Pressestimmen zur Parlamentswahl vom 28. Oktober 2012

Das zerstörte Bild »ehrlicher« Wahlen

Ukrajinska Prawda, Kiew, 08.11.2012, Nikolaj Gusew

Für die Opposition wäre es nicht nötig sondern sogar schädlich gewesen, eine Parlamentsmehrheit zu erringen – vielmehr müssen die Präsidentschaftswahlen 2015 gewonnen werden. Und das kann nur unter einer Voraussetzung erfolgen: Der schmerzhafte Prozess einer Einigung und Abstimmung der Positionen zwischen Freiheit, Vaterland und UDAR muss schon im Parlament beginnen.

Das Ergebnis des Prozesses sollte eine gemeinsame Kandidatur sein, die in den Wahlen 2015 eine Aussicht auf Erfolg gegen Janukowytsch hat. Und, so zynisch das auch klingen mag, Julija Tymoschenkos Gefängnisaufenthalt kann der Einigung nur dienlich sein. Sicher werden Jazenjuk, Klytschko und Tjahnibok in der Lage sein, mit Blick auf die politischen Realitäten 2014–2015 diese Frage unter sich zu klären. Doch nicht Julija Wladimirowna.

Stellen wir uns einmal hypothetisch vor, dass Wiktor Janukowytsch seinen klugen Beratern folgt (was glücklicherweise ausgeschlossen ist), Tymoschenko freilässt und ihr die Möglichkeit gibt, sich am politischen Prozess zu beteiligen. Für einen Sieg der Opposition bei den Präsidentschaftswahlen 2015 könnte man sich nichts Schlimmeres vorstellen.

Tymoschenko wird sich nie und nimmer auf etwas geringeres als die alleinige Kandidatur bei diesen Wahlen einlassen. Doch entweder wird das die Opposition zerreißen – oder sie akzeptiert die Forderungen des Blocks Tymoschenko und handelt sich eine garantierte Niederlage gegen Janukowytsch im zweiten Wahlgang ein.

http://www.pravda.com.ua/rus/columns/2012/11/8/6976451/

Man hat die Ukraine aufgegeben

DePo.ua (Delowoj Portal), Kiew, 12.11.2012, Ekaterina Prischtschepa, Jarema Gorodschuk

Der ukrainischen Macht spielt in die Hand, dass sowohl die EU als auch die USA mit eigenen Problemen ausgelastet sind. Brüssel sucht nach zumindest kurzer Entlastung in der ernsten Finanzkrise, die die Einheit der Europäischen Union bedroht.

Zudem finden in weniger als einem Jahr Parlamentswahlen in Deutschland statt, das eine führende Rolle in der EU spielt. Aus diesem Grund sind die politischen Eliten mit ihren eigenen parlamentarischen Kampagnen beschäftigt, und sogar die geringe Aufmerksamkeit, die man der Ukraine im Moment schenkt, verschwindet möglicherweise bald komplett.

Die USA könnten denselben Weg gehen, da aus den vergangenen Wahlen der amtierende Präsident Barack Obama hervorging, dessen Interesse für die Ukraine auch zuvor nicht eben ausgeprägt war. Davon abgesehen strebt der Chef des Weißen Hauses – nach seinem Wahlprogramm zu urteilen – eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland an. Folglich kann von einem ernsthaften Tauwetter in den Beziehungen zu Kiew keine Rede sein.

http://www.depo.ua/ru/delovaja-stolica/2012_arhiv-nomerov-ds/nojabr_2012/46-600/92932.htm

Das Volk fürchtet sich nicht mehr vor der Macht

Kommentarii, Kiew, 2.11.2012, Oleh Polischtschuk

In ihrer »blau-weißen« Zone hat die Partei der Regionen in bedeutendem Maße Stimmen mit der Kommunistischen Partei getauscht, die verglichen mit den Parlamentswahlen von 2007 ihr Resultat mehr als verdoppeln konnte. Doch das ist auch die einzige gute Nachricht für die »russische Welt«.

