LGBT und die ukrainische Politik

Von Andrij Majmulachin, Aleksandr Zintschenkow

Welche Entwicklung hat die Situation für LGBT in den letzten 20 Jahren in der Ukraine genommen?

Andrij Majmulachin: Zur Zeit der Sowjetunion gab es kaum Informationen zu diesem Thema, es war beinah ein Tabu. Sie wissen sicher, dass in der Sowjetunion Homosexualität unter Strafe stand – bis zu einem Jahr Freiheitsentzug. Mit der Perestroika begannen sich die Dinge natürlich zu ändern: die Ukraine war die erste der ehemaligen Sowjetrepubliken, die nach der Unabhängigkeit diesen Paragraphen abschafften. Das ging ohne besondere öffentliche Aufmerksamkeit vonstatten, einfach weil unsere Politiker begriffen hatten, dass mit einem solchen Strafrecht die Entwicklung demokratischer Werte und die weitere Annäherung an westliche Staaten unmöglich wäre.

Zur gesellschaftlichen Einstellung führt unsere Organisation schon seit 2003 Untersuchungen im Fünfjahresabstand durch, sodass wir in der Lage sind, eine Dynamik zu erkennen. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass die Homophobie in der Gesellschaft während der letzten zehn Jahre leider gestiegen ist (s. Umfragen auf S. 7–8, d. Red.). In der ersten Umfrage war erkennbar, dass ein Großteil der Menschen keine Vorstellung von Homosexuellen hatte, sie wussten nicht wer diese Menschen sind und was es bedeutet, homosexuell zu sein. Bedauerlicherweise haben sich diese Unentschiedenen mit der Zeit dem homophoben Teil zugeordnet. Es gibt mittlerweile erheblich mehr Informationen zu diesem Thema, und auch die Politik hat sich in letzter Zeit dazu geäußert – vor allem negativ.

Unsere Gesellschaft ist nicht aggressiv homophob, Homophobie ist meist nur latent vorhanden. Das heißt, dass die meisten Menschen wahrscheinlich ungern mit Gay-Paraden oder Homosexualität in den Medien konfrontiert werden, gleichzeitig aber jedem das Recht zugestehen, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen. Das hängt jedoch ab von der jeweiligen Position der Politiker und der Kirchen. Die Politik hat sich in letzter Zeit ziemlich homophob positioniert.

Aleksandr Zintschenkow: Vor zehn Jahren waren Kenntnisse über LGBT bereits weit verbreitet, viele hatten sich aber noch nicht für eine positive oder negative Haltung entschieden. Im Jahr 2006 jedoch begann eine ziemlich breit angelegte und strukturierte Gegenbewegung. Die ging vor allem von der Kirche und einigen Organisationen aus, die sich auf Homophobie »spezialisierten«. Leider funktioniert Politik in der Ukraine so, dass Politiker dem Elektorat nach dem Mund reden und alles tun, um es zu befriedigen. In den letzten sechs, sieben Jahren haben die Kirche und diese Organisationen ziemlich erfolgreich in der Gesellschaft Homophobie gesät. Das zeigen auch die Umfragen – ein Teil der Gesellschaft hat sich radikalisiert. Auch physische Übergriffe auf LGBT, wie beim Gay-Pride vor einem Jahr, sind Realität geworden.

Nutzt Ihrer Ansicht nach die Politik latent vorhandene Einstellungen in der Gesellschaft oder sucht sie diese durch Beeinflussung zu erzeugen?

Aleksandr Zintschenkow: Es ist eine Art Teufelskreis. Sie haben, vor allem mithilfe der Kirche, in den letzten zehn Jahren die Homophobie in der Gesellschaft gestärkt, und behaupten jetzt, die Gesellschaft sei homophob und man müsse die traditionellen Werte schützen.

Kann man hier von einer aktiven Kooperation von Kirche und Politik sprechen?

Aleksandr Zintschenkow: Auf jeden Fall. Das ist übrigens nicht nur auf dem Gebiet der Homophobie der Fall. In der letzten Zeit hat die Kirche – nach russischem Beispiel – einen immer größeren Einfluss auf die Politik gewonnen. In Russland ist das für jeden offensichtlich, aber auch hier gibt es diese Tendenz.

