Mit der Sprachenfrage auf Stimmenfang. Zur aktuellen Sprachgesetzgebung in der Ukraine

Von Matthias Guttke, Hartmut Rank (beide Lwiw)

Zusammenfassung
Am 10. August 2012 ist in der Ukraine das Gesetz »Über die Grundlagen der staatlichen Sprachenpolitik« in Kraft getreten. Nur wenige Monate vor den Parlamentswahlen am 28. Oktober 2012 nimmt die Sprachenfrage im politischen Diskurs viel Raum ein und lenkt von drängenden Problemen des Landes ab. Sowohl die Opposition als auch die Regierungsparteien inszenieren und instrumentalisieren den Sprachenkonflikt, um auf dem ideologischen Feld Wähler zu mobilisieren. Während erstere fürchten, dass der gesetzliche Schutz von Minderheiten- und Regionalsprachen v. a. auf eine Aufwertung des Russischen zielt und sich nachteilig auf die offizielle Staatssprache Ukrainisch auswirkt, verweisen die Initiatoren des Gesetzes, Abgeordnete der Partei der Regionen, auf die Umsetzung der Europäischen Charta für Minderheiten- und Regionalsprachen. Es bleibt jedoch die Frage, wie gut die Charta zur Realität der Sprachlandschaft in der Ukraine insgesamt passt.

Einleitung

Der Präpositionsgebrauch in »w Ukrajini« (ukrainisch für »in der Ukraine«) und »na Ukraine« (russisch für »in der Ukraine«) signalisiert nach Ansicht einiger ukrainischer Sprachwissenschaftler, allen voran Iwan Ohijenko, bereits die politische Dimension der Sprachenfrage bzw. die sich hier in der Grammatik manifestierende geschichtlich-kulturelle Seite von Sprache. Während die Präposition »w« im Ukrainischen hiernach auf ein klar umrissenes Territorium mit eigenständiger Geschichte, Kultur und Staatlichkeit referiert, vermittelt die Verwendung von »na« im Russischen (oder auch »na« im Polnischen) die Vorstellung, es handele sich im Falle der Ukraine um einen benachbarten Teil bzw. um eine abhängige Provinz einer anderen Einheit, was ja, abgesehen von dem Intermezzo von 1918/19, bis zum 24. August 1991 auch der Fall gewesen ist.

Vor dem Hintergrund vieler politisch motivierter Unterdrückungs-, Verbots- und Diskreditierungsmaßnahmen des Ukrainischen v. a. während des Zarismus und der Sowjet-Zeit läge nach der Unabhängigkeit der Ukraine eine staatlich verordnete, einseitige Ukrainisierungspolitik nahe. Solch eine Politik ist jedoch mit Blick auf die Rechte russischsprachiger Mitbürger sowie anderer Minderheiten bisher in keiner Phase betrieben worden. Stattdessen war man angesichts der realen Sprachsituation um Ausgleich bemüht. So betrachteten nach der Volkszählung aus dem Jahre 2001 67,5 % der Bevölkerung Ukrainisch und 29,6 % Russisch als ihre Muttersprache. Ein etwas abweichendes Ergebnis zeigt die Untersuchung des Rasumkov-Zentrums. Dieser Erhebung vom Oktober 2008 nach verwendeten 43,7 % Ukrainisch, 26 % Russisch und 28,7 % sowohl Ukrainisch als auch Russisch als Muttersprachen (www.uceps.org).

Obwohl sich eine wirkliche Benachteiligung des Russischen seit 1991 nicht nachweisen lässt, instrumentalisieren konkurrierende politische Kräfte die Sprachenfrage, die politisch stark aufgeladen bzw. strapaziert wird und Konfliktpotential birgt, immer wieder für ihre eigenen Ziele, insbesondere in Zeiten des Wahlkampfes. So trat bereits 1994 Leonid Kutschma gegen den vorsichtig und rücksichtsvoll agierenden Ukrainisch-Förderer Leonid Krawtschuk mit dem Wahlversprechen an, Russisch als zweite Staatssprache einzuführen. Tatsächlich aber setzte Kutschma während seiner Präsidentschaft im Bereich der Sprachpolitik in punkto einseitiger Sprachförderung keine nennenswerten Akzente. Schließlich vertrat auch er das Konzept einer zweisprachigen Ukraine.

