Die Ukraine ist auch 22 Jahre nach ihrer Unabhängigkeitserklärung von 1991 noch ein zentral organisierter Staat auf der Basis eines Dekrets des Obersten Rats der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (das Dekret über die administrative und territoriale Ordnung vom 12. September 1981). Dabei unterzeichnete und ratifizierte sie 1997 die Europäische Charta für lokale Selbstverwaltung und verpflichtete sich damit, Verantwortung an lokale Behörden abzugeben. Die Verfassung von 1996 benennt das Recht von Bürgern einer Gemeinde oder einem freiwillig zusammengeschlossenen Gemeindeverband, Angelegenheiten von lokaler Relevanz selbst zu regeln, verweist darüber hinaus aber auf gesetzliche Ausgestaltung. Seit dem 21. Mai 1997 gibt es das Gesetz »Über die lokale Selbstverwaltung in der Ukraine«. Präsident Janukowytsch sprach sich bald nach seinem Amtsantritt 2010 für mehr Befugnisse der Kommunalbehörden aus: »Kommunale Selbstverwaltung sollte eine zuverlässige und solide Grundlage der Volksherrschaft werden. Ich unterstütze Dezentralisierung und die Reformierung der Budgetverteilung zugunsten lokaler Verwaltungen.«
Dennoch fehlen nach wie vor konkrete Regelungen, die die Kompetenzen lokaler Regierungs- und Verwaltungsstrukturen wahrnehmbar stärken. Das Gesetz »Über die lokale Selbstverwaltung« besagt zwar, dass gewählte Lokalräte das Recht haben, eigene Exekutivstrukturen zu benennen. In der Realität scheitert dies aber überwiegend an der Finanzierung, so dass Lokalräte außerhalb von Städten in der Regierungs- und Verwaltungspraxis nur marginal Einfluss haben. Im Gegenteil verabschiedete das Parlament, die Werkhowna Rada, in den vergangenen zwei Jahren mehr als 20 Gesetze, die Kompetenzen lokaler Selbstverwaltungsstrukturen an Strukturen der Zentralregierung zurück übertragen, z. B. zur Raumplanung und Beteiligung an regionalen Entwicklungsprojekten sowie zu Gewerbescheine für Händler oder lokalen Straßengebühren.
Gleichzeitig gibt es nationale und internationale Initiativen, die existierende Freiräume nutzen, reformbereite Persönlichkeiten einbinden und so praktische Schritte unternehmen, die für erkennbare Veränderungen auf der lokalen Ebene sorgen. Dazu gehört, Bürgeramtsstrukturen in reformwilligen Städten einzurichten – um von unten solide Grundsteine für eine Reform der öffentlichen Verwaltung zu legen.
Ziel ist, wesentliche »Dienste« der Verwaltung zentral und bürgerorientiert anzubieten. Das ukrainische Zentrum für Politische und Rechtliche Reformen (ZPRR) beschäftigt sich seit 2000 mit dem Konzept von Bürgerzentren (in Deutschland auch Bürgerämter, -büros, -dienste oder Bürgerservices genannt). Seit 2008 gibt es das erste Zentrum dieser Art in der westukrainischen Stadt Winnytsia, weil tatkräftige Vertreter der lokalen Regierungs- und Verwaltungsstrukturen die Initiative ergriffen – lange bevor das ukrainische Parlament 2012 ein entsprechendes Gesetz auf nationaler Ebene verabschiedete.
Pilotprojekt zur Einrichtung von Bürgerämtern in drei ukrainischen Städten
Das allgemeine Interesse griffen 2009 die ukrainischen Nichtregierungsorganisationen ZPRR und das Zentrum für das Studium der lokalen Selbstverwaltung (ZSLS), die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit der Schweiz (DEZA) und das Kiewer Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit auf und begannen ein gemeinsames Pilotprojekt in den vier Städten Iwano-Frankiwsk, Luzk, Nowohrad-Wolynski und Zhitomir. Zhitomir zog sich nach einem Wechsel des Bürgermeisters aus dem Projekt zurück, doch in den anderen drei Städten führten das ZPRR und das ZSLS mit Unterstützung der internationalen Partner Seminarreihen durch, deren Ziele vom allgemeinen Verständnis für in einem Amt gebündelte »Bürgerdienste« bis zur Ausbildung psychologischer Fertigkeiten von Mitarbeitern reichten. Kern des Konzepts ist, dass Bürger möglichst viele Verwaltungsaufgaben unter einem Dach erledigen können, wohnortnah, bei erweiterten Öffnungs- und kurzen Wartezeiten. Vertreter der zukünftigen ukrainischen Zentren konnten außerdem in Deutschland die Arbeitspraxis deutscher Kollegen studieren. Erkenntnisse und Erfahrungen fassten Experten und Praktiker in einem Handbuch zusammen, das zum Standardnachschlagewerk für jene in der Ukraine wurde, die sich für den Aufbau eines solchen Amts interessieren (im Internet öffentlich zugänglich unter http://www.pravo.org.ua/images/documents/CfAS_2ed.pdf). Die positiven Erfahrungen in den Pilotstädten und deren Popularisierung haben zur Eröffnung von Zentren in weiteren Städten geführt, z. B. in Luhansk, Chmelnyzki und Terschkassy.
