Einleitung
Die Ukraine ist das bedeutendste Land innerhalb der Östlichen Partnerschaft. In diesem regionalen Programm der EU-Nachbarschaftspolitik sollen insgesamt sechs Partnerländer (Belarus, Ukraine, die Republik Moldau, Georgien, Aserbaidschan, Armenien) näher an die Standards und Werte der EU herangeführt werden. Die Östliche Partnerschaft umfasst eine bilaterale und eine multilaterale Dimension, letztere als gemeinsames Forum aller Mitglieder.
Bestandteil der für alle Partnerländer wichtigeren bilateralen Ebene ist das Assoziierungsabkommen, das in Verbindung mit einer vertieften Freihandelszone abgeschlossen werden soll. Zudem steht für die Partnerländer die Abschaffung der Visapflicht ganz oben auf dem Wunschzettel.
Das Assoziierungsabkommen
Das Assoziierungsabkommen stellt eine neue Generation von Abkommen der EU mit Drittländern dar. Vorgänger waren die Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, die in den 1990er Jahren mit zehn Ländern Osteuropas und Zentralasiens abgeschlossen wurden (1998 mit der Ukraine). Noch nie hat die EU einem Nicht-Beitrittsland außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums eine derart weitreichende vertragliche Anbindung in Aussicht gestellt wie mit dem avisierten Assoziierungsabkommen.
Dieses beinhaltet folgende Kapitel:
Politischer Dialog und Reformen sowie Sicherheits- und Außenpolitik bspw. beim Krisenmanagement, bei Konfliktprävention, militärischer Kooperation Justiz, bürgerliche Freiheiten, innere Sicherheit bspw. Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Korruption, Datenschutz, Asyl, Terrorismus, organisierte Kriminalität, Kooperation im Bereich Migration und »Movement of Person«eine Freihandelszone (Deep and Comprehensive Free Trade Area, kurz DCFTA)Sektorale Zusammenarbeit in über 30 Bereichen wie zum Beispiel Landwirtschaft, Verbraucherschutz, Umwelt- oder GesundheitspolitikZusammenarbeit bei der Bereitstellung von Fördergeldern und Finanzinstrumenten
Herausragender Bestandteil des Abkommens ist die Freihandelszone, die unter anderem eine schrittweise gegenseitige Öffnung der Märkte der EU und der Ukraine beinhaltet. Einfuhrzölle und weitere Handelsbarrieren werden damit größtenteils abgeschafft oder vor allem im landwirtschaftlichen Bereich durch Quoten stark reduziert. Außerdem wird die Ukraine verpflichtet technische Standards und Regularien der EU weitestgehend zu übernehmen, etwa im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe, bei der Hygiene, bei Herkunftsbezeichnungen oder beim Schutz des geistigen Eigentums. Die Öffnung der Märkte ist vor allem für die exportstarken EU-Länder lukrativ, aber auch die ukrainischen Großunternehmen der Schwer- und Rohstoffindustrie sowie die Landwirtschaft hoffen auf einen großen Absatzmarkt in der EU.
Im März 2007 wurden die Verhandlungen offiziell begonnen, nach fast vier Jahren wurde beim EU-Ukraine Gipfel im Dezember 2011 der Abschluss der Konsultationen bekanntgegeben. Die teilweise sehr schwierigen Verhandlungen hatten sich am Ende noch einmal verkompliziert, weil die Ukraine im politischen Teil des Abkommens auf der Festlegung einer EU-Beitrittsperspektive bestand. Die EU-Mitgliedstaaten konnten sich hingegen nicht auf eine gemeinsame Position einigen, sodass jede Bezugnahme auf einen möglichen EU-Beitritt schließlich gestrichen wurde. Gleichwohl wird die zukünftige Entwicklung der bilateralen Beziehungen bewusst offen gehalten, da das Abkommen mit dem Motto der politischen Assoziierung und wirtschaftlichen Integration ein wichtiger Schritt hin zur Annäherung an die EU darstellt und letztendlich auch ein Beitritt prinzipiell nicht ausgeschlossen ist.
Die politische Situation in der Ukraine
Am Beginn der Verhandlungen, noch unter den Gewinnern der Orangen Revolution – Präsident Wiktor Juschtschenko und Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko –, gab es eine optimistische, extrem EU-freundliche Stimmung in der Bevölkerung, aber auch innerhalb der Elite bestand die Bereitschaft, sich den Demokratiestandards der EU anzupassen.