Andrij Majmulachin: Wie in Russland auch wird das Thema hier genutzt, um auf möglichst einfache Art und Weise Wähler zu gewinnen und sich gegen Europa zu wenden. Die Schwachen zu schlagen, ist immer die einfachste Art, Stärke zu zeigen. Und hier wird das Thema genutzt, um zu demonstrieren, dass Europa uns etwas aufzwingen will.

Denken Sie, dass die Unterzeichnung des Assoziationsabkommens für LGBT etwas ändern wird?

Aleksandr Zintschenkow: Das ist ein langwieriger Prozess. Zunächst wird sich das Land, wird sich die Gesellschaft ändern müssen, bevor sich das auf die Situation von LGBT auswirken kann. Man kann nicht sagen, dass das Assoziationsabkommen unterzeichnet wird und dadurch ab 2014 sich alles zum Positiven ändern wird.

Andrij Majmulachin: Trotzdem ist der Prozess der Europäischen Integration, der dadurch in Gang gesetzt wird, für uns enorm wichtig. Russland ist die Meinung Europas völlig gleichgültig. Das hat die Verabschiedung des letzten homophoben Gesetzes gezeigt. Hier hingegen wird das Thema zum politischen Handel eingesetzt.

Aleksandr Zintschenkow: Das Antidiskriminierungsgesetz, das vom Ministerkabinett eingebracht wurde, um die Diskriminierung auch nach sexueller Orientierung unter anderem am Arbeitsplatz zu unterbinden, wird von nach Russland orientierten Politikern genutzt, um gegen die Annäherung an Europa Stimmung zu machen. Es wird gesagt, dass dieses Gesetz uns gleichgeschlechtliche Ehen aufzwinge, obwohl es auf den Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz abzielt. Dies geschieht vor allem von Seiten der Kommunisten – sie hätten jedoch nicht eine solche Reichweite, wenn sie dabei nicht von der Partei der Regionen unterstützt würden. Dieses Tandem wirkt vor allem auf die Wählerschaft im dicht besiedelten Osten und Süden des Landes ein.

Andrij Majmulachin: Die LGBT-Karte wird immer öfter ausgespielt. Erst gestern hat die Kommunistische Partei ihre antieuropäischen Werbeclips vorgestellt. In einem der Clips kommt ein Junge – die Ukraine – zu einem Mädchen und bittet um Einlass ins europäische Haus. Das Mädchen beginnt, ihm die Lippen anzumalen und ihm Bänder ins Haar zu flechten. Der Junge lehnt daraufhin ab und sagt, so wolle er nicht werden. Hier sieht man deutlich, wie sich das Thema für gewöhnliche Wähler darstellt.

Beim Thema Europäische Integration sollte man auch über die Partei Swoboda (»Freiheit«) sprechen. Diese Partei sucht – zumindest rhetorisch – aktiv den Anschluss an Europa, ist gleichzeitig jedoch eine der sozial konservativsten Kräfte, vor allem in Bezug auf LGBT. Liegt ihrer Ansicht nach eine Gefahr darin, dass der Preis für einen effektiven Kampf für mehr Europäische Integration eine Zusammenarbeit mit Swoboda sein könnte, und dass diesen Preis möglicherweise LGBT bezahlen?

Aleksandr Zintschenkow: Ja. Die Partei ist am anderen Ende des Spektrums und gleichzeitig genauso homophob wie die Kommunistische Partei. Sie hat im Osten keine Unterstützer und orientiert sich in Richtung Europa, obwohl ich keine Europäischen Werte in ihrem Programm erkennen kann. Das ist eine nationalistische, um nicht zu sagen ultrarechte Partei, die in Westeuropa ihre Entsprechungen hat, an denen sie sich orientiert.

Leider hat Swoboda während der letzten Parlamentswahlen (im Oktober 2012, d. Red.) unerwartet viele Stimmen erhalten. Jetzt versucht sie, sich an die Macht anzunähern und ihren Einfluss im Parlament zu stärken. Andere Entwicklungsmöglichkeiten als die Orientierung nach Westen hat sie nicht: Im Osten ist sie völlig abgeschlagen. Eventuell gibt es hier die Möglichkeit, auf sie einzuwirken, und über die Europäische Integration auch in dieser Partei demokratische Werte und Respekt vor dem Individuum zu etablieren. Versuchen kann man es, doch in der Parteiführung sitzen ultrarechte Personen, mit denen der Dialog äußerst schwierig ist. Swoboda ist Initiator auch physischer Angriffe auf LGBT, sodass wir sie bisher nicht als möglichen Partner sehen, sondern, im Gegenteil, als Kraft, die gegen uns steht.