Dies änderte sich jedoch mit der Orangen Revolution. Wiktor Juschtschenko unterstrich in stärkerem Maße die Rolle der ukrainischen Sprache für die nationale Identität und betrieb eine administrativ durchgesetzte Ukrainisierungspolitik unter Wahrung der Minderheitenrechte mit dem Ziel, den russophonen Teil der ukrainischen Bevölkerung stärker in die ukrainische Gesellschaft zu integrieren. Doch indem er dann im Januar 2006 das Rundfunk- und Fernsehgesetz unterzeichnete, das ausgewogene Quoten vorgab und die Untertitelung bzw. Synchronisation nicht-ukrainischer Filme vorschrieb und sein Bildungsminister Iwan Wakartschuk Ukrainisch als verbindliches (Prüfungs-)Fach an Schulen und Hochschulen landesweit durchsetzte, führte dies nicht zu einem Sprachwechsel, sondern zu einer politischen Konfrontation mit dem russophonen Bevölkerungsteil im Osten und Süden des Landes. Daher nahm der Sprachkonflikt auch im Präsidentschaftswahlkampf 2010 wieder viel Raum ein. Wiktor Janukowytsch versprach, Russisch als zweite Staatssprache einzuführen. Da ihm aber im Parlament hierfür eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit fehlt, lässt er seit seinem Wahlsieg am 7. Februar 2010 die unter Juschtschenko eingeführten Förderungsmaßnahmen des Ukrainischen komplett zurücknehmen. Im Prozess der Identitäts- und Nationsbildung wird dem Faktor ukrainische Sprache seit diesem Zeitpunkt somit keine bedeutende Rolle mehr beigemessen.

Sprachkonflikt im Parlamentswahlkampf 2012

Am 10. August 2012 ist in der Ukraine das Gesetz »Über die Grundlagen der staatlichen Sprachenpolitik« in Kraft getreten. Ukrainisch bleibt nach Art. 10 der ukrainischen Verfassung zwar weiterhin alleinige Staatssprache, einzelne Munizipalitäten sind nun aber berechtigt, Russisch und 17 weitere Minderheitensprachen (Belorussisch, Bulgarisch, Armenisch, Gagausisch, Jiddisch, Krimtatarisch, Moldawisch, Deutsch, Neugriechisch, Polnisch, Roma, Rumänisch, Slowakisch, Ungarisch, Russinisch, Karaimisch, Krimtschakisch) der Ukraine als staatlich anerkannte Regionalsprachen zuzulassen. Das neue Sprachgesetz rekurriert auf die in der Ukraine am 1. Januar 2006 in Kraft getretene Europäische Charta für Regional- und Minderheitensprachen. Mit Verweis auf europäische Richtlinien wird Russisch in zahlreichen Regionen v. a. im Osten und Süden des Landes aufgewertet und als Minderheitensprache auch finanziell gefördert werden. Kenntnisse der Staatssprache werden für russischsprachige Ukrainer jener Regionen so gut wie obsolet. Denn in wesentlichen Bereichen des alltäglichen und öffentlichen Lebens darf die Regionalsprache verwendet werden. Sie steht auch unter besonderem Schutz. Da die Gesetzesinitiatoren – die Abgeordneten der Regierungspartei Partei der Regionen Serhij Kiwalow (2004 hatte er bei den Präsidentschaftswahlen die unrühmliche Rolle der Leitung der Zentralen Wahlkommission inne) und Wadym Kolesnitschenko – in erster Linie auf eine Privilegierung des Russischen zielen, bedeutet dies konkret, dass z. B. an Schulen Russisch besonders gefördert wird, dass wissenschaftliche Arbeiten auf Russisch verteidigt werden dürfen, dass die Behördenkommunikation auf Russisch erfolgen darf etc. Ob auch das Rumänische in der Bukowina oder das Ungarische in den Transkarpaten von dem neuen Sprachgesetz profitieren, bleibt abzuwarten und weiter zu beobachten. Kurz nach dem Inkrafttreten des Gesetzes wurde auf der Grundlage der Volkszählung aus dem Jahre 2001 z. B. in Donezk am 16. August 2012, in Simferopol am 17. und in Cherson am 21. August im Sinne des Gesetzgebers bisher lediglich Russisch zur Regionalsprache erklärt. Darüber hinaus ist Ende August von einer vom Präsidenten eingesetzten Arbeitsgruppe zum Sprachengesetz der Vorschlag eingebracht worden, den für die Anerkennung einer Sprache als Regionalsprache erforderlichen Anteil von wenigstens 10 % an Muttersprachlern in dem betreffenden Gebiet auf 30 % zu erhöhen. Die Anwendung des Gesetzes auf andere Minderheiten- bzw. Regionalsprachen als Russisch würde dadurch erheblich erschwert.

