Die KMU und postkommunistische Transformation. Zur zivilgesellschaftlichen Rolle der Kleinen und Mittleren Unternehmen sowie der Eigentum besitzenden Mittelschicht

Von Mykhaylo Banakh (Kiew)

Zusammenfassung
Häufig werden die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) als die treibende Kraft der wirtschaftlichen Transformation angesehen. Aber welche Rolle spielen diese Unternehmen und die Eigentum besitzende Mittelschicht bei politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen in der Ukraine? Besitzen diese Bevölkerungsschichten überhaupt entsprechende zivilgesellschaftliche Relevanz? Diese Fragen werden im folgenden Beitrag erörtert.

Einleitung

In Bezug auf die Vertretung der wirtschaftlichen Interessen in der Ukraine lässt sich Folgendes feststellen: Großunternehmen und Großinvestoren fürchten nicht so sehr die Willkür des Staates – sie pflegen bestimmte Probleme auf dem informellen Weg zu lösen (bei ungeklärten Fragen werden Politiker, Staatsbedienstete und Regierungsmitglieder häufig direkt kontaktiert, ohne dabei eine Vermittlungsoption über Parteien und Verbände zu wählen) und werden vom Staat häufig bevorzugt behandelt. Eher fürchten sie Veränderungen und Unsicherheiten infolge der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche. Viele Vertreter der großen Wirtschaftsunternehmen sind daher direkt im Parlament, in zahlreichen Ausschüssen und Parteien aktiv. Sektorale Interessengruppen und individuelle Großunternehmer benötigen somit keine Verbände, um wirtschaftspolitische Entscheidungsprozesse beeinflussen zu können, denn sie sind direkt oder indirekt darin involviert. Außerdem wollen große Betriebe häufig nur eine stabile Regierung, an deren Politik sie sich anpassen und so längerfristig erfolgreich agieren können. Die zivilgesellschaftlichen Instrumente – also formelle oder institutionalisierte Einflussnahme und öffentliche Interessenvertretung – werden in der Ukraine von größeren Wirtschaftsakteuren kaum genutzt.

In einer anderen Situation sind die KMU, die vor Eingriffen des Staates durch zivilgesellschaftliche Institutionen geschützt werden müssen. In der neuesten ukrainischen Geschichte wurden gerade die kleinen und mittelgroßen Firmen häufig von der staatlichen Bürokratie und von der Oligarchie erpresst. Diese wirtschaftlichen Akteure sind am meisten auf die zivilgesellschaftliche Schutzfunktion angewiesen. Welche zivilgesellschaftlichen Mechanismen werden aber genutzt, um eigene Interessen an die Öffentlichkeit weiterzuleiten? Zunächst stellt sich die Frage, inwieweit die KMU aus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Perspektive relevant sind.

Ökonomischer Aspekt und zivilgesellschaftlicher Zusammenhang

Während Wirtschaftsexperten die KMU aus ökonomischer Perspektive unter die Lupe nehmen und sie nach Mitarbeiterzahl und Umsatz genau untersuchen, interessiert uns nur generell, warum solche Unternehmen wichtig und welche Eigenschaften für sie kennzeichnend sind. Im Vergleich zu Großunternehmen sind sie flexibel und reagieren schneller auf aktuelle Bedürfnisse des Marktes und auf die Veränderungen der Konjunktur. Während Großbetriebe eher in der (Industrie-)Produktion zu finden sind, sind die KMU in den Bereichen Dienstleistungen und Handel unentbehrlich. Sie spielen eine große Rolle in der Beschäftigungspolitik, denn von KMU werden zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen. Die Vertreter der KMU bilden den Mittelstand und gehören in der Regel der Mittelschicht an. Aus der letzten lassen sich häufig die zivilgesellschaftlich aktiven Bürger rekrutieren. Wie sich die Mittelschicht von anderen Bevölkerungsschichten unterscheidet, wird am Beispiel der paternalistischen Orientierung dargestellt.

Paternalistische Einstellungen

Die kommunistischen Gesellschaften waren vor allem durch den stark ausgeprägten Paternalismus gekennzeichnet, der entscheidend die Charaktere der Menschen, ihre Einstellungen und Verhaltensweisen prägte. Passivität und paternalistisch geprägte Verhaltensweisen finden den Ausdruck in der Mentalität eines so genannten Sowjetmenschen, der in der Überzeugung aufgewachsen ist, dass der Staat für sein Wohl sorgen solle. Auch nach 20 Jahren postkommunistischer Transformation sind hohe Erwartungen an den für alles zuständigen und fürsorglichen Staat zu beobachten. Die paternalistische Orientierung manifestiert sich in einem Anspruchsdenken gegenüber dem Staat: »Das kann ich erwarten, das steht mir zu.«