Seitdem haben sich die demokratischen und rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen verändert. Präsident Wiktor Janukowytsch hat es verstanden die Machtvertikale in den vergangenen zwei Jahren stark auf seine eigene Person sowie auf seine Familie und engsten Freunde auszurichten und gleichzeitig das Parlament zu schwächen. Schwerer wiegt noch, dass politische Gegner und ehemalige Amtsträger systematisch verfolgt, verhaftet und teilweise bereits zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Prominentestes und aktuellstes Beispiel ist Ex-Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko, aber auch Ex-Innenminister Jurij Luzenko, Ex-Verteidigungsminister Walerij Iwaschtschenko oder Ex-Umweltminister Heorhij Filiptschuk zählen zu diesem Kreis. Die EU und internationale Organisationen bewerten die Prozesse gegen die Opposition und insbesondere deren Durchführung als politisch motiviert. Gleichzeitig wird die Zivilgesellschaft immer weiter drangsaliert, die Medien immer stärker der Kontrolle des Staates unterworfen. Die Macht der Judikative ist ausgehöhlt.
Im Oktober dieses Jahres finden in der Ukraine Parlamentswahlen statt. Wenn aber die wichtigste Oppositionsführerin und einige ihrer engsten Gefolgsleute nicht daran teilnehmen können, weil sie im Gefängnis oder im Exil sitzen, kann nicht von fairen und freien Wahlen gesprochen werden. Diesen gewichtigen Rückschritt im Vergleich zu vorigen Wahlen darf die EU nicht ignorieren. Die Freilassung oder gar politische Rehabilitierung der Ex-Ministerpräsidentin noch rechtzeitig vor den Wahlen ist äußerst unwahrscheinlich. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hat mehrmals und öffentlich bekräftigt, dass neben dem abgeschlossenen Prozess und der Verurteilung weitere Verfahren auf Tymoschenko warten. Bis zu zehn weitere Untersuchungen laufen derzeit gegen sie. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass Präsident Janukowytsch eine Freilassung Tymoschenkos in Betracht zieht, zumal es sich allem Anschein nach auch um einen persönlichen Rachefeldzug gegen die Orangen Gegner von einst handelt. Eine gezielte Änderung der umstrittenen Paragraphen 364/365 des ukrainischen Strafgesetzbuches, in denen es um Amtsmissbrauch und Korruption geht, lehnt seine Fraktion der Partei der Regionen im Parlament strikt ab, auch mit dem Argument, dass die Abschaffung dieser Paragraphen die Freilassung von Tausenden anderen Strafverfolgten nach sich ziehen würde. Tymoschenko muss also damit rechnen, das Schicksal des russischen Oligarchen Michail Chodorkowskij zu teilen.
Die EU im Dilemma – Anreize oder Druck
Die veränderte politische Lage stellt die EU vor ein Dilemma: Soll sie die geplante Prozedur zum Abschluss des Assoziierungsabkommens fortsetzen, das heißt zunächst einmal die Unterzeichnung vorbereiten? Die EU ist gespalten in eine Gruppe von Befürwortern, die das neue Abkommen prinzipiell als Instrument für die Re-Demokratisierung und neue politische Reformen sehen (etwa die Baltischen Staaten, Polen, Tschechien, Großbritannien, Irland). Auf der anderen Seite stehen viele Staaten der regierenden Elite der Ukraine derart skeptisch gegenüber, dass sie erst substantielle Fortschritte fordern, bevor es weitere Zugeständnisse geben soll (besonders Deutschland, Niederlande, Frankreich). Diese Spaltung ist auch im Europäischen Parlament und selbst innerhalb der politischen Fraktionen erkennbar.
Gute Argumente gibt es auf beiden Seiten. Befürworter einer schnellen Unterzeichnung sehen die Ukraine erst durch die Verbindlichkeit des Abkommens verpflichtet, politische Reformen anzugehen und mehr rechtsstaatliche Prinzipien umzusetzen. Für sie ist die Umsetzung des Abkommens der Lackmustest, an dem sich der politische Wille der regierenden Elite zeigen wird.
