Die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine waren nie einfach und harmonisch. Im Unterschied zu vielen anderen osteuropäischen Ländern, beispielsweise Polen, Tschechien oder Ungarn, richtete sich die Ukraine-Politik der EU nach der Wende nicht auf eine konsequente Integration, sondern lediglich auf die Begleitung der demokratischen Transformation und die Krisenbewältigung. Für die ukrainische Führungselite war dies jedoch nie genug, denn die Ukrainer überschätzen traditionell die geopolitische Bedeutung des eigenen Landes und gehen davon aus, dass die EU ein großes Interesse daran haben sollte, die Ukraine möglichst schnell und um jeden Preis in die EUropäische Familie zu integrieren. Für die EU war und bleibt die Ukraine ein wichtiger Partner, aber gleichzeitig auch ein Sorgenkind.
Mit der möglichen Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens Ende 2013 haben die EU-Ukraine-Beziehungen eine einmalige Chance, eine neue Qualität zu bekommen – es wird weiterhin nicht um eine Integration der Ukraine, aber sehr wohl um die Annäherung an die EU und die europäischen Standards in allen Bereichen gehen. Heute eine Prognose darüber abzugeben, ob es auf dem Gipfel in Vilnius zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens kommt, ist eine undankbare Aufgabe. Folgende Thesen scheinen mir dabei aber von Bedeutung zu sein:
Die Entscheidung, ob das Assoziierungsabkommenrunterschrieben wird oder nicht, wird kurz vor Beginn des Vilnius-Gipfels getroffen. Noch ist alles offen. Die EU hat bis jetzt keinen »Plan B«, was in die Richtung gedeutet werden kann, dass die EU-Kommission tendenziell gewillt ist das Abkommen zurunterschreiben. Die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens ist grundsätzlich auch ohne die Lösung der Tymoschenko-Frage (Freilassung Tymoschenkos) möglich. Dies wurde beim Besuch der EU- und US-Botschafter von Frau Tymoschenko am 23.05.2013 besprochen und vereinbart. Julia Tymoschenko behält jedoch ein Vetorecht auf die positive Entscheidung der EU-Kommission für den Fall, dass sie auch nach November noch hinter Gittern bleibt.Der Präsident Wiktor Janukowytsch und sein Umfeld haben ein genuines Interesse, das Assoziierungsabkommen mit der EU zurunterschreiben. Zum Einen wurde schon lange die Entscheidung getroffen, dass die Annäherung und Integration an die EU besser und günstiger für Janukowytsch wäre als der Beitritt in die Zollunion und Eurasische Wirtschaftsunion. Denn die EU fordert zwar Einiges, doch dafür schlägt sie transparente Spielregeln vor. Das Integrationsangebot von Putin sieht bisher hingegen eher nach einer feindlichen Übernahme aus. Zum Anderen hat Janukowytsch vor, dasrunterschriebene Assoziierungsabkommen für seinen Wahlkampf 2015 zu nutzen. Mehr Erfolge hat er leider nicht vorzuweisen.Janukowytsch ist grundsätzlich bereit, der EU entgegen zu kommen und die Tymoschenko-Frage zu lösen. Alexander Kwasniewski und Pat Cox, die Vorsitzenden der Beobachtergruppe des Europäischen Parlaments für die umstrittenen Gerichtsverfahren gegen Julija Tymoschenko, Jurij Luzenko und Valerij Iwaschenko, haben bereits mit Janukowytsch abgesprochen, dass Tymoschenko für eine medizinische Behandlung nach Deutschland gebracht werden kann. Der ukrainische Präsident hat dieser Option zwar zugestimmt, allerdings ohne dabei eine Amnestie oder Begnadigung auszusprechen. Für Tymoschenko ist dies jedoch die Bedingung für eine solche Reise nach Deutschland. Über weitere mögliche Optionen zur Lösung der Tymoschenko-Frage wird momentan intensiv verhandelt.Auch wenn das Assoziierungsabkommen Ende November 2013 in Vilnius unerwarteter Weise nichtrunterschrieben wird, heißt das noch lange nicht, dass das Abkommen endgültig vom Tisch ist und dass es nicht z. B. ein Jahr später zur Unterzeichnung kommen könnte.
Die Entscheidung darüber, ob es in Zukunft zwischen der EU und der Ukraine um Annäherung oder Ausgrenzung gehen wird, liegt heute nicht nur bei den Politikern in Kiew, sondern in hohem Maße auch bei der ukrainischen Gesellschaft. Denn EU-Integration ist kein leerer Begriff – es geht um gemeinsame Werte. Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Geschlechterdemokratie, LGBTI-Rechte sind wichtige Säulen der europäischen Zivilisation. Ob die ukrainische Gesellschaft sie übernehmen möchte, ist ihre souveräne Entscheidung. Aber ohne einen gesellschaftlichen Konsens über all diese Fragen wird die EU-Integration der Ukraine nicht gelingen, denn die EU ist vor allem eine Wertegemeinschaft.
Aktuelle Ereignisse in der Ukraine um das Antidiskriminierungsgesetz und den »Equality March« im Rahmen des KyivPride 2013 zeigen, dass die Ukraine ihre zivilisatorische Entscheidung immer noch nicht getroffen hat. Denn gerade die Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte (inkl. LGBTI-Rechte) markiert die Grenze zwischen den (west)europäischen und euroasiatischen Gemeinschaften. Die ukrainische Gesellschaft befindet sich immer noch am Scheideweg zwischen Moderne und Traditionalismus. Eine breite gesellschaftliche Debatte über Gender, Minderheiten- und LGBTI-Rechte könnte die EU-Integration der Ukraine endlich mit Inhalt füllen.