Die Ukraine durchlebt heute einen entscheidenden Moment: das Land muss sich zwischen dem Assoziierungsabkommen mit der EU und der Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan entscheiden. Das erklären sowohl EU-Verantwortliche als auch russische Politiker. In der Ukraine gibt es aber, wie immer, keine klare Antwort: Heute versichert Präsident Janukowytsch, dass die europäische Integration die Priorität des Staates sei, und morgen unterzeichnet Ministerpräsident Asarow ein Memorandum über die Vertiefung der Zusammenarbeit mit der Zollunion und betont öffentlich die Vorteile dieser Organisation.
Eine derartige Außenpolitik ist die Fortsetzung einer für die Ukraine typischen Multivektorpolitik, die die Unfähigkeit der ukrainischen Führung widerspiegelt, eine langfristige Strategie zu entwickeln. Sie ist das Produkt kurzfristiger Einflussnahme der verschiedenen Akteure. Deshalb ist es schwierig, eine Aussage darüber zu treffen, wie das Ergebnis der Integrationsbestrebungen der Ukraine Ende des Jahres aussehen wird.
Das ambivalente Verhalten der Ukraine kann zum Teil durch die Diversifizierung der ukrainischen Wirtschaft erklärt werden. Seit der Unabhängigkeit ist die Ukraine immer weniger von den Ländern der ehemaligen Sowjetunion abhängig geworden, während sie sich wirtschaftlich immer mehr nach Europa und Fernost orientierte. Im Jahr 2010 betrug der Anteil der EU-Länder am Außenhandel der Ukraine fast 30 %, die GUS-Staaten lagen bei etwa 40 % und weitere 30 % entfielen auf Asien und andere Länder. Gespalten bleibt weiterhin auch die ukrainische Bevölkerung. Laut einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums vom Dezember 2012 wollen 42 % der Ukrainer ihr Land in der EU sehen, während die Integration mit der Zollunion 32 % der Ukrainer unterstützen. Dementsprechend kann eine erfolgreiche Lobbyarbeit von internen und externen Akteuren für den Beitritt der Ukraine zu dieser oder jener Organisation entscheidend sein.
Einflussversuche externer Akteure
Die aktivste Politik in dieser Hinsicht betreibt heute Russland. Mit der Zustimmung zum Beobachterstatus der Ukraine in der Zollunion hat Moskau deutliche Zugeständnisse gemacht. Noch vor ein paar Jahren hat Russland solche Vorschläge der Ukraine, insbesondere im Format »3+1«, kategorisch abgelehnt. Nun wird ein Beobachterstatus in der Zollunion speziell für die Ukraine eingeführt, da es ihn zuvor nicht gab. Obwohl Janukowytsch der EU schnell versicherte, dass ein Memorandum mit der Zollunion keine Auswirkungen auf das EU-Assoziierungsabkommen habe, bezeichnete der russische Ministerpräsident Dmitrij Medwedew einen Beobachterstatus als ersten Schritt auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft. Dass sich die Versuche Russlands, die Ukraine wieder in seinen Einflussbereich zu ziehen, in letzter Zeit intensiviert haben, ist offensichtlich: die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU bedeutet für Russland große geopolitische Risiken. Immerhin würde es einen Präzedenzfall im gesamten postsowjetischen Raum schaffen und könnte ernsthaft die Attraktivität des eurasischen Entwicklungsmodells untergraben.
Aber nicht nur Russland, sondern auch die EU hat den Tonfall der Gespräche mit Janukowytsch geändert. Während im letzten Jahr Politiker in der EU versuchten, den ukrainischen Präsidenten politisch zu isolieren und die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens auf unbestimmte Zeit zu verschieben, spricht die EU heute wieder über die europäischen Perspektiven der Ukraine und hat sogar das mögliche Unterzeichnungsdatum bestimmt, nämlich November 2013. Darüber hinaus versucht die EU, die Ukraine auch finanziell anzulocken, und verspricht dem Land 610 Mio. Euro in langfristigen Krediten zu günstigen Konditionen, wenn es sich mit dem IWF über ein neues Kreditprogramm einigt. Eine weitere Taktik der EU, die die Attraktivität der Zollunion für die Ukraine mindern soll, ist ein neuer Diskurs über die Transformation der Ukraine zu einem zentraleuropäischen Gas-Hub und damit eine Erweiterung ihrer traditionellen Rolle als Transitland. Dennoch ist der Gasfaktor einer der wichtigsten Faktoren für die Integration der Ukraine in die Zollunion.
Versuche externer Akteure, die Situation in der Ukraine zu beeinflussen, spiegeln sich auch in verschiedenen Studien wider, die die Auswirkungen der Integration der Ukraine in die EU oder in die Zollunion analysieren. Die ersten dieser Studien wurden von der Eurasian Development Bank finanziert. Danach wurden Studien veröffentlicht, die auf Kosten westeuropäischer Investoren durchgeführt wurden. Es ist nicht verwunderlich, dass alle diese Studien ganz gegensätzliche Ergebnisse haben – während einige größere wirtschaftliche Vorteile durch die Schaffung der Freihandelszone mit der EU prognostizieren, werben andere für eine Integration in die Zollunion.
