Swobodas Wahlerfolg im europäischen Kontext
Das mit ca. 10,4 % unerwartet gute Abschneiden der sog. Allukrainischen Union »Swoboda« (Freiheit) von Oleh Tjahnybok bei den Parlamentswahlen nach Verhältniswahlrecht am 28.10.2012 mag aus deutscher Sicht alarmierend erscheinen. Wenn man dieses Ergebnis jedoch im gesamteuropäischen Kontext betrachtet, ist es auch in dieser beachtlichen Höhe wenig ungewöhnlich. Zum einen erhielt »Swoboda« aufgrund des Grabenwahlsystems mit 38 Abgeordneten weniger als 10 % der 450 Sitze.
Zum anderen haben nicht nur rechtspopulistische Parteien wie die FPÖ und BZÖ in Österreich oder die SVP in der Schweiz erhebliche Wahlerfolge in den letzten Jahrzehnten zu verzeichnen. Auch einige klar ultranationalistische Parteien mit radikalen Ideologien und dubiosen Hintergründen, die denen »Swobodas« ähneln, haben bei Wahlen sowohl in West- als auch Osteuropa teils ähnlich gut bzw. besser (teils weit besser) als »Swoboda« abgeschnitten. Man erinnere sich z. B. an die
22,9 % für Wladimir Schirinowskijs sog. Liberal-Demokratische Partei Russlands bei den Staatsdumawahlen 1993,27,3 % bzw. 49,1 % für Wojislaw Scheschelj von der Serbischen Radikalen Partei in der ersten bzw. zweiten Runde der ersten serbischen Präsidentschaftswahlen 1997,16,9 % bzw. 17,8 % für Jean-Marie Le Pen vom Front National in der ersten bzw. zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen 2002 und16,7 % für die Bewegung für ein besseres Ungarn (Jobbik) bei den ungarischen Parlamentswahlen 2010.
Zudem war auch bei früheren spektakulären Wahlerfolgen von Rechtsextremisten gelegentlich ein Überraschungsmoment enthalten, da auch in diesen Fällen die Umfrageergebnisse vor den Wahlen teils weit unter dem anschließenden Wahlergebnis lagen. Ähnlich der Differenz zwischen den Umfrageergebnissen und dem Wahlerfolg z. B. von Schirinowskijs LDPR 1993 lag die Wahlprognose etlicher Meinungsforschungsinstitute für Tjahnyboks Freiheitspartei vor den Parlamentswahlen 2012 nur bei ca. der Hälfte der Zustimmung, die die Partei von den Wählern beim Urngengang tatsächlich erhielt.
Nur scheinbare Ungewöhnlichkeiten von »Swobodas« Aufstieg
Auch andere Spezifika der Freiheitspartei im ukrainischen Parteiensystem sowie im Kontext der internationalen Landschaft ultranationalistischer Bewegungen sind zwar bemerkenswert, aber nicht einmalig. So erinnert etwa die hohe geographische Disbalance der Wählerschaft der ukrainischen rechtsradikalen Partei, insbesondere ihre tiefe Verwurzelung in Galizien, an die fast ausschließliche Verankerung des belgischen Vlaams Belang (Flämisches Interesse) in Flandern. In gewisser Hinsicht ist »Swoboda« das Spiegelbild der Kommunisitschen Partei der Ukraine: So wie die Kommunisten den übergroßen Teil ihrer Wählerschaft im Süden und Osten des Landes haben, so erhalten die Nationalisten den Großteil ihrer Unterstützung im Zentrum und Westen der Ukraine.
Die von der US-amerikanischen Soziologin Alina Polyakova (University of California at Berkeley) durch eine Feldstudie kürzlich aufgezeigte Verbindung zwischen dem zunehmend rechtsextrem unterwanderten galizischen Dritten Sektor und dem Wahlerfolg der Freiheitspartei in Galizien ist zwar hochinteressant und gesonderter Forschung würdig. Auch diese Korrelation ist aber letztlich nichts Ungewöhnliches in der Geschichte des modernen europäischen Ultranationalismus. Polyakova unternimmt unter Anwendung von Mills Methode der Differenz bzw. des Most Similar Systems Designs einen kontrastierenden Vergleich der benachbarten Regionen Galizien und Wolynien (einschließlich des Bezirks Riwne), in welchen die Freiheitspartei bei den Regional- und Kommunalwahlen 2009–2010 unterschiedlich erfolgreich war. Sie zeigt, wie das Anwachsen einer von der Freiheitspartei gezielt geförderten, weitgehend informell funktionierenden nationalistischen Zivilgesellschaft insbesondere innerhalb der Jugendszene der Regionen Lwiw, Ternopil und Iwano-Frankiwsk wichtige Voraussetzung für die – auch im Vergleich zum Rest der Westukraine – ungewöhnlich hohen Wahlergebnisse von »Swoboda« in Galizien 2009 und 2010 war. Polyakovas Befund wirft zwar neues Licht auf den Aufstieg von Tjahnyboks Freiheitspartei in der eigentlich »europäischsten« Region der Ukraine. Die Ausnutzung zivilgesellschaftlicher Strukturen durch Rechtsextremisten und deren Auswirkung auf den Wahlerfolg ultranationalistischer Parteien ist jedoch nichts Neues. Die Verquickung von Rechtsextremismus und Zivilgesellschaft ist z. B. ein wesentliches Merkmal der postsowjetischen russischen politischen Landschaft.