Die restlichen Ergebnisse der Parlamentswahlen sind beunruhigend, sowohl für den Kreml als auch und vor allem für die Bankowaja [Sitz des Präsidenten, Anm. d. Red.]. Die erste und wichtigste unangenehme Neuigkeit besteht darin, dass die oppositionelle Trojka aus Vaterland, UDAR und Freiheit die Parlamentswahlen faktisch gewonnen hat, und das bei totaler Ausschöpfung administrativer Ressourcen: Wäre das Parlament, wie zuvor, nur nach Parteilisten gewählt worden, hätte die Dreierkoalition nun eine parlamentarische Mehrheit mit 240–250 Mandaten. Sicher, jetzt hofft die Partei der Regionen auf die von ihr kontrollierten selbstaufgestellten Kandidaten aus den Einerwahlkreisen (wofür ja überhaupt wieder zum gemischten Wahlsystem gewechselt wurde), jedoch wird die Parlamentsmehrheit der Macht in den Augen der meisten Ukrainer illegitim aussehen.

http://gazeta.comments.ua/?art=1351768704

Der Weg nach Westen verschlossen

FAZ, Frankfurt a. M., 29.10.2012, Reinhard Veser

Nach dem ebenso verheerenden wie zutreffenden Urteil der internationalen Beobachter über die ukrainische Parlamentswahl ist für die Ukraine der Weg nach Westen vorerst verschlossen. Falls es in Kiew nicht bald grundlegende Veränderungen gibt, wird das ausgehandelte Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU als Dokument der Vergeblichkeit in die Archive wandern. Die EU kann nicht anders handeln, wenn sie als Wertegemeinschaft glaubwürdig bleiben will.

Das ist für beide Seiten schlecht, für beide aus demselben Grund: Damit wächst die Gefahr, dass Präsident Janukowitsch das Land zum Zwecke des Machterhalts in den russischen Orbit führt. Dann wäre eine demokratische Entwicklung der Ukraine, die – wie das Wahlergebnis zeigt – immer noch von vielen Ukrainern gewünscht wird, nicht nur von den Machtverhältnissen in Kiew, sondern auch noch von denen in Moskau abhängig. Zur Voraussetzung für eine demokratische Ukraine würde ein Russland ohne Putin. Die EU und der Westen insgesamt würden damit nicht nur einen möglichen Partner verlieren.

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wahl-in-der-ukraine-der-weg-nach-westen-verschlossen-11942973.html

Die Ukraine braucht ein Signal aus der EU

Die Welt, Berlin, 29.10.2012, Gerhard Gnauck

Wenn Wahlergebnisse beeinflusst werden sollen, passiert das weniger am Wahltag selbst, sondern vorher oder hinterher. Das meinen auch die Wahlbeobachter der OSZE, wenn sie von einem Rückschritt für die Demokratie im Land sprechen. Trotz alledem: Die Wahlen in der Ukraine sind, wie kürzlich jene in Georgien, von der Prozedur her eher positiv zu bewerten.

Betrüblicher sind andere Signale: Die Enttäuschung vieler Wähler hat dem Land mit 58 Prozent die niedrigste Wahlbeteiligung seit 1991 beschert. Der Frust hat die Extreme gestärkt: Die Kommunisten sind nach längerer Pause wieder zweistellig. Die Nationalisten sind erstmals im Parlament.

Darüber darf sich die Regierungspartei von Präsident Viktor Janukowitsch, die die Wahlen gewonnen hat, nun gerade nicht beklagen. Sie hat in ihrem irrsinnigen Kampf gegen die demokratische Opposition dazu beigetragen, dass die Partei von Julia Timoschenko 2010 in Lemberg nicht an den Regionalwahlen teilnehmen durfte.

Die Wähler schalteten in den nächsten, radikaleren Gang und wählten die Nationalisten. Sie wurden am Sonntag in Lemberg stärkste Partei. Eins plus eins macht zwei, auch in der Ukraine.

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article110346715/Die-Ukraine-braucht-ein-Signal-aus-der-EU.html

Klitschko und Timoschenko können die Ukraine nur gemeinsam retten

Die ZEIT, Hamburg, 30.10.2012, Steffen Dobbert

Vitali Klitschko kann ein weiterer neuer Hoffnungsträger für das Land werden. Aus dem Stand überzeugte seine Udar-Partei mit dem Ziel, die Korruption zu bekämpfen, etwa 14 Prozent der Wähler.

Im neuen Parlament müssen Timoschenko und Klitschko nun gemeinsam opponieren. Dabei brauchen sie ein Europa, das unterstützt, das sich interessiert und die Brüche der Rechtsstaatlichkeit kritisiert.

