Das ukrainische Parlament führt Teile der europäischen Gesetze ein

Von Wojciech Kononczuk, Tadeusz Olszanski (beide Warschau)

Zusammenfassung
Im September hat das ukrainische Parlament Teile der »europäischen Gesetze« verabschiedet, die eine Voraussetzung für die Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU auf dem Gipfeltreffen zur Östlichen Partnerschaft in Vilnius am 28./29. November sind. Einer Entscheidung des Rats der Europäischen Union vom Dezember 2012 zufolge wird dieses Dokument nur unter der Bedingung unterschrieben, dass Kiew Reformfortschritte, vor allem in den Bereichen Politik, Rechtswesen und Wahlsystem, gemacht hat. Das einzige der bislang verabschiedeten Gesetze, das entscheidenden Einfluss auf das politische System der Ukraine haben wird, weitet die Kompetenzen der Rechnungskammer (das parlamentarische Gremium, das die Umsetzung des Haushalts kontrolliert) aus. Alle anderen sind von sekundärer Bedeutung. Angesichts der hohen Effizienz, mit der das Parlament die ersten europäischen Gesetze verabschiedet hat, ist zu erwarten, dass bis Anfang November noch weitere Gesetze angenommen werden, einschließlich der entscheidenden: zu den Strafverfolgungsbehörden, der Polizei und der Wahlgesetzgebung. In Bezug auf Julia Timoschenkos Fall hat die ukrainische Regierung jedoch noch nichts unternommen. Das beispiellose Tempo, mit dem die von der EU erwarteten Regelungen erlassen wurden, zeigt, dass die ukrainische Regierung fest entschlossen ist, das Assoziationsabkommen während des Vilnius-Gipfels zu unterzeichnen. Gleichzeitig hofft Kiew, dies durch einen positiven Eindruck von den bereits erreichten Gesetzesänderungen in Brüssel (und dort auch beim EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle) zu einem relativ niedrigen politischen Preis zu erreichen – das heißt, ohne den Fall Timoschenko zu lösen (ihre Freilassung scheint äußerst unwahrscheinlich) und ohne die Einführung einiger Gesetze, die für die derzeit herrschende Elite im Kontext der politischen Rivalitäten in der Ukraine sehr wichtig sind.

Die europäischen Gesetze

Seit dem Beginn der Herbstperiode am 3. September hat das ukrainische Parlament sehr effektiv gehandelt, und als »europäisch« gelabelte Projekte sind mit überwältigenden Mehrheiten verabschiedet worden. Die bisher angenommenen Gesetze haben sämtliche Fraktionen des Parlaments unterstützt, auch die Kommunisten, die scharfe Gegner der europäischen Integration sind. Das hat zwei Gründe. Zum einen übten die Führung der Partei der Regionen und der Präsident selbst hohen Druck auf die Kommunisten und auf unabhängige Abgeordnete aus. Zum anderen hat sich der Standpunkt der Oppositionsparteien geändert, durch den im Frühjahr parlamentarische Treffen blockiert worden waren, indem von der Regierung die Erfüllung einiger Bedingungen gefordert worden war (darunter das Abhalten von Neuwahlen in Kiew). Dieser Wechsel geht auf Druck aus Brüssel zurück, der auf die Opposition ausgeübt wurde, so dass diese ihre Unterstützung proeuropäischer Regierungsprojekte nun nicht mehr an andere politische Themen koppelt. Die Gesetze müssen noch von Präsident Janukowitsch unterzeichnet werden, das ist jedoch bloße Formalität. Die wichtigsten der verabschiedeten Gesetze behandeln folgende Bereiche:

Wahlrecht

Das ukrainische Parlament hat Wahlen in jenen fünf Wahlkreisen mit einem Mehrheitswahlrecht angesetzt, in denen die Zentrale Wahlkommission das Ergebnis der Parlamentswahlen im Oktober 2012 nicht ermittelt und somit das Gesetz gebrochen hat. Sie finden am 15. Dezember dieses Jahres statt. Die Partei der Regionen und die Opposition sind sich einig, dass es notwendig war, die Wahlen dort anzusetzen. Die zweite »Wahl«-Bedingung der EU hat das Parlament allerdings nicht erfüllt: Es hat keine Wahlen für das Bürgermeisteramt in Kiew (das seit Juli 2012 vakant ist) festgesetzt, und auch keine für das Kiewer Rathaus (dessen Amtsperiode im Juni 2013 abgelaufen ist). Darüber gibt es eine stillschweigende Übereinkunft zwischen der Partei der Regionen und der Opposition (obwohl letztere öffentlich die Abhaltung von Wahlen gefordert hat), da diese Wahlen die Vorbereitung beider Parteien auf die Präsidentschaftswahl Anfang 2015 verkomplizieren würden.Die Venedig-Kommission wird voraussichtlich Mitte Oktober ihre Ansicht zu den sich abzeichnenden Änderungen des Wahlrechts kundtun. Es kann zu diesem Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden, dass das entsprechende Gesetz vor dem Vilnius-Gipfel, aber nach dem 21. Oktober, also nach dem Treffen der EU-Außenminister, verabschiedet wird. Der Entwurf für das Wahlgesetz, den die Venedig-Kommission befürwortet hat, wurde allerdings noch nicht auf die Agenda des Parlaments gesetzt, und es ist unwahrscheinlich, dass dies noch geschieht, da die Partei der Regionen offen gegen seine Verabschiedung ist, mit der Begründung, der Entwurf heble Abstimmungsvorschriften aus. Die Verabschiedung des Entwurfs würde eine Änderung der Abstimmungsvorschriften vor der demnächst stattfindenden Wahl erschweren – was in der Ukraine bisher übliche Praxis ist. Zudem weist nichts darauf hin, dass das ukrainische Parlament das Referendumsgesetz (das auf Initiative der Partei der Regionen im November 2012 verabschiedet wurde) in der von der EU geforderten Weise abändert. Dieses Gesetz ermöglicht die Verabschiedung von Gesetzen per Referendum (also ohne Beteiligung des Parlaments), was das Prinzip der repräsentativen Demokratie unterminiert. Wenn nötig, könnte diese Art der Gesetzesverabschiedung ein praktisches politisches Instrument für die ukrainische Regierung werden.

Das Justizsystem

Das Parlament hat Gesetzesänderungen verabschiedet, die die Haftbedingungen in den Gefängnissen deutlich verbessern (verbessert wurden auch die Bestimmungen zur medizinischen Versorgung). Eine umfassende Reform des postsowjetischen ukrainischen Strafvollzugssystems ist jedoch noch im Vorbereitungsstadium und wird dieses Jahr nicht mehr auf die Agenda kommen. Außerdem hat das Parlament einen Fahrplan zur Umsetzung der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erlassenen Urteile beschlossen und versprochen, im Oktober weitere Gesetze für eine grundlegende Reform der Strafverfolgung und der Polizei zu verabschieden. Das Verfassungsgericht stimmte dem Gesetzesentwurf zur Stärkung der verfassungsmäßigen Garantie der richterlichen Unabhängigkeit innerhalb von zwei Wochen zu – dieser beinhaltet unter anderem die lebenslange Ernennung von Richtern und entzieht dem Parlament das Recht, Richter aufzustellen (was den Einfluss der Regierung auf die Justiz verringert). Das könnte bedeuten, dass das Gesetz bald verabschiedet wird, obwohl die Verfassung vorsieht, dass dies frühestens im Februar 2015 geschehen kann. Derselbe Gesetzesentwurf für die Verfassung sieht vor, dass der Generalbundesanwalt nicht mehr für einen gewissen Zeitraum ernannt wird, was die Unabhängigkeit dieser Position stärkt. Das neue Gesetz zum Anwaltsberuf wurde bereits 2012 verabschiedet, seine Umsetzung war jedoch mit großen Schwierigkeiten behaftet, etwa mit den neuen im Mai 2013 verabschiedeten Richtlinien für Strafverfahren. Nichtsdestotrotz haben diese beiden Gesetze die ukrainischen Verfahren europäischen Standards nähergebracht.

Antikorruptionsgesetze

Das ukrainische Parlament hat die Verfassung geändert und der Rechnungskammer dabei das Recht zugesprochen, nicht nur die Ausgaben, sondern auch die Einnahmen des Haushalts zu kontrollieren. Damit hat sie ein Element der Verfassungsreform von 2004 wiederbelebt. Im Frühjahr dieses Jahres wurden mehrere Antikorruptionsgesetze verabschiedet. Am 23. September wurde dem Parlament ein Gesetzentwurf zur nationalen Antikorruptionspolitik vorgelegt, der zum Beispiel eine unabhängige Ermittlungsbehörde für Korruptionsfälle vorsieht. Er wird voraussichtlich im Oktober verabschiedet.

Weitere Gesetze

Das Parlament hat mehrere Gesetze verabschiedet, die zur Unterzeichnung des vertieften und umfassenden Freihandelsabkommens (DCFTA) nötig sind, und es hat die Zollbestimmungen verändert. Das Gesetz zu den öffentlichen Medien hat zu schweren Auseinandersetzungen in der Opposition geführt und ist der Kommission erneut zur Überprüfung vorgelegt worden. Dagegen weist nichts darauf hin, dass das Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet wird (das Voraussetzung der Vereinfachung von EU-Visaanträgen ist), die meisten Gruppierungen lehnen dieses Projekt ab. Außerdem wurde dem Parlament ein Gesetz zur Verhinderung homosexueller Propaganda, das dem entsprechenden russischen Gesetz nachempfunden ist, vorgelegt.