Bereits der Fall der Weimarer Republik 1933 war ein Beispiel hierfür. Der Machtergreifung Hitlers ging eine tiefgehende Infizierung der deutschen Vereinslandschaft der Zwischenkriegszeit mit ultranationalistischen Ideologemen sowie eine partielle Infiltration nichtpolitischer Organisationen mit NSDAP-Aktivisten voraus. Zwar ist »Swoboda« – trotz des Interesses einiger ihrer Funktionäre für den europäischen Zwischenkriegsfaschismus – weder als eine nazistische noch als eine neonazistische Partei zu klassifizieren und daher nur bedingt mit der deutschen klassischen faschistischen Bewegung vergleichbar. Das deutsche Beispiel aus der Zwischenkriegszeit illustriert jedoch, wie alt bereits die paradoxe Erscheinung ist, dass Parteien mit xenophoben Ideologien es vermögen – normalerweise als in ihrer gesellschaftlichen Funktion prodemokratisch verstandene – zivilgesellschaftliche Strukturen für eigene Zwecke zu instrumentalisieren.
Neben solchen vergleichsweise wenig ungewöhnlichen und nur scheinbaren spezifischen Charakteristika der Freiheitspartei gibt es einige Besonderheiten, die den ukrainischen Rechtsradikalismus von ähnlichen Erscheinungen andernorts abheben:
Besonderheit Nr. 1: Die reale äußere Bedrohung der Ukraine
Der vielleicht wichtigste Unterschied im gesamtpolitischen Kontext des Aufstiegs der Freiheitspartei ist das geostrategische Umfeld des ukrainischen Staates. Die pathologische Entfremdungsangst und kruden Verschwörungstheorien der meisten rechtsextremen Partein in Vergangenheit und Gegenwart können als psychologische Überreaktionen, wenn nicht politischer Verfolgungswahn abgetan werden. Selbst die verbreitete Angst vor dem Kommunismus im Mittel- und Westeuropa der Zwischenkriegszeit war – wenn auch auf eine reale Gefahr, Stalins UdSSR, fixiert – oft ein Artefakt ultrakonservativer und faschistischer Panikmache zur Legitimation rechtsautoritärer Macht. Die Souveränität und Identität der ukrainischen Nation hingegen war in der Vergangenheit und ist heute tatsächlich mit einer relevanten und konkreten äußeren Gefahr, nämlich Putins Russland, konfrontiert. Dieses Risiko wird nicht nur von ukrainischen Nationalisten als akut empfunden, sondern auch von vielen ukrainischen und internationalen nichtextremistischen Beobachtern – am prominentesten vielleicht von Zbigniew Brzezinski – als ein reales Sicherheitsproblem der Ukraine erkannt.
Führende russische Politiker und Intellektuelle haben im Laufe der letzten zwanzig Jahre implizit und explizit wiederholt deutlich gemacht, dass sie die gegenwärtige Staatsgrenze zwischen der Ukraine und Russischen Föderation als nicht vollwertig bzw. nicht endgültig ansehen sowie die Unabhängigkeit der Ukraine und Eigenständigkeit ihrer Kultur bezweifeln. In seinem 2006 erschienen Buch »Feind des Volkes« bezeichnet z. B. Dmitri Rogosin, seit Ende 2011 Stellvertretender Premierminister der Russischen Föderation, u. a. die Krim und »Kleinrussland« (d. h. einen Großteil der Ukraine) als »Stammterritorium der russischen Nation [rodowaja territorija russkoj nazii]«. Ähnliche Aussagen anderer führender russischer Repräsentanten ließen sich finden. Derartige Stellungnahmen mögen für sich genommen als wenig gefährlich erscheinen, erinnern an ähnliche Tagträume etwa ungarischer Irrendentisten und werden hoffentlich ohne praktische Konsequenzen bleiben. Aussagen, wie diejenige Rogosins, können vor dem Hintergrund des relativistischen Ansatzes russischer Außenpolitik bezüglich der staatlichen Souveränität einiger ehemaliger Sowjetrepubliken, allen voran Georgiens und Moldowas, jedoch auch als wirkliche Bedrohungen der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine aufgefasst werden.