Position ukrainischer Akteure
Eine solche Politisierung der Beziehungen mit der EU und mit Russland ist für die ukrainische Führung heute äußerst vorteilhaft. Die Unterzeichnung des Memorandums mit der Zollunion war ein guter taktischer Schachzug Janukowytschs. So ist das Memorandum nicht bindend, lenkt zugleich aber die EU von den internen Problemen in der Ukraine ab. Ferner ist es eine Botschaft an die ukrainischen Wähler, vor allem die Bewohner der östlichen Regionen, die eine engere Zusammenarbeit mit Russland unterstützen.
Trotz der Fortsetzung der pro-russischen Politik bewertet die politische Elite der Ukraine die Integration in die künftige Eurasische Union als weniger profitabel als eine weitere Annäherung an die EU. Dafür gibt es sowohl politische als auch wirtschaftliche Gründe. So könnte die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU ein wichtiges Legitimierungsmoment für das Janukowytsch-Regime werden. Heutzutage wird der Präsident von nicht mehr als 20 % der Bevölkerung unterstützt, und die jüngsten Parlamentswahlen zeigten, wie viel Aufwand selbst mit Rückgriff auf Wahlmanipulationen nötig war, um der Regierungskoalition eine Mehrheit im Parlament zu sichern. Die europäische Integration wird konsequent von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt und ist auch ein wichtiger Wahlprogrammpunkt der Opposition. So wird die Unterzeichnung der Assoziierung mit der EU ohne Zweifel die Trumpfkarte Janukowytschs bei der nächsten Präsidentschaftswahl sein. Für die EU würde dies Folgendes bedeuten. Durch die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens gelingt es der EU, weitere mögliche autoritäre Tendenzen in der Ukraine zu vermeiden, gleichzeitig wird sie aber damit indirekt das Janukowytsch-Regime unterstützen.
Der zweite Grund, warum die ukrainischen Politiker die europäische Integration der Ukraine bevorzugen, ist ökonomisch. Die größte Angst der ukrainischen Oligarchen ist, vom russischen Kapital übernommen zu werden. Immerhin führen die beiden Länder die Geschäfte mit den gleichen Methoden, was bedeutet, dass niemand vor unlauterem Wettbewerb sicher ist. Darüber hinaus sind die wirtschaftlichen Strukturen in Russland und in der Ukraine sehr ähnlich. So sind beide Länder stark auf Rohstoffexporte angewiesen. Im Gegensatz zu Russland haben die EU-Länder kein Interesse an Lowtech-Unternehmen ukrainischer Oligarchen. Stattdessen sind sie vielmehr daran interessiert, die neuen Märkte für ihre Hightech-Produkte auch in GUS-Ländern zu erschließen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist ein Freihandelsabkommen mit der EU für ukrainische Wirtschaftsakteure vorteilhafter als die Zollunion mit Russland.
Die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens ist jetzt mehr von der EU als von der Ukraine abhängig. So wird die Ukraine, wie immer, nicht alle ihre »Hausaufgaben« erfüllen, die ihr der Europäische Rat im Dezember 2012 gegeben hat, aus der Hoffnung, dass die »Politik der halben Schritte« für eine positive Entscheidung der EU im November ausreicht. Auf der einen Seite macht Janukowytsch Zugeständnisse, wie die Freilassung des früheren Innenminister Jurij Luzenko. Auf der anderen Seite hat der ukrainische Präsident ein Minimum, das er nie freiwillig erfüllen wird: die Freilassung von Julija Tymoschenko. So nahm die ukrainische politische Elite eine abwartende Position ein und bereitet zur gleichen Zeit einen »Plan B« für den Fall der Nichtunterzeichnung des Freihandelsabkommens mit der EU vor.
Die europäische Perspektive der Ukraine
Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Assoziierungsabkommen im November unterzeichnet wird, ziemlich hoch. Die Unterzeichnung wird auch an der Nichterfüllung aller Bedingungen der EU nicht scheitern. Immerhin hat die EU die Vorbereitung des Assoziierungsabkommens auch nach der Inhaftierung von Julija Tymoschenko Ende 2011 fortgesetzt, ungeachtet der öffentlichen Missbilligung dieses Schrittes. So wird es auch in diesem Jahr sein.
Wenn die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens aus welchem Grund auch immer schiefgeht, dann gerät die Ukraine wieder in eine außenpolitische Sackgasse. Es ist unwahrscheinlich, dass sie einen Antrag auf volle Mitgliedschaft in der Zollunion stellt, obwohl die Verhandlungen darüber weiter geführt werden. So ist die Zollunion ein neuer Wirtschaftsakteur im postsowjetischen Raum, zu dem man auf jeden Fall Beziehungen aufbauen muss.
In einem solchen Fall wird sich die Fortführung der europäischen Integrationspolitik in der Ukraine verlangsamen, in Erwartung eines neuen Moments ohne starken politischen Druck aus der EU. Solch ein Moment könnte kommen, wenn die anderen Länder der Östlichen Partnerschaft dasselbe Niveau der europäischen Integration wie die Ukraine erreichen. Immerhin wird erwartet, die Verhandlungen über die Assoziierungsabkommen mit der Republik Moldau, Georgien und Armenien auf dem Gipfeltreffen in Vilnius abzuschließen.
Dennoch ist für Janukowytsch die Nichtunterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens am Vorabend der Präsidentschaftswahlen äußerst nachteilig. Falls das geschieht, ist es nicht ausgeschlossen, dass der ukrainische Präsident ein Abkommen mit Russland im Gassektor vereinbart. Um die Kritik der Opposition zu ersticken, wird er eine weitere Welle autoritärer Politik anstoßen.