regimes, edited by Alex Baturo, Luca Anceschi, and Francesco Cavatorta. Oxford: Oxford University Press, 2024: 154–176. https://doi.org/10.1093/oso/9780192848567.003.0007.
  • Yakovlev, Andrei. 2025. »От гибридной модели к мобилизационной: эволюция российской политэкономической модели и вызовы ее военной трансформации.« Re:Russia, July 1, 2025. https://re-russia.net/expertise/0315/.

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Analyse

Ordnung der Macht. Die Generation Anton Wainos und Russlands techno-bürokratischer Autoritarismus

Von Fabian Burkhardt
Der Aufstieg Anton Wainos zum Leiter der Präsidialverwaltung (PV) steht stellvertretend für einen graduellen Generationswandel in Spitzenämtern der Staatsverwaltung. In den 2000er Jahren wurde durch die Präsidialverwaltung eine Art »Nomenklatura lite« aufgebaut, durch die Nachwuchs gesichtet und gefördert wird. Neben meritokratischen Elementen sind vor allem persönliche Verbindungen und Patronagebeziehungen entscheidend für Zugang zur Kaderreserve und Beförderung. Mit der graduellen Verjüngung durch Kaderwechsel reproduziert sich die derzeitige Ordnung der Macht, die techno-bürokratische und klepto-neopatrimoniale Elemente verbindet.
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Analyse

Andrej Beloussow – Russlands neuer Kriegsminister

Von Fabian Burkhardt
Andrej Beloussow wird meist als kompetenter, technokratischer Ökonom betrachtet, der als neuer Verteidigungsminister die hohen staatlichen Rüstungsausgaben besser überwachen, den militärisch-industriellen Komplex effizienter gestalten und die zivilen und militärischen Wirtschaftssektoren besser integrieren soll. Ein näherer Blick auf seine Biografie und persönlichen Überzeugungen zeigt, dass er sich wesentlich von anderen, eher pragmatisch orientierten und angepassten Technokraten des Wirtschaftsblocks unterscheidet. Er kommt aus einer elitären sowjetischen Nomenklatura-Familie mit etatistischer Tradition, sein persönliches Umfeld ist durch Nepotismus geprägt. Er ist streng gläubiger Anhänger der Russisch-Orthodoxen Kirche, seine Ansichten werden auch durch unwissenschaftliches und teils okkultes Gedankengut geprägt, das besonders in Russlands Atomindustrie weit verbreitet ist. Seine Loyalität gegenüber Putin ist intrinsisch motiviert, und er ist von der Notwendigkeit überzeugt, dass Russland als eine »Staat-Zivilisation« Großmacht bleiben muss. (…)
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