Die Skeptiker dagegen bewerten die Unterzeichnung zum jetzigen Zeitpunkt als politisches Geschenk an Janukowytsch, das dessen repressive Politik nur legitimieren würde. Mit dem Hinauszögern des Abkommens hingegen könne man weiter für die Freilassung der politischen Opposition eintreten und mit hinreichend großem Druck freie und faire Parlamentswahlen im Oktober fordern. Eine Position, die auch die EU-Kommission vertritt.
Besonders heikel ist, dass sich die politische Opposition in der Ukraine, selbst Julija Tymoschenko, sowie die Mehrheit der ukrainischen NGOs für die schnelle Unterzeichnung ausgesprochen haben. Die Unterzeichnung würde auch die Veröffentlichung des Abkommens ermöglichen. Das wiederum wäre eine wichtige Referenz für die demokratischen Kräfte im Land und die zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich damit auf die Grundsätze und Inhalte berufen könnten.
Ein Argument der Gegner einer schnellen Unterzeichnung ist, dass sich die EU selbst eine weitere Hürde gesetzt hat: Mit der Überarbeitung der Nachbarschaftspolitik im Mai 2011 wurde das Prinzip more for more eingeführt. In ihrer Mitteilung zu einer »Nachbarschaft im Wandel« stellen der zuständige EU-Kommissar Stefan Füle und die hohe Repräsentantin für die EU-Außenpolitik, Catherine Ashton, die Förderung von Demokratie (deep democracy), Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit als oberste Priorität dar, an der sich die neue Politik ausrichten müsse. Das more for more Prinzip besagt, dass nur derjenige Partner weitere Integrationsschritte und Vergünstigungen von EU-Seite erwarten kann, der in diesen Bereichen auch Reformen umsetzt. Nach diesem fundamentalen Grundsatz aber müsste die Prozedur um das neue Abkommen nun auf Eis gelegt werden, denn die Ukraine hat weder nachhaltige Reformbereitschaft im Sinne europäischer Standards bspw. im Bereich Justiz, Wahlgesetzgebung oder Verfassung gezeigt noch sind derzeit Anzeichen für eine Stärkung der Demokratie zu beobachten.
Ist die wertorientierte Vertragspolitik der EU wirklich durchführbar oder sollte sie nicht zugunsten einer pragmatischeren Herangehensweise, die die politischen Gegebenheiten des Landes akzeptiert, aufgeben werden?
Die geopolitische Lage und die Rolle Russlands
Trotz aller scheinbaren Gegensätze und scharfer Rhetorik gegenüber Kiew weiß die Europäische Union um die wichtige Rolle der Ukraine, nicht nur für die Östliche Partnerschaft, sondern für das geostrategische Verhältnis zwischen der EU und Russland. Wenn es der EU nicht gelingt, die Ukraine stärker politisch und wirtschaftlich an sich zu binden, wird sie sich unweigerlich mehr auf Moskau zubewegen, lautet eines der schwerwiegendsten Argumente für eine schnelle Assoziierung.
Grund für diese Annahme ist der enorme Druck von russischer Seite. Moskau hat der Ukraine wiederholt einen Beitritt zur Zollunion (mit Russland, Kasachstan und Belarus) nahegelegt. Ein Freihandelsabkommen mit der GUS ist bereits unterschrieben. Als Gegenleistung für eine Mitgliedschaft in der von Putin angedachten Eurasischen Union (als Nachfolger der Zollunion) wäre dann eine signifikante Reduzierung des Gaspreises möglich, ähnlich wie bei Belarus, das im Vergleich zur Ukraine fast nur die Hälfte bezahlt. Moskau drängt aber ebenso auf eine Übernahme des Gastransportsystems wie es in Belarus bereits geschehen ist. Das würde die Abhängigkeit der Ukraine von Russland enorm verstärken und wird deshalb auch von Janukowytsch abgelehnt. Es würde außerdem den ukrainischen Oligarchen der Stahl- und Rohstoffindustrie weniger lukrative Gewinne bringen als die freien Märkte im Westen. Ein Beitritt zur Zollunion/Eurasischen Union wäre mit der geplanten Freihandelszone der EU jedoch auch aus rechtlichen und technischen Gründen nicht vereinbar.