Die Partei der Regionen als erklärte Gegnerin einer Förderung des Ukrainischen erreicht somit ihre sprachpolitischen Zielsetzungen auch ohne Einführung einer zweiten Staatssprache in der Verfassung. Damit verschieben sich wenige Monate vor den Parlamentswahlen am 28. Oktober 2012 die Akzente im Sprachenkonflikt. Offenbar verfolgt die regierende Partei der Regionen unter Präsident Janukowytsch als Initiatorin des neuen Sprachengesetzes wieder einmal eine Strategie der Polarisierung innerhalb der Gesellschaft und der Zuspitzung des Konflikts mit dem Ziel, z. T. enttäuschte Stammwähler im Osten und Süden der Ukraine zu mobilisieren und von realen, von den Bürgern des Landes als relevant eingestuften Themen und Problemen abzulenken. Schließlich stellt nach einer Umfrage der Stiftung Demokratische Initiative vom 6. Juni 2012 der Status des Russischen auch für die Befragten im Osten der Ukraine ein äußerst geringes Problem dar. Mit lediglich 3,9 % auf der Prioritätenskala taucht die Sprachenfrage unter den am dringlichsten eingestuften Problemen des Landes weit abgeschlagen auf dem drittvorletzten 31. Platz auf (www.dif.org).

Dennoch eröffnet die Partei der Regionen mit diesem politischen Manöver den Parlamentswahlkampf in der Ukraine, indem ihr Vorsitzender, Janukowytsch, ein zentrales Wahlversprechen der Präsidentschaftswahlen vom 7. Februar 2010 erfüllt. Seiner mehrheitlich russischsprachigen Wählerschaft in den östlichen und südlichen Industriezentren des Landes gegenüber kündigte er im Falle eines Wahlsieges an, die durch die Orange Revolution unter Juschtschenko administrativ durchgesetzte und von vielen Janukowytsch-Anhängern als Bevormundung und Angriff auf ihr Identitätsbewusstsein empfundene Ukrainisierung von oben v. a. im Bereich der Medien und in Bildungseinrichtungen aufzuheben. Die wichtigsten Oppositionsparteien Vaterland, Front der Veränderung und UDAR reagieren auf das verabschiedete Sprachgesetz indes mit starken Protesten. Ihre vorwiegend ukrainischsprachige Wählerschaft der West- und Zentralukraine versuchen sie so wenigstens emotional und ideologisch zu erreichen. Denn inhaltlich kann auch die Opposition kaum Konzepte und Strategien zu drängenden Fragen wie z. B. der Armutsbekämpfung, der Inflation, der Rentenreform, der Korruption etc. anbieten. Und so dienen die konfrontativen Aufrufe ihres (nach rechtsstaatlich fragwürdig geführten Prozessen) derzeit inhaftierten Spitzenpersonals (Julija Tymoschenko, Jurij Luzenko, Heorhij Filiptschuk, Walerij Iwaschtschenko etc.) sowie die landesweit organisierten Protestformate auch hier als Mittel zum Zweck v. a. der Mobilisierung ihrer Anhänger bzw. der Stimmenmaximierung bei den Parlamentswahlen Ende Oktober.