Die manifeste Russophobie von Tjahnyboks Freiheitspartei erscheint vor diesem Hintergrund als weniger pathologisch als die im klassischen europäischen Rechtsextremismus dominante Furcht vor einer freimaurerisch-jüdischen Weltverschwörung. Zwar finden sich antisemitische Denkfiguren ebenfalls im historischen und heutigen ukrainischen Ultranationalismus. Sie waren und sind jedoch der Feindschaft bezüglich der früheren sowjetischen bzw. heutigen russischen Führung oft nachgestellt. Die Animosität gegenüber dem Kreml und dessen Ukrainepolitik bildet ein wesentliches Verbindungsglied zwischen dem radikalen ukrainischen Nationalismus einerseits und verschiedenen nationalliberal bzw. nationaldemokratisch orientierten Strömungen in der Politik und Intelligenzija der Ukraine andererseits – eine Allianz, auf die unten noch eingegangen wird.
Besonderheit 2: Die geographische Konzentration der Stammwählerschaft
Eine weitere Besonderheit des ukrainischen radikalen Nationalismus ist die hohe Konzentration der ideologisch motivierten Stammwählerschaft von »Swoboda« in der Westukraine, insbesondere in Galizien. Der ausgeprägte Regionalcharakter der Freiheitspartei ist bei den letzten Parlamentswahlen durch die hohe Zahl von Protest-, taktischen bzw. strategischen »Swoboda«-Wählern verwischt worden. Soziologische Umfragen sowie eine Gesamtschau der Wählerunterstützung für »Swoboda« sowie ideologisch ähnlich ausgerichteter Parteien, wie z. B. der Ukrainischen Nationalversammlung (UNA), der letzten zwanzig Jahre zeigen jedoch, dass Gruppierungen dieser Art nur in der Westukraine bzw. schwerpunktmässig in Galizien eine stabile und breite Wählerschaft haben.
Der offensichtliche Grund hierfür ist weniger eine etwaige besondere Affinität der Galizier zu Xenophobie, als die hohe Bedeutung der Geschichte der Organisation Ukrainischer Nationalisten und insbesondere von deren Bandera-Fraktion (OUN-B) für die ethnische Selbstidentifikation der Galizier. Dabei wird die OUN-B weniger als eine faschistische Partei, denn als der Höhepunkt der nationalen Befreiungsbewegung bzw. als ein Orden der tapfersten Helden der ukrainischen Nationalgeschichte verstanden. Verstärkt wird die Hochachtung für Bandera und Co. in Galizien durch das meist tragische Schicksal der Nationalistenführer sowie ihrer Familienmitglieder, die zu einem großen Teil Opfer sowjetischer Verfolgung wurden sowie in einigen Fällen unter die Räder nazistischer Vernichtungspolitik gerieten.
»Swoboda« und ähnliche Parteien in der postsowjetischen Ukraine präsentieren sich mehr oder minder ausdrücklich als Nachfolgeorganisationen der OUN-B und konkurrieren untereinander um die Legitimität ihres Anspruches auf das historische Erbe der antisowjetischen Befreiungsbewegung. Die Kulte um Stepan Bandera sowie einige andere OUN-Führer in Galizien – und weniger rechtsextreme Prädispositionen als solche – dürften ein Katalysator für die tiefe zivilgesellschaftliche Infiltration und ein Grund für die besonders eindrucksvollen Wahlerfolge der radikalen Nationalisten in den Bezirken Lwiw, Ternopil und Iwano-Frankiwsk sein.