Brüssel weiß, dass es der ukrainischen Regierung und den einflussreichen Oligarchen wirtschaftliche Anreize bieten und dass es das Land andererseits auch in den Verhandlungen mit Russland unterstützen muss. Eine schnelle Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens wäre aus dieser Sicht zu befürworten.
Sollte die EU also Menschrechte und Demokratiestandards hinten anstellen und lieber auf eine langfristige Bindung und langsame Verbesserung der inneren Verhältnisse in dem 46 Millionen Einwohner zählendem Land setzen?
Paraphierung trotz politischer Unzulänglichkeiten
Ende März fand die Paraphierung des Abkommens in Brüssel statt. Mit diesem rein technischen Verfahren wird der Text des Assoziierungsabkommens durch die Abzeichnung jeder einzelnen der 160 Seiten insgesamt festgesetzt. Der 1100 Seiten starke DCFTA-Teil wurde allerdings nur provisorisch paraphiert, durch eine Abzeichnung der ersten und letzten Seite, da die juristische und linguistische Prüfung noch einige Monate beansprucht. Sinn der Prozedur ist es vor allem den ausgehandelten Text zu fixieren und somit spätere Änderungen oder Verhandlungen darüber möglichst auszuschließen.
Was als öffentliche Zeremonie vor allem von EU-Kommissar Füle geplant war und auch politisch genutzt werden sollte, um weitere Fortschritte zu signalisieren, endete als bürokratischer Akt der verhandlungsführenden Beamten in den Hinterzimmern des diplomatischen Dienstes der EU in Brüssel. Die Mitgliedstaaten hatten massiv darauf gedrängt, der ukrainischen Seite keinen Anlass zu scheinbaren Erfolgsmeldungen zu geben. Trotzdem nutzten ukrainische Offizielle und Abgeordnete den Schritt um die guten Beziehungen beider Seiten hervorzuheben.
Mit der Paraphierung zu diesem Zeitpunkt wollte die EU jedoch ein positives Signal an die Zivilgesellschaft senden und zeigen, dass die Tür für die Ukraine weiterhin offen steht. Der Zeitpunkt war aber auch auf Drängen der ukrainischen Seite gewählt worden, die sich damit von Russlands Plänen einer Zollunion und dem neuen Präsidenten Wladimir Putin distanzieren wollte.
Wie weiter? Die nächsten Schritte der EU
Technische Prozeduren wie die Übersetzung des Textes und die abschließende juristische Prüfung werden weitere Monate beanspruchen. Ende des Jahres könnte das Abkommen unterschriftsreif sein. Alle Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten, die EU-Kommission sowie die ukrainische Regierung müssten dann bei einem offiziellen Treffen mit ihrer Unterschrift ihre endgültige Zustimmung zu dem Vertragswerk geben. Das könnte beim nächsten EU-Ukraine-Gipfel im Dezember in Brüssel geschehen. Danach würde sich der Ratifizierungsprozess durch die 27 Mitgliedstaaten, zumeist durch deren nationale Parlamente, und durch das Europaparlament anschließen. Das Parlament muss unmittelbar nach der Unterzeichnung das Gesamtwerk ratifizieren, damit es seine Gültigkeit erhält. Die Unterzeichung bedeutet vor allem die politische Zustimmung der Vertragsparteien zum Abkommen, während die Ratifizierung auch die rechtliche Verbindlichkeit und die demokratische Legitimation herstellt.
Besonderes Gewicht bekommt die Unterzeichnung zusätzlich dadurch, dass damit wahrscheinlich eine Klausel zur vorläufigen Anwendung bestimmter Bereiche des Abkommens wirksam würde (provisional application). Das betrifft alle Angelegenheiten, die nicht in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegen, sondern bereits heute europäisches Gemeinschaftsrecht sind. Das könnte unter anderem das sofortige Inkrafttreten des gesamten Handelsteils und der Freihandelszone bedeuten. Ein vor allem für die Oligarchen und die wirtschaftliche Elite der Ukraine lohnendes Ziel, wie unlängst auch der ukrainische Integrationsministier Jewhen Peschkin unterstrich. Sie drängen auf die schnelle Vorbereitung der vorläufigen Anwendbarkeit.