Gesetz »Über Verwaltungsdienstleistungen« seit 1.1.2013 in Kraft
Der Trend scheint es »von unten« auf die Ebene der nationalen Politik geschafft zu haben. 2012 erarbeiteten ukrainische Experten das Gesetz »Über Verwaltungsdienstleistungen«, das seit dem 1. Januar 2013 in Kraft ist. Die ZPRR-Experten des genannten Pilotprojekts lud man zur Arbeitsgruppe des Justizministeriums und in den Parlamentsausschuss für die Vorbereitung des Gesetzentwurfs ein, so dass wesentliche Erfahrungen der Pilotstädte in das Gesetz eingeflossen sind. Es sieht nun die Schaffung von so bezeichneten »Zentren für die Erbringung von Verwaltungsdienstleistungen« (ukr. Akronym: ZNAP) auf der Ebene aller Kreise und Städte mit Gebietsrang (vergleichbar etwa den deutschen kreisfreien Städten) vor.
Typische »Dienste«, die einer Stadt mit Gebietsrang gegenwärtig obliegen und die sie an ein ZNAP transferieren kann, sind die Registrierung von Einzelunternehmern oder juristischen Personen sowie Familien und Kinder betreffende soziale Verwaltungsdienstleistungen und Wohnungsangelegenheiten, z. B. die Zuteilung einer Sozialwohnung. Meldebestätigungen gehören nach wie vor in die Kompetenz regionaler Exekutivbehörden der Fachministerien der nationalen staatlichen Verwaltung, Ausweis- und Pass- sowie Aufenthaltsangelegenheiten unterstehen dem Innenministerium. Das neue Gesetz ermöglicht aber grundsätzlich, die Ausgabe von Ausweisen, Reisepässen und Führerscheinen oder die Wohnsitzanmeldung in die Kompetenz von ZNAPs zu überführen. Voraussetzung dafür ist, dass das Ministerkabinett einen entsprechenden Erlass verabschiedet. In der Hauptstadt Kiew und wenigen anderen Städten gibt es immerhin entsprechende Pilotmaßnahmen. Sollte es zu einem so grundsätzlichen Transfer häufig nachgefragter Verwaltungsdienstleistungen tatsächlich kommen, würden ZNAPs zu einer echten Anlaufstelle für Bürger.
Erfolge und Herausforderungen bei der Einrichtung und Umsetzung von ZNAPs
Nach offiziellen Angaben gibt es in der Ukraine mittlerweile über 100 ZNAPs. Die Experten des ZPRR gehen jedoch von lediglich zehn bis zwölf vollwertigen Zentren aus. Der Teufel steckt wie immer im Detail, genauer: in der Implementierung. Die Herausforderung ist, die qualitative Umsetzung des Gesetzes »Über Verwaltungsdienstleistungen« zu gewährleisten – und zu verhindern, dass durch das Anbringen eines ZNAP-Schildes ein Bürgerzentrum nur imitiert wird.
Eine unmittelbare Bedrohung für die Reformerfolge sind neue Zentralisierungstendenzen, die sich konkret auf einzelne Verwaltungsdienstleistungen richten. Während z. B. Bürgerämter in Deutschland inzwischen selbstverständlich ein möglichst weites Aufgabenspektrum haben –Ausweise ausgeben, Wohngeld oder Renten bewilligen, Anwohnerparkausweise oder Sperrmüllkarten ausstellen– werden in der Ukraine wesentliche Verwaltungsdienstleistungen per Gesetz wieder an die Exekutivbehörden der nationalen staatlichen Verwaltung zurück übertragen.
Der Status quo ist komplex. Zahlreiche Gesetze schreiben die Zuständigkeit für jede Verwaltungsdienstleistung entweder einer staatlichen Verwaltung oder einer lokalen Selbstverwaltungsstruktur zu; Ausführungsbestimmungen verfasst das Ministerkabinett. Das neue Gesetz »Über Verwaltungsdienstleistungen« gibt nur dem Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Handel eine direkte Zuständigkeit, z. B. für das neue Register über Verwaltungsdienstleistungen, von dem man sich zunächst eine Übersicht erhofft, welche Verwaltungsdienstleistungen es gibt, wer zuständig ist und wie viel sie den Bürger kosten. Dies böte zumindest die Basis für eine Analyse und dann Systematisierung von, nach Schätzung des Ministeriums, gegenwärtig 1.500 Verwaltungsdienstleistungen. Der dem Justizministerium untergeordnete Staatliche Registrierungsservice der Ukraine ist z. B. für die Registrierung von Ehen, Immobilien und, ab Juli 2013, auch wieder für die Anmeldung von Einzelunternehmern und juristischen Personen zuständig, die gegenwärtig bei lokalen Selbstverwaltungsstrukturen liegt. Unter der Ägide des Innenministeriums arbeiten das Staatliche Automobilinspektorat und der Staatliche Migrationsdienst. Letzterer bekam erst kürzlich die Kompetenz für die Ausstellung von Ausweisen und Reisepässen sowie zur Wohnsitzanmeldung zugeteilt.