Einzelheiten des neuen ukrainischen Sprachengesetzes

Das Gesetz »Über die Grundlagen der staatlichen Sprachenpolitik« löst das noch aus der Sowjetzeit stammende »Gesetz der Ukrainischen Sowjetrepublik ›Über die Sprachen‹« (vom 28.10.1989) ab. Nur skizziert sei an dieser Stelle die Vorgeschichte der Entstehung des neuen Gesetzes.

Bereits kurze Zeit nach der von Janukowytsch gewonnenen Präsidentschaftswahl, initiierten die Abgeordneten Oleksandr Jefremow (Partei der Regionen), Petro Symonenko (Kommunistische Partei) und Serhij Grynewezkyj (Lytwyn-Block) im September 2010 den Gesetzentwurf Nr. 1015-3 »Über die Sprachen in der Ukraine«. Diesem wurden in einem Gutachten der wissenschaftlichen Hauptabteilung des ukrainischen Parlaments zahlreiche Mängel nachgewiesen und er wurde nie auf die Tagesordnung gesetzt. Erwähnt werden soll hier lediglich der geplante Artikel 7 (Die Russische Sprache in der Ukraine. Ukrainisch-Russische Zweisprachigkeit), der im gesellschaftlichen Diskurs Kritik hervorrief. Darin hieß es u. a.: »Die ukrainisch-russische Zweisprachigkeit, die sich historisch ergeben hat, ist eine wichtige Errungenschaft des ukrainischen Volkes und eine kraftvolle Quelle der Konsolidierung der multinationalen ukrainischen Gesellschaft«.

Der im August 2011 im ukrainischen Parlament registrierte, von den Abgeordneten Kiwalow und Kolesnitschenko (beide Partei der Regionen) eingebrachte Gesetzentwurf Nr. 9073 enthielt die genannte Norm zur Zweisprachigkeit nicht mehr. Der Entwurf wurde im Februar 2012 auf die parlamentarische Tagesordnung gesetzt. Sowohl das zuständige Fachgremium, nämlich der Ausschuss für Kultur und Geistlichkeit, als auch die wissenschaftliche Hauptabteilung des Parlaments schlugen in ihren Gutachten vom Mai 2012 vor, das Gesetzesprojekt abzulehnen bzw. zunächst zu überarbeiten. Dessen ungeachtet wurde der Entwurf in erster Lesung mit einer Mehrheit von 234 Stimmen am 24. Mai 2012 angenommen, wobei es im Sitzungssaal zu Handgreiflichkeiten zwischen Befürwortern und Gegnern des Gesetzes kam. Am 3. Juli, kurz vor der Sommerpause des Parlaments, stimmte eine Mehrheit von 248 Abgeordneten auch in zweiter Lesung für den Entwurf. Nachdem der Parlamentspräsident Wolodymyr Lytwyn am 6. Juli noch verkündet hatte, er werde das Gesetz nicht unterschreiben, tat er dies am 31. Juli doch. Präsident Janukowytsch unterzeichnete das Gesetz am 8. August und setzte gleichzeitig eine Arbeitsgruppe zur Erarbeitung von Vorschlägen zur Vervollkommnung der Sprachengesetze in der Ukraine ein. Seit dem 10. August 2012 ist das Gesetz »Über die Grundlagen der staatlichen Sprachenpolitik« in der Ukraine in Kraft.

In der von den beiden Gesetzesinitiatoren stammenden Begründung wird der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen breiter Raum gegeben. Dies ist der Sache nach nicht zu beanstanden: In der Ukraine ist die Charta im Jahr 2006 in Kraft getreten. In der bisher einzigen Empfehlung des Ministerkabinetts des Europarats zur Anwendung der Charta durch die Ukraine aus dem Jahre 2010 werden mehrere Punkte beanstandet, so die Regelungen zum Hochschulzugang für Sprecher von Minderheitensprachen oder die bestehenden Quoten im Hörfunk und Fernsehen. Diskutieren lässt sich jedoch – und dies wird insbesondere in philologischen Kreisen auch getan – ob die Charta für einen Fall wie den der russischen Sprache in der Ukraine überhaupt geeignet ist, da es sich nicht um eine »allmählich zu verschwinden drohende […] Regional- oder Minderheitensprache« handele, wie in der Präambel der Charta formuliert ist.