Zusammenfassung: Der Weg nach Vilnius ist offen?

Die bisher vom ukrainischen Parlament verabschiedeten Gesetze erfüllen Teile der EU-Kriterien für die Ukraine. Das Vorgehen bei der Verabschiedung dieser Gesetze zeigt, dass die Regierung das Assoziationsabkommen auf dem Vilnius-Gipfel unterzeichnen will. Das Parlament hat jedoch noch nicht alle Gesetze verabschiedet, die Brüssel erwartet und die die größten Auswirkungen auf eine Reform des politischen Systems des Landes haben, etwa die zu den Strafverfolgungsbehörden, der Polizei und der Wahlgesetzgebung. Auch wenn zu erwarten ist, dass das Parlament in den nächsten Wochen weitere europäische Gesetze annehmen wird, so hat es doch nicht genügend Zeit, alle von der EU geforderten Gesetze zu verabschieden. Zudem ist offensichtlich, dass die Regierung einige Gesetze nicht verabschieden will, etwa das Wahlrecht und eine veränderte Version des Referendumsgesetzes, da dies – aus Sicht der Regierung – die Position der Partei der Regionen schwächen würde. Auch im Fall von Julia Timoschenko, die zu acht Jahren Haft verurteilt wurde und in einigen weiteren Fällen (darunter Auftragsmord) als Verdächtige geführt wird, hat die ukrainische Regierung keine Fortschritte gemacht. Kiew scheint zu glauben, dass die bereits verabschiedeten Gesetze und diejenigen, die voraussichtlich im Oktober verabschiedet werden, von der EU begrüßt werden und zur Unterzeichnung des Assoziationsabkommens in Vilnius ausreichend sind. Man sollte daher nicht erwarten, dass Timoschenko in absehbarer Zeit freigelassen werden wird (auch nicht, falls sie einwilligt, das Land zur Behandlung im Ausland zu verlassen), denn sie wird immer noch als gefährlicher politischer Gegner angesehen.

Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt

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Analyse

Zur außenpolitischen Orientierung des neuen ukrainischen Präsidenten und der Partei der Regionen

Von Wilfried Jilge
Unmittelbar nach seiner Wahl zum Präsidenten reiste Viktor Janukowitsch zur EU-Kommission nach Brüssel, wo er seinen ersten Antrittsbesuch im Ausland absolvierte. Der früher häufig als prorussisch eingestufte Janukowitsch, für den 2004 die Präsidentenwahlen gefälscht wurden, gab sich in der Pressekonferenz mit José Manuel Barroso ausgesprochen proeuropäisch: Für die Ukraine werde, so Janukowitsch, die europäische Integration ebenso wie die Realisierung systematischer sozioökonomischer Reformen Priorität haben. Experten haben bereits im Wahlkampf darauf hingewiesen, dass der neue Präsident einen auf die Integration der Ukraine in die Strukturen der EU zielenden Kurs – wenn auch vorsichtiger als sein Vorgänger – fortsetzen könnte. Hatte die westliche Berichterstattung Janukowitsch früher meist als moskauhörigen Kandidaten eingestuft (was in dieser Eindeutigkeit schon 2004 nicht ganz richtig war), werden er und seine Rivalin Julia Timoschenko heute immer häufiger als gleichermaßen »prorussisch« wie »proeuropäisch« eingeschätzt. Dies ist keineswegs ausgeschlossen: Bei der Bewältigung der die Ukraine heftig treffenden Finanzkrise ist die Ukraine nicht nur auf Hilfe aus Moskau, sondern auch aus der EU dringend angewiesen. (…)
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Analyse

Rückkehr zum Multivektoralismus? – Eine Bilanz der Außenpolitik Janukowytschs

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Die Debatten über die Außenpolitik des Präsidenten Janukowytsch sind stark mit den Debatten über die Innenpolitik verknüpft und normativ geprägt. Beobachter erwarten eine Korrelation zwischen der Annäherung an Russland und einem Anwachsen der autoritären Tendenzen in der ukrainischen Innenpolitik; für Erfolge in der Kooperation mit der EU wird hingegen Demokratie vorausgesetzt. Die Bilanz der einjährigen Amtszeit Janukowytschs zeigt, dass es in den beiden wichtigsten Bereichen der Außenpolitik – Zusammenarbeit mit der EU und mit Russland – Kooperationserfolge, aber auch Konflikte zu verzeichnen gibt. Auf den ersten Blick ähnelt die Außenpolitik Janukowytschs der multivektoralen Außenpolitik des ehemaligen Präsidenten Leonid Kutschma. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass sie im Gegensatz zur Politik Kutschmas nicht primär darauf ausgerichtet ist, die Einflüsse der beiden genannten externen Akteure gegeneinander auszuspielen. (…)
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