Vonnöten wäre eine umfassende Einigung über Art und Umfang der an ZNAPs zu übertragenden Aufgaben. Aber einzelne Behörden ringen offenbar mehr um ihre Kompetenzen, als dass sie zusammenarbeiten – und einige der genannten Strukturen dürften ihre eigenen gewinn- und einflussorientierten Interessen haben. Experten trauen dem Koordinierungszentrum für Wirtschaftsreformen in der Präsidialverwaltung die fortschrittlichsten Ideen zu, räumen aber ein, diese Struktur habe keine Verantwortung für deren Umsetzung.
Die Einrichtung eines ZNAP müssen Gemeinden selbst bezahlen, und oft fehlt ihnen Geld. Wenn sie keine Transferleistungen vom Zentralstaat erhalten, dienen vor allem Land- oder Immobilienverkauf als Einnahmequelle. Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Handel gibt an, nun 50 Millionen Hrywnja (5 Millionen Euro) für die Einrichtung von ZNAPs vorgesehen zu haben. Näheres über den Verteilungsmechanismus ist aber nicht bekannt, so dass Experten Korruption befürchten.
Bei ernsthafter und nicht nur imitierter Umsetzung des neuen Gesetzes »Über Verwaltungsdienstleistungen« müsste die künftige Anzahl von ZNAPs in der Ukraine nach Einschätzung des ZPRR etwa 700 betragen (ohne Zweit- oder Drittbüros, die zusätzlich in größeren Städten geschaffen werden müssten). Da Reformen in der Ukraine aktuell eher zurück- als voranschreiten und sich vielerorts Reformmüdigkeit breit macht, ist bedenkenswert, dass die Einrichtung von ZNAPs und die verbesserte Zugänglichkeit zu Verwaltungsdienstleistungen Reformen sind, die klar von der Bevölkerung unterstützt werden, weil die Einwohner der Städte, in denen ZNAPs geschaffen worden sind, sie schätzen gelernt haben. Bürger fühlen sich besser in transparenten Großraumbüros, die die Tradition sowjetischer Einzelbüros brechen, in denen man sich dem dort herrschenden Bürokraten ausgeliefert fühlt. Der Spielraum für Korruption ist geringer geworden, man spart Geld und Zeit.
Zeitreise zu neuen Verwaltungsstrukturen
Ob es in der Ukraine tatsächlich gelingt, z. B. die Beantragung des Ausweises, die Anmeldung des Wohnsitzes, die Ausstellung des Führerscheins und die Registrierung des Fahrzeugs in der Lokalbehörde einer Gemeinde zu erledigen, hängt vom Zentralstaat und den Fachministerien ab. Nicht nur das für viele Verwaltungsdienste zuständige Innenministerium ist sowjetisch geprägt.
Natürlich hat Deutschland eine ganz andere Tradition. So geht die Berücksichtigung kommunaler Bezirke bzw. von Gebietskörperschaften wie Landkreisen für gemeindliche Selbstverwaltung auf Ideen des preußischen Staatsmanns Freiherr vom Stein zurück. Schon nach dem Modell der Städteordnung von 1808 sollte auch im ländlichen Raum Selbstverwaltung eingeführt werden. Und dennoch gilt auch in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dass bei Entscheidungen über an Bürgerämter zu verlagernde Aufgaben noch Fachamtsegoismen überwunden werden müssen. 22 Jahre Unabhängigkeit seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums mit seinem zentralistischen Erbe sind ein sehr kurzer Zeitraum für tief greifende Verwaltungsreformen.
Deshalb ist es viel versprechend, dass es Best-Practice-Beispiele aus dynamischen ukrainischen Städten gibt. Diese Erfahrungen sollten ausgebaut werden. Das ZPRR z. B. führt mit Unterstützung der Friedrich-Naumann-Stiftung Kiew Mitarbeiter anderer reformbereiter Städte an das Konzept »Verwaltungsdienste aus einer Hand« heran und zieht dabei Fachkräfte der lokalen Selbstverwaltungsstrukturen aus Iwano-Frankiwsk und Winniytsia hinzu. Informations- und Bildungsmaßnahmen helfen, die Qualität von Verwaltungsdienstleistungen auf lokaler Ebene zu verbessern.
Die Pilotstädte sind ein wichtiger Motor. Auch wenn sie weder das komplexe Problem der notwendigen administrativ-territorialen Reform lösen, noch die grundsätzliche Gewährleistung von Selbstverwaltung mit klar abgegrenzten Kompetenzen und einer eigenen wirtschaftsbezogenen Steuerquelle für lokale Selbstverwaltungsstrukturen bieten können.