Der ehemalige Boxer muss sich mit der Inhaftierten verbünden. Drei Jahre haben sie Zeit. 2015, bei der Präsidentschaftswahl, werden sie nur unter zwei Voraussetzungen die Ukraine vor der Autokratie bewahren können. Erstens müssen sie sich auf einen Präsidentschaftskandidaten einigen. Und zweitens müssen sie jene Menschen zurückgewinnen, die den Glauben an die Veränderungskraft der Politik verloren haben. Das ist die größte, vielleicht unmögliche Herausforderung.

http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-10/ukraine-wahl-betrug-waehlerwille

Gastbeitrag: Nach den Wahlen verliert die Ukraine an Handlungsspielraum

Financial Times, London, 07.11.2012, Andrew Wilson

Die Überzeugung, dass einigermaßen saubere Wahlen es Brüssel erlauben würden, dem Assoziierungsabkommen mit Kiew, das seit Dezeber 2011 auf Eis liegt, grünes Licht zu geben, war in jedem Falle hoffnungslos optimistisch.

Die EU muss ihre Bedingungen für stärkere Verbindungen zur Ukraine klarer definieren. Diese müssen drei Kriterien enthalten: die Abhaltung von Wahlen, Maßnahmen gegen die selektive Anwendung des Rechts und die Reform­agenda für das Assoziierungsabkommen.

Ohne Fortschritt in diesen Bereichen, und insbesondere ohne Anzeichen auf einen Kompromiss im Fall der inhaftierten Oppositionsführerin Julija Tymoschenko, war es zu keiner Zeit wahrscheinlich, dass das Abkommen von EU-Schlüsselstaaten, die mit Skepsis auf die Ukraine blicken, unterzeichnet werden könnte.

Nun gibt es Gerüchte, dass der EU-Ukraine-Gipfel auf das kommende Jahr verschoben werden soll. Das sollte den Entscheidungsträgern in der EU Zeit geben, einen kreativeren Ansatz zu entwerfen – irgendwo zwischen grünem Licht und roter Linie.

http://blogs.ft.com/beyond-brics/2012/11/07/guest-post-after-the-elections-ukraine-is-losing-room-for-manoeuver/#axzz2C747P8WP

Die ukrainischen Wahlen und das russische Modell

Washington Post, Washington, D.C., 29.10.2012, Will Englund

Witalij Klytschko, Boxchampion und Chef einer neuen Partei mit Namen UDAR, erklärte bei einer Pressekonferenz am Montag, er wünsche sich einen Zusammenschluss der Oppositionsgruppen, um die Ukraine auf einen »demokratischen Weg« zu bringen und das »Janukowytsch-Regime« zu beseitigen.

Es ist ungewiss, ob sie dazu in der Lage wären, selbst wenn ihnen die Vereinigung gelänge. Doch im Gegensatz zu Putin, der sich jüngst lautstarker Kritik ausgesetzt sah, kann Janukowytsch keine Öl- oder Gaseinkommen über das Land verteilen. Er hat Gehälter und staatliche Zuschüsse erhöht, ohne einen Finanzierungsweg für die Zeit nach der Wahl aufzuzeigen. Seine Kritiker glauben, dass ihm der politische Verstand Putins fehle, den dieser nutzte, um sich an der Spitze Russlands fest zu etablieren. […]

Janukowytschs Oligarchenfreunde scheinen, anstatt ihn zu fürchten, sich vom ihm distanzieren zu wollen. Rinat Achmetow, ein Geschäftsmann aus Donezk und einer der reichsten Magnaten der Ukraine, verzichtete auf seinen Parlamentssitz. Er ist zur Zeit stärker an einer Verbesserung seines eigenen Images interessiert, sagte Jewhen Stratiewskij, ein Donezker Blogger. Janukowytsch und die Partei der Regionen eignen sich nicht dafür.

http://www.washingtonpost.com/world/europe/monitors-decry-ukraine-election/2012/10/29/6a5049e6-21d3-11e2-8448-81b1ce7d6978_story.html

Russland kann sich in der Ukraine auf niemanden verlassen

Nesawisimaja Gaseta, Moskau, 19.11.2012, Tatjana Iwshenko

In einem Monat nimmt in der Ukraine das neue Parlament seine Arbeit auf. Es zeichnet sich besonders durch die Abwesenheit politischer Kräfte aus, die eine Partnerschaft mit Russland anstreben. Eine solche Situation besteht zum ersten Mal. Das oppositionelle Lager wurde um die nationalistische Partei »Freiheit« ergänzt, von der kaum eine freundschaftliche Einstellung zu Russland zu erwarten ist. Und die als prorussisch geltenden Parteien – die Partei der Regionen und die Kommunistische Partei – nutzen offensichtlich bloß wohlklingende Phrasen über die Freundschaft der Brudervölker, ohne in Wirklichkeit eine Annäherung anzustreben. Russland kann sich in der Ukraine auf niemanden mehr verlassen. Und diese Situation wird sich bis zu den Präsidentschaftswahlen 2015 nicht ändern.