Allerdings sind in der Ukraine auch Verschiebungen im Anspruchsdenken zu beobachten: Immer mehr ukrainische Bürger erwarten vom Staat nur die Schaffung der entsprechenden Rahmenbedingungen, damit sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können (vgl. Tab. 1). Die rein paternalistische Orientierung, nach welcher der Staat seine Bürger versorgen und ihnen ein gewisses Lebensminimum sichern soll, ist von 2005 bis 2008 leicht zurückgegangen. Ein überdurchschnittlich hohes Anspruchsdenken ist gerade in den unteren sozialen Schichten verbreitet: Ihr Anteil ist in drei Jahren sogar um über drei Prozentpunkte gestiegen (vgl. Tab. 1). Die ärmeren Bevölkerungsschichten wünschten sich auch seltener entsprechende vom Staat geschaffene Bedingungen, als dies bei der Mittelschicht der Fall war. Während im Jahr 2008 etwa zwei von drei Angehörigen der Mittelschicht sich die Verbesserung ihrer Lebenssituation auf Grundlage der günstigen Bedingungen zutrauten, war es unter den Mitgliedern der sozialen Unterschichten nur jeder zweite Befragte.

Offensichtlich findet Bürgersinn in der Ukraine nur langsam eine Verbreitung. Was wird darunter verstanden? Der Bürger in diesem Sinn fragt nicht, was andere, insbesondere der Staat, für ihn tun können, sondern tut selbst etwas. Und diese Eigenschaft ist gerade für die Mittelschicht und für kleine und mittlere Unternehmer kennzeichnend.

Zivilgesellschaftliche Aktivitäten

Können sich kleine Unternehmer, mittelgroße Wirtschaftsakteure zivilgesellschaftlich engagieren? Die Antwort ist »Ja«. Dies haben sie auch mehrmals eindrücklich unter Beweis gestellt. An dieser Stelle soll an zwei bedeutende Ereignisse erinnert werden: Die Revolution in Orange im Jahr 2004 und der Majdan der Unternehmer Ende 2010.

Kleine Unternehmer fühlten sich nach der Jahrtausendwende von Staat und Behörden erpresst und sahen ihr Geschäft oder Eigentum zunehmend vom System bedroht. Dies führte dazu, dass Vertreter der Mittelschicht sich während der Revolution für die orangefarbene Bewegung einsetzten. Es gab außerdem genug konkrete Beispiele, die verdeutlichen, dass Kleinunternehmer, Inhaber von Kliniken, Geschäften und Cafés sowie Eigentümer, kurzum die Angehörigen der ukrainischen Mittelschicht mit voller Unterstützung hinter der revolutionären Bewegung standen. Die kleinen und mittleren Unternehmer engagierten sich eher im Hintergrund und boten der orangefarbenen Bewegung finanzielle und logistische Unterstützung, ohne dabei selbst an den Protesten teilzunehmen. Wie viele Unternehmer auf die Straße gegangen sind, wird in Tab. 2 dargestellt. Bezeichnend ist, dass unter den Revolutionären fast jeder zweite Aktivist aus der Mittelschicht kam. Über 30 % der Aktivisten waren Spezialisten in unterschiedlichen Bereichen. Jeder achte Revolutionsteilnehmer war qualifizierter Facharbeiter. Landwirte, Großbauern sowie Besitzer von Mittel- und Kleinbetrieben waren ebenfalls unter den Demonstranten. Das beispielhafte Engagement der ukrainischen Mittelschicht während der Revolution in Orange zeigt, dass die gut situierten Bürger auch bei der politischen Transformation eine große Rolle spielen können.

Ukrainische Unternehmer fühlten sich aber auch in der postrevolutionären Phase zunehmend benachteiligt. Im Juni 2008 wurde 2014 Probanden in allen Regionen in der Ukraine folgende Frage gestellt: »Auf was ist in erster Linie die sozio-ökonomische Politik der Regierung gerichtet?« Nur 12,4 % der Befragten meinten, dass sich die Regierungspolitik förderlich auf die Formierung der Mittelschicht auswirke. Fast die Hälfte (47,4 %) war jedoch der Meinung, dass diese auf die Unterstützung des Großkapitals – also der Reichen und Oligarchen – gerichtet sei (siehe Grafik 1).