Ein weiterer Grund für die Notwendigkeit des neuen Gesetzes ist für die Initiatoren die Unvollkommenheit der geltenden Rechtslage in der Ukraine, wobei sie allgemein eine Reihe zwischen 2005 bis 2009 (also in der Ära Juschtschenko) ergangener untergesetzlicher Akte und speziell die Einführung obligatorischer Tests der Kenntnisse der ukrainischen Sprache für Schulabgänger mittlerer Schulen und für die Aufnahme in höhere Schulen anführen. In der Lesart der Gesetzesinitiatoren handelte es sich dabei um Maßnahmen, »die auf eine künstliche Diskriminierung und die Verdrängung aller anderen Sprachen außer der ukrainischen aus dem gesellschaftlichen Leben gerichtet« waren.

Anders als der Name des Gesetzes nahelegt, werden nicht nur Grundlagen der Sprachenpolitik geregelt. Vielmehr enthält es in den Abschnitten II. bis VI. in 21 einzelnen Artikeln eine Reihe von Detailfragen bspw. zur Namensschreibweise, zu Sprachen in Massenmedien und Druckerzeugnissen, in Kultur, Wissenschaft und Informatik, in Bildung, im Wahlkampf und bei Wahlen, zum Dokumentenverkehr sowie zur Verwendung von Sprachen in Behörden und Instanzen verschiedener staatlicher Ebenen.

Zweifel an den eigentlichen Motiven der Initiatoren nährt bereits der Gesetzestext: So fällt bspw. auf, dass in Art. 7 Russisch an erster Stelle, vor der alphabetischen Aufzählung der weiteren Sprachen genannt wird. Auch sonst wird Russisch mehrfach im Text explizit benannt, was die Vermutung nahelegt, die Initiatoren haben bei der Ausarbeitung in erster Linie die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine vor Augen gehabt.

Ein wunder Punkt für viele Ukrainophile ist die Frage der Sprache im Bildungssektor. Das Gesetz sieht beispielsweise in Art. 20 Abs. 7, 8 vor, dass in Gebieten mit regionalen Sprachen der Stundenumfang, mit dem diese regionalen Sprachen in staatlichen Schulen Unterrichtssprache sein sollen, von den örtlichen Gebietskörperschaften bestimmt werden solle (Ausnahme ist nur Unterricht in ukrainischer Sprache und Literatur). Vor dem Hintergrund der realen Dominanz des Russischen in östlichen und südlichen Landesteilen kann auf diese Weise eine sprachliche Trennung verfestigt werden. Je nachdem, wie diese Vorschriften umgesetzt werden, kann ein tatsächlicher Widerspruch zur Charta der Regional- oder Minderheitensprachen entstehen. Die Charta geht nämlich von »der Erwägung [aus], dass der Schutz und die Förderung der Regional- und Minderheitensprachen sich nicht nachteilig auf die Amtssprachen und die Notwendigkeit, sie zu erlernen, auswirken sollte«.

Zu kritisieren am Gesetz sind auch gewisse Unklarheiten in Bezug auf die Beschlussfassung. Nach dem Gesetzestext sind die örtlichen Räte für die Beschlüsse zuständig, z. B. auch für die Klärung der Frage, ob Maßnahmen nach diesem Gesetz auch für eine Sprache, deren Sprecher in einem Territorium weniger als 10 % der Bevölkerung ausmachen, Anwendung finden können (Art. 7 Abs. 3). Unklar hierbei bleibt, welche genaue Ebene letztlich die Entscheidungsgewalt hat. Auch ist der Begriff des Territoriums bzw. einer Region nicht hinreichend klar abgegrenzt.