Wie angedeutet, ist für sich genommen eine tiefe regionale Verwurzelung einer rechtsradikalen bzw. rechtspolitischen Partei nichts Ungewöhnliches. Damit ähnelt »Swoboda« in Europa etwa dem erwähnten Vlaams Belang in Belgien oder der Lega Nord in Italien. Der markante Unterschied ist jedoch, dass die genannten westeuropäischen rechtsgerichteten Bewegungen ausdrücklich separatisch orientiert sind, während sich »Swoboda« als allgemein nationalistische ukrainische Bewegung versteht sowie als »Allukrainische Union« bezeichnet. Der Vlaams Belang sowie die Lega Nord fordern die Abspaltung Flanderns bzw. Padaniens vom belgischen bzw. italienischen Staat. »Swoboda« dagegen propagiert die Stärkung des ukrainischen Unitarstaates. De facto spaltet jedoch die Geschichtsmythologie der ukrainischen Freiheitspartei um die OUN die Ukraine, da der fanatische Banderakult der Nationalisten beim Großteil der Bevölkerung der russophonen Süd- und Ostukraine auf strikte Ablehnung stösst. Eine solche Geschichtspolitik wäre konsistent, würde auch »Swoboda« eine separatistische Partei dartellen, die etwa die Abspaltung Galiziens fordern würde, wie dies gelegentlich einige galizische Autonomisten tun. Die Freiheitspartei erhebt jedoch – ganz im Gegenteil – öffentlich den Anspruch, dem Prinzip der »sobornist«, also der Einheit bzw. Einigung der heutigen Ukraine, verpflichtet zu sein.
Es ist zu befürchten, dass der Einzug von »Swoboda« als selbstdeklarierter Nachfolgepartei der OUN-B ins ukrainische Parlament zur Vertiefung der ohnehin besorgniserregenden Spaltung des Landes beitragen wird. Paradoxerweise dürfte der Aufstieg der Freiheitspartei von etlichen neoimperial orientierten russischen Nationalisten mit Interesse verfolgt werden. »Swobodas« zunehmende politische Präsenz unterstützt indirekt die Divide-et-impera-Politik Moskaus bezüglich der Ukraine. Sie erleichtert die bereits seit Jahren praktizierte Diffamierung der Westukraine sowie der national orientierten Kiewer Intelligenz und weltweiten ukrainischen Diaspora. In der ukrainischen Emigrantengemeinde gewann »Swoboda« mit einem Ergebnis von ca. 23 % die Parlamentswahlen. In den kremlkontrollierten russischen bzw. prorussischen ukrainischen Medien werden der Großteil der national orientierten Ukrainer sowie das ukrainische Andenken an den Befreiungskampf der UPA pauschal als »faschistisch« abgestempelt. »Swobodas« Aufstieg könnte in einem Worst-Case-Szenario zu weiterer Entfremdung zwischen den verschiedenen Bevölkerungsteilen der noch gering konsolidierten ukrainischen politischen Nation führen.
Besonderheit 3: Der fehlende Cordon Sanitaire
Eine weitere Facette des Aufstiegs der »Swoboda«-Partei im vergangenen Jahr war, dass die wichtigste demokratische Partei »Batkiwschtschyna« (Vaterland) bereits vor den Parlamentswahlen ein offizielles Wahlbündnis mit »Swoboda« eingegangen war und sich inzwischen eine Oppositionskoalition der ukrainischen demokratischen Parteien, einschließlich Witalij Klitschkos UDAR, mit den radikalen Nationalisten im Parlament, der Werchowna Rada, herausgebildet hat. Damit weicht das Verhalten insbesondere »Batkiwschtschynas« von der Politik des Cordon Sanitaire ab, den die meisten europäischen Partnerorganisationen der ukrainischen Demokraten bezüglich »Swoboda«-ähnlichen Parteien in Europa betreiben. Allgemeine Richtlinie demokratischer Partein in der EU ist, nicht mit Rechtsextremisten zu kooperieren – weder im Wahlkampf noch im Parlament oder in der Regierung. »Batkiwschtschyna« widerspricht mir ihrer aktiven Koalitionspolitik ebenfalls einem Change.org-Aufruf (s. Lesetipps) profilierter ukrainischer Geistes- und Sozialwissenschaftler an das Kommittee gegen die Diktatur vom April 2012, nicht mit »Swoboda« zu kooperieren. Dieser Aufruf erschien auf den Webseiten der Wochenzeitung »Kyiv Post« (in Englisch) sowie der Tageszeitung »Den« (in Ukrainisch) und wurde u. a. unterschrieben von solch bekannten ukrainischen Intellektuellen wie Taras Kuzio, Jurij Makarow, Andrij Mokrousow, Wiktoria Siumar, Oxana Pachlowska und Taras Wosnjak.