Ende 2010 sind die unternehmerisch aktiven Bürger wieder auf die Straße gegangen. Warum? Ukrainische kleine und mittlere Unternehmer waren mit dem neuen Steuerkodex unzufrieden. Da sie ihre Interessen in Politik und Zivilgesellschaft unzureichend repräsentiert sahen, gingen sie auf die Straße, um öffentlich ihre Meinung zu äußern und gegen die Willkür der staatlichen Behörden zu demonstrieren. Die Protestaktivitäten der Unternehmer, also hauptsächlich Vertreter der KMU, hatten am Ende Erfolg, denn Präsident Janukowytsch legte schließlich gegen den Gesetzentwurf sein Veto ein. Der neue Steuerkodex war – milde ausgedrückt – kein Ausdruck eines wettbewerbsfähigen, transparenten und gerechten Steuersystems. Die ukrainischen Unternehmer fürchteten sechs Jahre nach der Revolution in Orange wieder um ihre Existenz.

Im Jahr 2012 war die Protestaktivität der ukrainischen Bürger wieder auf einem hohen Niveau. Insgesamt wurden 3636 Protestereignisse (im Jahr 2011: 2277) gezählt. Jede dritte Protestaktion war politisch motiviert und meistens durch die Parlamentswahlen 2012 bestimmt (34 %). Den größten Anteil hatten aber die Proteste mit sozial-ökonomischen Forderungen (43 %). Die Mehrheit dieser Proteste fand ohne Beteiligung von politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften oder sonstigen politischen Gruppen statt. Die aktive Teilnahme der informellen Gruppen und politisch neutralen Bürgerinitiativen lag bei wirtschaftlich motivierten Protestaktionen bei 58 % (siehe Grafik 2). Die Zahlen verdeutlichen, dass häufig versucht wird, ökonomische Fragen durch nichtinstitutionalisierte Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements an die Öffentlichkeit zu tragen. Ist der Weg auf die Straße für kleine und mittlere Unternehmer die einzige Möglichkeit, ihre Interessen wirksam zu vertreten? Und inwieweit werden formelle Organisationen oder die institutionalisierten Formen der Zivilgesellschaft bei der Vertretung wirtschaftlicher Interessen wahrgenommen?

Wirtschaftlich orientiertes Engagement

Dabei handelt es sich um einen Bereich der freiwilligen Aktivitäten, in dem es vor allem um die Sicherung von wirtschaftlichen oder beruflichen Vorteilen geht. Diese Form des persönlichen Engagements findet in der Regel in Gewerkschaften, Berufsverbänden oder in sonstigen ökonomisch ausgerichteten Interessenvertretungen statt. Mit Einschränkung können dazu auch Arbeitgeberverbände gezählt werden, denn die Arbeitgeber organisieren sich, um gemeinsam ihre Interessen zu vertreten und Lobbyarbeit zu betreiben.

Von Verbänden ist die Rede, wenn Vereinigungen zum Zweck des Aufbaus gesellschaftlicher Macht gegründet werden. Während sich größere Wirtschaftsakteure in Verbänden eher staatsbezogen zur Mitwirkung bei der politischen Willensbildung organisieren, so vereinigen sich bestimmte Berufsgruppen in Dachverbänden, um fachbezogene und berufliche Interessen der eigenen Mitglieder zu vertreten. Die mitgliederbezogenen Verbände repräsentieren häufig den ukrainischen Mittelstand und beanspruchen ebenso die politische Willensbildung aber auch das Handeln großer Wirtschaftskonzerne zu beeinflussen.

Aus diesem Grund wird den Berufsverbänden eine Vermittlerrolle zwischen wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Interessen zugeschrieben. Die Frage nach der Bedeutung solcher Verbände könnte unter anderem mit ihrem Anteil an der Gesamtzahl aller Non-Profit-Organisationen in der Ukraine beantwortet werden: Im Jahr 2004 lag der Anteil der Berufsverbände im Dritten Sektor bei 10 %. 2007 machten sie unter allen zivilgesellschaftlichen Organisationen mit nationalem oder internationalem Status etwa 14 % aus: Im Jahr 2009 gab es in der Ukraine 584 (14,1 %) und 2011 bereits 703 (15 %) solche Verbände. Es wurde somit jede siebte zivilgesellschaftliche Organisation aufgrund beruflicher und wirtschaftlicher Interessen gegründet. Gerade nach dem Majdan der Unternehmer gab es eine Registrierungswelle regionaler Assoziationen der Unternehmer, Winzer, Landwirte und Farmbetreiber. Diese schließen sich entsprechenden dachverbandlichen Strukturen auf nationaler Ebene an.

Auch andere ökonomisch aktive Bürger neigen zu institutionalisierten Formen des öffentlichen Engagements. Während es 2007 noch 127 Gewerkschaften gab, wurden im Jahr 2011 bereits 165 solche Arbeitnehmerverbände registriert. Auch ukrainische Arbeitgeber machen häufig in Regionen von dem Recht, sich in Verbänden zu vereinigen, Gebrauch. Es gibt jedoch auch neuere Formen zur Vertretung der Interessen der gut situierten Bürger oder der Eigentum besitzenden Mittelschicht: die Gemeinschaften von Wohnungseigentümern.