Die Regelungen des Gesetzes, nach denen sich Bürger an Verwaltungs- oder Justizbehörden in ihrer Muttersprache wenden können, sind nachvollziehbar. Hingegen verwundert die Vorschrift in Art. 10 Abs. 2, nach der sich auch örtliche Behörden aus Gebieten, in denen regionale Sprachen gesprochen werden, in ihrem Schriftwechsel mit höchsten Staatsorganen nicht der Staatssprache, sondern der betreffenden regionalen Sprache bedienen können. Es scheint, dass hier über den eigentlichen Schutzzweck des Gesetzes hinausgegangen wird.

Realitätsfern muss im Übrigen der die finanziellen Auswirkungen des Gesetzes auf den Staatshaushalt sowie die kommunalen Haushalte betreffende Abschnitt der Gesetzesbegründung genannt werden. Die Initiatoren gingen davon aus, dass durch Inkrafttreten des neuen Gesetzes keine zusätzlichen Kosten entstünden. Man muss nicht einmal soweit gehen, Art. 10 Abs. 1, nach welchem die Akte höchster Staatsorgane auf Ukrainisch getroffen und »offiziell in der Staatssprache und auf Russisch und anderen Regional- und Minderheitensprachen publiziert« werden, so auszulegen, dass diese Akte schlicht in alle in Art. 7 Abs. 2 genannten 18 Sprachen übersetzt werden müssen (eine solche Auslegung wäre nach dem Wortlaut des Gesetzes möglich). Selbst wenn man (theoretische Minimalvariante) davon ausgeht, dass nur eine Sprache (Russisch) den Status einer Regionalsprache erlangt (wenn also nur die Sprachen gemeint sind, die das 10%-Kriterium erfüllen und entsprechende Bestätigung durch die Munizipalität auf regionaler Ebene erfahren), wäre bereits allein dieser Mehraufwand finanziell und organisatorisch erheblich.

Fazit

Das am 10. August 2012 in Kraft getretene neue ukrainische Sprachengesetz »Über die Grundlagen der staatlichen Sprachenpolitik« löst das »Gesetz der Ukrainischen Sowjetrepublik ›Über die Sprachen‹« ab. Während das aus der Sowjetzeit stammende Sprachengesetz unter Wahrung der Rechte von Minderheiten und nicht-ukrainischer Nationalitäten in erster Linie den Status des Ukrainischen aufwertete und förderte, privilegiert das neue Sprachengesetz mit Verweis auf die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen in zahlreichen Gebieten der Ost- und Südukraine de facto v. a. die russische Sprache, ohne dass dies im Gesetz solchermaßen klar ausgesprochen wird. Das ist wohl auch den politischen Kräften und weiten Teilen der Bevölkerung – und damit der Wählerschaft – bewusst. In immer mehr Munizipalitäten wird unter Anwendung des neuen Sprachengesetzes in jüngster Zeit Russisch zur Regionalsprache erhoben. Deren Verwendung ist in allen öffentlichen Bereichen uneingeschränkt möglich.

In sprachlicher Hinsicht bringt die Novelle eine gesetzliche Zementierung des Nebeneinanders des Russischen und des Ukrainischen; einer Entwicklung, die einerseits den faktischen Gegebenheiten entspricht und andererseits die sprachliche Segregation in der Ukraine fördert. Inwiefern das neue Sprachengesetz auch eine Eindämmung oder gar Zurückdrängung des Ukrainischen zeitigen wird, bleibt abzuwarten. Anzeichen hierfür lassen sich bisher nicht erkennen. Doch eines ist klar: Als integrations- und identifikationsstiftender Faktor im Nationsbildungsprozess hat die ukrainische Sprache in jedem Fall an Bedeutung verloren.

Die von der Opposition eingerichtete »Fan-Zone der ukrainischen Sprache«, die in sprachlicher und örtlicher Anlehnung an die im Juni 2012 an gleichem Ort befindliche Fan-Zone für in- und ausländische Fußballfans anknüpft, befindet sich derzeit auf dem Prospekt der Freiheit in Lwiw. Sie ist allerdings nach Beobachtung der Autoren eher mäßig besucht und wird wohl spätestens nach den Parlamentswahlen Ende des kommenden Monats rasch wieder verschwinden. Damit ist auch die Hoffnung verbunden, dass sich die politischen Kräfte wieder dringenderen Problemen zuwenden werden.

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