Sollte der gesamte Assoziierungsteil, in dem es auch um Werte, Demokratiestandards und Reformen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Zivilgesellschaft geht, von der vorläufigen Anwendbarkeit ausgeschlossen werden, müsste dieser den langwierigen Ratifizierungsprozess durch die Parlamente gehen. Eine Prozedur, die zwei Jahre dauern könnte und deren Ausgang völlig ungewiss ist, da jedes einzelne Parlament den Abschluss durch Nicht-Ratifizierung verzögern und letztendlich sogar ganz blockieren könnte.
Die politische Diskussion der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat dazu hat erst begonnen. Noch ist unklar, wie sich Befürworter und Gegner einer bedingungslosen Unterzeichnung dazu stellen werden. Da die Freihandelszone eigentlich im Sinne beider Vertragspartner ist, wäre es sinnvoll, sie so schnell wie möglich provisorisch in Kraft treten zu lassen. Ein Vorgehen, das bei den Vorgängerabkommen mit Westbalkanstaaten Usus war. Andererseits vergibt man damit ein wichtiges Druckmittel für politische Reformen.
Auch wäre es für die EU-Regierungen sicherlich der einfachere Weg, die öffentliche politische Debatte erst dort beginnen zu lassen, wo sie eigentlich stattfinden soll, nämlich in den nationalen Parlamenten beim Ratifizierungsprozess.
Eine mögliche Alternative, die derzeit diskutiert wird, wäre die vertragliche Verknüpfung des Handels-Teils mit einigen ausgewählten weiteren Artikeln bzw. Kapiteln aus dem restlichen Abkommen bspw. zu Rechtsstaat und Demokratie, so dass das DCFTA gemeinsam mit Werte-basierten Teilen des Abkommens vorläufige Anwendbarkeit findet. Das würde den Reformzwang der Ukraine zu einem früheren Zeitpunkt erhöhen. Offen ist jedoch, ob dann auch das Europäische Parlament schon vor der Unterzeichnung erneut konsultiert werden müsste.
Die EU wählt derzeit die Taktik der kleinen Schritte. Die technischen Prozeduren um das Abkommen und Treffen der Unterhändler gehen weiter, aber die Rhetorik von EU-Politikern gegenüber Janukowytsch hat sich in den letzten Wochen deutlich verschärft und wird mit der heranrückenden Fußballeuropameisterschaft nachdrücklicher. Viele Mitgliedstaaten, unter anderem Deutschland, lehnen eine bedingungslose Unterzeichnung derzeit ab. Auf keinen Fall will man dem autokratischen Präsidenten das Assoziierungsabkommen ohne Zugeständnisse geben. Die Lösung des Falls Tymoschenko wäre zumindest ein symbolischer Erfolg, wenn auch kein Fortschritt, solange die Verfahren und Repressionen weitergehen. Andererseits nimmt vor allem die Begeisterung der ukrainischen Bevölkerung für und das Vertrauen in die EU Schaden. Russland seinerseits wird den Druck auf die Ukraine unter seinem neuen Präsidenten weiter erhöhen.
Die Beurteilung der Oktoberwahlen wird den Ausschlag geben, unter welchen Bedingungen und wie schnell es mit dem Assoziierungsabkommen weiter geht. Keines der EU-Mitglieder wird bereit sein, sich vorher zu positionieren. Im Fall eines Triumphes der Opposition und spürbarer Verbesserungen könnte allerdings alles schnell gehen und das Abkommen ohne weitere Bedingungen unterzeichnet werden, selbst wenn Tymoschenko hinter Gittern bleibt. Bei einer weiteren Verschlechterung der Verhältnisse und Konsolidierung der Machtvertikale Janukowytschs hingegen muss die EU ihre Strategie völlig überdenken, wenn Sie das Abkommen nicht jahrelang auf Eis legen und der ukrainischen Bevölkerung jegliche Vorteile vorenthalten will.
Statt Musterbeispiel einer neuen Nachbarschaftspolitik der EU zu sein, könnte die Ukraine zum abschreckenden Beispiel werden. Scheitert das Abkommen oder wird eingefroren, steht die Idee der Östlichen Partnerschaft prinzipiell auf dem Spiel. Wird das Abkommen trotz starker Defizite unterzeichnet, ist die werteorientierte Neuausrichtung der Außenpolitik der EU für ihre Nachbarn unglaubwürdig. Ein Ausweg aus dem Dilemma könnte nur die Ukraine selbst liefern. Doch darauf will sich in Brüssel derzeit niemand verlassen.
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