Wohnungseigentümergemeinschaften

Auf die Frage des Rasumkow Zentrums »Fühlen Sie sich geschützt vor Versuchen von Enteignung (Geschäft, Grundstück, Immobilien usw.)?« antworteten im Jahr 2009 nur 12,5 % bejahend. 4 von 5 Befragten (78,3 %) fühlten sich nicht ausreichend geschützt und fürchteten um ihr Eigentum. Etwa jeder zehnte Befragte (9,2 %) konnte die Frage nicht beantworten.

Der Erwerb von Eigentum führt in der Regel zum steigenden Verantwortungsgefühl sowohl für das erworbene Objekt als auch für das entsprechende soziale Umfeld. So vereinigen sich die Wohnungseigentümer eines Mehrparteienhauses in Vereinen, um gemeinsam die Gestaltung des Hauses (Gartenausbau, Treppenhausreinigung, Hausschließanlage usw.) voranzutreiben. Ukrainische Wohnungseigentümer lassen ihre Gemeinschaften häufig offiziell registrieren und werden somit in der amtlichen Statistik mitgeführt. Diese Eigentümergruppen wollen sich einerseits gemeinsam um die Belange der unmittelbaren Umgebung kümmern und andererseits auf diese Art und Weise ihr Eigentum sichern. Dieses wirtschaftlich orientierte Engagement geht in den meisten Fällen auch weiter, indem sich die Wohnungseigentümer für die Einrichtung von Kinderspielplätzen oder für die Beibehaltung von Bus- und Straßenbahnlinien und ähnliches einsetzen.

In Tab. 3 wird die quantitative Entwicklung der Eigentümergemeinschaften mit der der Bürgervereinigungen verglichen. Während die Zahl der freiwilligen Bürgervereinigungen in den Jahren 2003 bis 2009 um etwa 60 % stieg, hat sich die Anzahl der registrierten Wohnungseigentümergemeinschaften im gleichen Zeitraum mehr als verdreifacht. Das größte Wachstum verzeichneten diese Gruppen gerade in den Jahren 2008 und 2009, in welchen über 1.700 Eigentümergemeinschaften registriert wurden. Diese rasante Entwicklung ist teilweise mit der globalen Finanzkrise zu erklären. Auch in der Ukraine sind die Immobilienpreise in Zeiten der Rezession stark gefallen. Dies veranlasste zahlungskräftige Käufer auf dem Wohnungsmarkt aktiv zu werden. Das Wachstumstempo ist in den darauffolgenden Jahren gleich hoch geblieben; zum 01.01.2013 gab es bereits 15.018 registrierte Wohnungseigentümergemeinschaften und 74.500 Bürgervereinigungen.

Die Eigentümergruppen verfolgen primär ökonomische Interessen, ihr Handeln zeichnet sich jedoch durch Selbstorganisation und Selbstverwaltung, demokratische Entscheidungen und gesellschaftliche Verantwortung aus. Für den Fall, dass ihre Eigentumsrechte gefährdet wären, würden sie sich zweifellos für den Erhalt und die Sicherung der allgemeinen Bürgerrechte öffentlich einsetzen. Es leuchtet ein, dass die Eigentümergemeinschaften durchaus eine zivilgesellschaftliche Bedeutung haben.

Fazit

Die KMU und die nach der Revolution in Orange wieder erstarkte Mittelschicht scheinen in der potskommunistischen Transformation eine wichtige Rolle zu spielen. Bei den wirtschaftlichen Transformationsprozessen ist ein breites Spektrum an gut funktionierenden kleinen Firmen und mittelgroßen Unternehmen unentbehrlich. Auch bei gesellschaftlichen Veränderungen geht die Mittelschicht mit gutem Beispiel voran, wie es die Verschiebungen in den paternalistischen Einstellungen gezeigt haben. Die Transformation des politischen Systems kann ebenfalls entscheidend durch Inhaber von KMU und weitere Angehörige der Mittelschicht beeinflusst werden. Dies macht deutlich, dass die KMU und die Eigentum besitzende Mittelschicht eine außerordentliche zivilgesellschaftliche Relevanz besitzen. Die freiwilligen Aktivitäten der kleinen und mittleren Wirtschaftsakteure sowie der ökonomisch aktiven Bürger sind sowohl im institutionalisierten als auch im nichtinstitutionalisierten Bereich der Zivilgesellschaft zu beobachten.

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