Andrij Majmulachin: Im Gegensatz zur Partei der Regionen, die sich auf Ebene des Parteiprogramms mit LGBT-Feindlichkeit zurückhält, hat Swoboda übrigens als einzige außer den Kommunisten Homophobie in ihrem Programm festgeschrieben.

Gibt es in der politischen Landschaft eine Kraft, in der Sie einen Partner sehen?

Aleksandr Zintschenkow: Das können nur Einzelpersonen sein. Die toleranteste Einstellung zu LGBT-Fragen hat wohl die Partei UDAR. In dieser Partei gibt es eine Abgeordnete, Irina Geraschtschenko, sie ist stellvertretende Vorsitzende des Komitees für Europäische Integration. In einem Interview hat sie heute darauf hingewiesen, dass ohne das Antidiskriminierungsgesetz kein Fortschritt in der Visaliberalisierung erreicht wird, und dass wir nicht zurückschauen sondern uns an demokratischen Maßstäben orientieren sollten. Doch das sind nur Einzelerscheinungen. Sogar Klitschko hat sich nie direkt zu LGBT geäußert sondern auf Nachfragen von Journalisten bloß allgemein seine Unterstützung europäischer Werte kundgetan. Weder er noch seine Partei sind also besonders aktiv in der Unterstützung.

Andrij Majmulachin: Hier muss man sehen, dass eine aktive Fürsprache in LGBT-Fragen heute dem politischen Tod gleichkommt. Klitschko hat offenbar vor, sich um das Präsidentenamt zu bewerben, und ist wahrscheinlich einfach vorsichtig.

Im Moment ist diese Thematik offensichtlich vor allem eine Machtfrage. Wie schätzen Sie die Zukunft und die Perspektive einer langsamen Werteliberalisierung im Zuge der Globalisierung ein?

Andrij Majmulachin: Die prinzipielle Frage ist: Wird sich die Ukraine tatsächlich nach Westen orientieren? In diesem Falle bestehen gute Chancen, dass auch dieses Thema mit der Zeit normaler aufgefasst und diskutiert wird, ausgehend von der jungen Generation und denen, die Zeit im Ausland verbracht haben. Wenn die Ukraine sich jedoch zurück in die Arme Russlands begibt, wäre das natürlich eine Sackgasse für die LGBT-Bewegung…

Aleksandr Zintschenkow: …doch sogar in Russland sind Veränderungen und kleine Unterstützungen für LGBT zu beobachten. Aleksej Nawalnyj, Kandidat für das Bürgermeisteramt in Moskau, hat mehrfach auf die Einhaltung von Menschenrechten und explizit die Rechte von LGBT gedrungen. Und sogar dann, wenn die Ukraine in die Zollunion eintritt, wird es gewisse Einflüsse der westlichen Welt geben, die hier einen positiven Einfluss haben können. Umso mehr, als in der Ukraine in der Zeit der Unabhängigkeit stärkere demokratische Werte wachsen konnten als in derselben Periode in Russland.

Andrij Majmulachin: Unser Parlament jedoch versucht bis heute, das Antidiskriminierungsgesetz mit Händen und Füßen abzuwehren. Im Moment werden alle proeuropäischen Gesetze angenommen, wahrscheinlich werden sie sogar Julija Tymoschenko freilassen. Doch eine Gruppe Parlamentarier ist vor kurzem nach Brüssel gefahren, um darum zu bitten, dieses eine Gesetz von der Agenda zu nehmen. Das liegt daran, dass kein Parlamentarier vor den anderen als Unterstützer dastehen will, und fürchtet, das könnte gegen ihn verwendet werden. Ein Teufelskreis.

Es gibt aber andererseits erste Anzeichen für die Möglichkeit einer positiven Veränderung. Bei einer Rede hat der Präsident Wiktor Janukowytsch unter anderem die LBGT-Bewegung als besonders progressiv und erfolgreich gewürdigt. Das heißt, kleine Bewegungen gibt es doch.

Interview und Übersetzung aus dem Russischen: Jan Matti Dollbaum

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