Wenn im Laufe der vergangenen Wahlkampagnen in der Ukraine die Frage nach so etwas wie einem russischen Faktor aufgekommen war, so wurde in diesem Jahr noch nicht einmal die Erinnerung daran wach. In Kiew kümmerte alle ausschließlich die Meinung des Westens, der zum ersten Mal zum Haupteinflussfaktor wurde.

http://www.ng.ru/cis/2012-11-19/7_ukraina.html

Die Demonstration endet, der Markt beginnt

Nowaja Gaseta, Moskau, 14.11.2012, Olga Musafirowa

Sogar mit Fälschungen und Betrug während der Stimmauszählung, Missbrauch administrativer Ressourcen und Schlägereien mit Beteiligung der Spezialeinheit »Berkut« hat die Opposition in der Summe nur fünf Mandate weniger erhalten als die Partei der Macht. Wenn sie nun entscheidet, ihre Parteilisten zu »annullieren« [d. h. die Mandate nicht anzunehmen, Anm. d. Red.] verlöre das Parlament seine Legitimität (von 450 Abgeordneten blieben weniger als 300). Solch ein Vorgehen verlangte ernsthafte juristische Unterstützung. Dafür würde es den Weg für wiederholte Parlamentswahlen und in der Folge auch für vorgezogene Präsidentschaftswahlen frei machen. […]

Die Führer der drei Oppositionskräfte kamen jeden Abend zum Gebäude der Zentralen Wahlkommission. Es war jedoch erkennbar: zu »Annullierung« und erneutem Kampf ist lediglich Anatolij Hryzenko bereit, der ehemalige Verteidigungsminister und Vorsitzende des zuständigen parlamentarischen Ausschusses. Die restlichen wiegen offenbar den Spatz in der Hand: Und wenn die zweite Möglichkeit sich nicht als besser, sondern als schlechter herausstellt? Der Wähler ist müde, es gibt kein Geld mehr für Kampagnen, um Julijas [Tymoschenkos, Anm. d. Red.] Gesundheit ist es natürlich schade, doch noch schlimmer wäre es, die Mandate aufzugeben … Ins Mikrofon sagen sie natürlich etwas anderes. Sie halten die Spannung.

http://www.novayagazeta.ru/politics/55409.html

Zusammengestellt und übersetzt von Jan Matti Dollbaum

Zum Weiterlesen

Artikel

Belarus: From the old social contract to a new social identity

Von Nadja Douglas
ZOiS Report 6/2020 State-society relations in Belarus have been tense for many years. The presidential elections in August 2020 and the mishandling of the ongoing Covid-19 pandemic have proved to be the catalyst that brought these fragile relations to a complete breakdown. Over the years, the widening gap between a new generation of an emancipated citizenry and a regime stuck in predominantly paternalistic power structures and reluctant to engage in political and economic reforms has become increasingly evident. The deteriorating economy during the last decade and the perceived decline of the country’s social welfare system have been important factors in these developments. At the same time, the regime has continued to invest in its domestic security structures to a disproportionate extent compared with neighbouring states, allowing the so-called silovye struktury (“state power structures”) to gain influence at the highest level of state governance. (…)
Zum Artikel auf zois-berlin.de
Analyse

Ein neuer Präsident – und nun?

Von Nico Lange
Mit der Stichwahl am 7. Februar 2010 kam der monatelange Prozess der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine zu einem Ende. »Endlich«, ist man fast geneigt hinzuzufügen. Vieles deutet aber darauf hin, dass in Bezug auf die ersehnte politische Stabilität und die Lösung der vielen politischen und wirtschaftlichen Probleme der Ukraine diese Präsidentschaftswahlen kaum einen entscheidenden Schritt nach vorn bedeuten werden.
Zum Artikel

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