Freilich wird auch von demokratischen Parteien in EU-Mitgliedsländern die Cordon-Sanitaire-Politik gegenüber Rechtsradikalen nicht immer eingehalten. So konnte z. B. 2006–2007 die Liga der polnischen Familien an einer Koalitionsregierung unter Jarosław Kaczyński und 2006–2010 die Slowakische Nationale Partei an einer Koalitionsregierung unter Robert Fico teilnehmen. Diese Kooperationen wurden allerdings sowohl in Polen und der Slowakei als auch im europäischen Ausland harsch kritisiert; sie und einige ähnliche Erscheinungen bilden alles in allem Ausnahmen. Die Regel in der EU war und ist Ausgrenzung von Rechtsradikalen sowohl im Gesetzgebungs- als auch Regierungsprozess.
In der Ukraine, so muss freilich eingewendet werden, befinden sich die Demokraten inmitten eines rasanten gesellschaftlichen Transformationsprozesses. Sie haben eine diffizile Konfrontation mit der autoritär-restaurativen Partei der Regionen auszufechten und handeln im Kontext eines hybriden politischen Systems. Womöglich rechtfertigt diese besondere politische und institutionelle Konstellation andere Verhaltensmuster von Demokraten als in relativ stabilen EU-Mitgliedsländern.
Nicht nur muss sich jedoch die Sinnhaftigkeit und Effektivität der Strategie der ukrainischen Demokraten erst noch zeigen. »Batkiwschtschyna« könnte sich – das werden soziologische Untersuchungen hoffentlich klären – mit ihrer Strategie ins eigene Fleisch schneiden. Die Vaterlandspartei hat erheblich dazu beigetragen, »Swoboda« salonfähig zu machen. Sie hat womöglich dadurch bereits 2012 eigene Wähler an die radikalen Nationalisten verloren und könnte sich mit der Förderung »Swobodas« ihr eigenes Grab schaufeln. Wie auch immer: Festzuhalten bleibt, dass die bislang stabile Allianz »Swobodas« mit »Batkiwschtschyna« als der wichtigsten demokratischen Partei der Ukraine eine Besonderheit im Umgang von Mitte-Rechts-Parteien mit einer rechtsradikalen Partei in Europa darstellt.
Ausblick
Die Bedeutung dieser Betrachtungen wird erst im Laufe der Parlamentstätigkeit von »Swoboda« klar werden. Bislang ist das Bild uneindeutig: Einerseits unterstützt »Swoboda« entschieden den Pro-EU-Kurs der Demokraten, setzt sich für die Einhaltung der Parlamentsprozeduren ein und bildet einen disziplinierten Teil der Drei-Parteien-Oppositionskoalition mit »Batkiwschtschyna« und UDAR. Mit Ruslan Koschulinski hat sie einen betont gemäßigten Repräsentanten der Partei ins Parlamentspräsidium entsandt. Andererseits setzt die Partei ihre ethnozentrische sowie homophobe Skandalmacherei aus ihrer extraparlamentarischen Vorgeschichte fort und hält an ihrer demonstrativen OUN-Heroisierung fest. Sie tritt für ein striktes Abtreibungsverbot sowie gegen die Adoption ukrainischer Kinder durch Ausländer ein. »Swobodas« Sprecher überschwemmen die Medien mit politisch unkorrekten Äußerungen über Homosexuelle, Juden usw. und tragen damit zum internationalen Reputationsverlust der Ukraine bei. Kurioserweise ist »Swoboda« betreffs der Diskriminierung der ukrainischen LGBT-Gemeinde mit solch dubiosen Vertretern der Regionenpartei wie Wadym Kolesnitschenko weitgehend auf einer Wellenlänge.
Sollte die parlamentarische Aktivität der Freiheitspartei in der Zukunft ebenfalls von ultranationalistischen Motiven geprägt sein, dürften etliche Protestwähler ihre Wahlentscheidung am 28.10.2012 bereuen. Jedoch könnte sich die Partei unter dem Druck der wachsenden öffentlichen Aufmerksamkeit auch zu einer nationaldemokratischen Kraft wandeln. Dass solch eine Transformation prinzipiell möglich ist, zeigt die sukzessive Umwandlung der einst von Mussolini gegründeten italienischen faschistischen Partei (PNF-MSI-AN) in eine nationalkonservative politische Kraft. Einzelne ehemalige radikale Nationalisten, wie Andrij Schkil oder Andrij Parubi, haben auf individueller Ebene eine ähnliche Transformation in der Ukraine bereits vorgeführt und sind heute als nationaldemokratisch einzuordnen. Bleibt zu hoffen, dass auch die Führer von »Swoboda« diesen Kurs einschlagen und die Partei zu einer Kraft umwandeln, welche die europäische Integration und politische Nationsbildung der Ukraine fördern und nicht behindern wird.