Seit dem 24. Februar 2022 führt Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der eindeutig gegen das allgemeine völkerrechtliche Gewaltverbot in Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta verstößt. Vom Recht zum Krieg, d. h. der Frage nach der Legalität militärischer Gewalt, ist das Recht im Krieg zu unterscheiden. Auch im Krieg gelten Regeln, z. B. im Umgang mit Angehörigen der Streitkräfte, Zivilist:innen, Verwundeten, Gefangenen und Kulturgütern, um das mit einem Krieg verbundene Leid und die Schäden zu vermindern oder auf ein unvermeidbares Maß zu beschränken. Bei jeder einzelnen militärischen Handlung Russlands ist zu beurteilen, ob sie eine zulässige Gewaltanwendung ist oder gegen humanitäres Völkerrecht verstößt. Dies ist oft kompliziert, auch weil hybride Ziele als militärisch legitime Ziele gelten und angegriffen werden dürfen, sofern der Angriff nicht außer Verhältnis steht. Für die völkerrechtliche Rechtfertigung unerheblich ist, ob ein »rechtmäßiger« Kriegsgrund, d. h. ein Recht zum Krieg seitens der beteiligten Staaten besteht. Auch die militärischen Handlungen auf ukrainischer Seite müssen sich deshalb am humanitären Völkerrecht messen lassen.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt die weltweiten Sicherheitssysteme und das Völkerrecht auf neue Weise in Frage. Im 21. Jahrhundert ist die Zerstörung von Menschen, Infrastruktur und Natur in Echtzeit zu beobachten. Diese Ausgabe der Russland-Analysen basiert auf Auszügen der Ukraine-Analysen 320 (https://laender-analysen.de/ukraine-analysen/320/) und geht der drängenden Frage nach, wie diese Taten geahndet werden können und welche Infrastruktur hierfür auf nationaler wie internationaler Ebene zur Verfügung steht. Die meisten der Kriege, die im postsowjetischen Raum und im zerfallenen Jugoslawien geführt wurden, wurden vor Gericht gebracht und entschieden. Einige Urteile, wie der Völkermordfall Bosniens vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) oder der Fall Georgien gegen Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), sind bahnbrechend, zugleich aber sehr umstritten. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag gilt seit 2002 als infrastrukturelle Hoffnung auf Gerechtigkeit. Allerdings gab es seit seiner Gründung nur wenige Verurteilungen, die allesamt Konflikte in Afrika betrafen. Bei europäischen Kriegen ist der IStGH bisher nicht in Erscheinung getreten. Die Bilanz des Erreichten ist eher bescheiden und definiert den Rahmen für die Erwartungen an die Aufarbeitung des gegenwärtigen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.
Der umstrittenen Frage, ob es ein Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression braucht, geht Rainer Wedde in seiner Analyse nach. Die Ukraine hat am 21. August 2024 das Römische Statut mit zeitlicher Einschränkung für ihre eigenen Staatsangehörigen ratifiziert. Dies gibt zwar mehr Möglichkeiten, Einzelpersonen für die schwersten russischen Verbrechen von internationalem Belang zur Verantwortlichkeit zu ziehen, darunter für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Über das eigentliche »Urverbrechen« der Aggression kann der IStGH im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg jedoch keine Gerichtsbarkeit ausüben. Russland ist nicht Vertragspartei des Römischen Statuts. Der Weg über den UN-Sicherheitsrat war wegen des Vetorechts Russlands von vornherein versperrt. Es existiert damit keine internationale Jurisdiktion, in deren Zuständigkeit die Aburteilung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine fällt. Auch die Strafverfolgung durch die Ukraine oder Drittstaaten ist wegen der im Völkerrecht geltenden Staatenimmunität amtierender Staatsoberhäupter und zentraler Regierungsvertreter:innen ausgeschlossen. Diese Situation charakterisiert Wedde als hochgradig unbefriedigend. Deshalb wird seit 2022 über die Einrichtung eines ad-hoc-Strafgerichts zur Ukraine diskutiert. Am 25. Juni 2025 haben der Europarat und die Ukraine eine Vereinbarung über die Einrichtung eines Sondertribunals getroffen: Internationale Richter:innen sollen auf der Grundlage ukrainischen Rechts entscheiden. Diese Lösung auf regionaler Ebene gilt unter den Befürwortenden des Tribunals als »best available option«. Eine Änderung des Römischen Statuts wäre zwar besser, käme aber wegen der Zustimmungserfordernisse einem »Warten auf Godot« gleich. Die Gegner:innen eines Sondertribunals weisen unter anderem darauf hin, dass eine Verurteilung der obersten Führungsriege Russlands aus Immunitätsgründen (derzeit) ausgeschlossen bleibe. Wohl auch deswegen fragt Wedde in seinem Beitrag, was das Sondertribunal des Europarats über das bestehende System an internationalen und nationalen Gerichten hinaus tatsächlich leisten kann.
Die folgenden drei Kommentare befassen sich exemplarisch mit einzelnen Kriegsverbrechen in der Ukraine. Kateryna Busol analysiert die wichtigsten Muster russischer Folter gegen ukrainische Zivilist:innen und Kriegsgefangene. Neben der rechtlichen Kategorisierung dieser Straftaten schlägt sie Wege vor, wie die Täter:innen auf nationaler und internationaler Ebene zur Verantwortlichkeit gezogen und Opfer von Folter rehabilitiert werden können. Lea Nina Sophia Pheiffer befasst sich angesichts der kriegsbedingten folgenschweren Umweltschäden mit Fragen des Ökozids, der zwar nach ukrainischem Recht ein Straftatbestand ist, im Völkerrecht jedoch weiterhin nicht definiert ist. Großflächige Umweltzerstörung in einem bewaffneten Konflikt könnte zwar grundsätzlich bereits als Kriegsverbrechen durch den IStGH verfolgt werden, die bestehenden rechtlichen und praktischen Hürden sind jedoch so hoch, dass dies in der Praxis nur in wenigen Fällen realistisch ist. Pheiffer arbeitet heraus, dass eine stärkere internationale rechtliche Anerkennung und strafrechtliche Verfolgbarkeit eine größere rechtliche wie präventive Wirkung hätten. Die Aufnahme des Ökozids als fünftes Kernverbrechen in das Römische Statut würde hierzu beitragen. Abschließend berichtet Anhelina Hrytsei über Russlands gezielte »Double-Tap«-Angriffe auf Notfalleinsätze und ordnet diese als Kriegsverbrechen ein.