Möglichkeit von Referenden
»Das allukrainische Referendum ist eine Form der unmittelbaren Demokratie in der Ukraine, eine Art der Machtausübung unmittelbar durch das ukrainische Volk, sie besteht in der Annahme (Bestätigung) von Entscheidungen in Fragen von gesamtstaatlicher Bedeutung durch die Bürger der Ukraine …«, heißt es in Artikel 1,1 des Referendumsgesetzes vom 6. November 2012. »Gegenstand eines allukrainischen Referendums können alle Fragen sein, mit Ausnahme jener, deren Entscheidung durch Referendum durch die Verfassung der Ukraine und durch Gesetze untersagt ist« (Artikel 3,1). Ausgenommen von einem Referendum sind nach Artikel 74 der Verfassung lediglich Fragen der Steuern, des Budgets und der Amnestie sowie die Menschen- und Bürgerrechte.
In zahlreichen weiteren Bestimmungen wiederholt das Referendumsgesetz die annähernde Allzuständigkeit und allumfassende Kompetenz des gesamtstaatlichen Referendums und vermittelt so den Eindruck, dass die Ukraine sich unter Präsident Janukowytsch auf den Weg zu mehr Demokratie und Volksherrschaft gemacht hat. Das ist umso bemerkenswerter, als die konkreten Ereignisse seit dem Amtsantritt von Janukowytsch im Frühjahr 2010 im Gegenteil zum Rückbau der Demokratie geführt haben.
»Durch das allukrainische Referendum aufgrund einer Volksinitiative verwirklicht das ukrainische Volk als Träger der Souveränität und einzige Quelle der Macht in der Ukraine seine Willensbekundung und kann in der Form, wie sie von der Verfassung und diesem Gesetz vorgeschrieben wird, Gesetze der Ukraine annehmen (Änderungen der Gesetze vornehmen), mit Ausnahme von Gesetzen, deren Annahme von der Verfassung nicht zugelassen ist …« (Artikel 15,4).
Die umfassendste und zugleich am meisten problematische Bestimmung des Referendumsgesetzes betrifft das Recht, per Referendum eine neue Verfassung zu erlassen. »Durch das allukrainische Referendum aufgrund einer Volksinitiative kann das ukrainische Volk als Träger der Souveränität und einzige Quelle der Macht in der Ukraine sein ausschließliches Recht realisieren, die Verfassungsordnung der Ukraine festzulegen und zu ändern durch die Annahme der Verfassung der Ukraine (Einrichtung der Macht) in der Form, wie sie von diesem Gesetz vorgeschrieben wird« (Art. 15,2). In den zitierten Bestimmungen des Referendumsgesetzes ist charakteristischerweise von der Mitwirkung des Parlaments nirgendwo die Rede, ja im letzten Zitat aus Artikel 15,2 fehlt sogar der Hinweis auf die geltende Verfassung. Das ist kein Zufall, denn die geltende Verfassung kennt den Fall der Annahme einer gänzlich neuen Verfassung gar nicht. Insofern überschreitet das Referendumsgesetz also die Verfassung.
Durchführungsbestimmungen
Damit eine »Volksinitiative« gültig zustande kommt, sind drei Millionen Unterschriften von Wahlberechtigten erforderlich, wobei in mindestens zwei Dritteln der Regionen der Ukraine jeweils mindestens 100.000 Unterschriften gesammelt werden müssen (Artikel 15,6). Ein Referendum zur Billigung einer neuen Verfassung oder zur Änderung der geltenden Verfassung wird aufgrund einer Volksinitiative vom Präsidenten ausgerufen (Artikel 16,2). Wieder ist für das Parlament keine Rolle vorgesehen.
Die Resultate der Volksbefragung sind »bindend« (Art. 4,2): Mehr noch, die Resultate »sind endgültig und bedürfen keiner Bestätigung oder Billigung durch irgendwelche Organe der Staatsmacht« (Art. 95,1). Mit dem Referendumsgesetz erhält der Präsident also ein Instrument, mit dem er ohne Mitwirkung der Legislative die Verfassungsordnung im Sinn eines Präsidentialismus neu gestalten könnte. Es sollte für ihn nicht besonders schwierig sein, eine »Volksinitiative« zu starten.
Die Mehrheit der Wähler danach in einem Referendum hinter sich zu bringen, könnte sich schon eher als eine problematische Aufgabe erweisen, deren Ergebnis im Voraus schwer zu prognostizieren ist. Denn es ist nicht sicher, dass die ukrainischen Wähler angesichts der drastisch rückläufigen Popularität von Präsident Janukowytsch ein Referendum unterstützen würden, mit dem offensichtlich seine Herrschaft für die Zukunft gesichert werden soll. Selbstverständlich könnten hier wie auch in der Vergangenheit Manipulation und Wahlfälschung gute Dienste leisten, aber deren Effizienz ist wohl auf maximal 5 % begrenzt.
In einigen Zusammenhängen erhält das Parlament nun doch eine Rolle im Referendumsgesetz, und zwar dort, wo die Verfassung das ausdrücklich vorschreibt. Für Verfassungsänderungen in den Abschnitten I (Allgemeine Grundlagen), III (Wahlen) und XIII (Änderungen der Verfassung der Ukraine) sieht Artikel 156 der Verfassung detailliert die Mitwirkung des Parlaments vor, bevor ein Referendum stattfinden kann. Diese Bestimmungen wurden in das Referendumsgesetz übernommen (Art.17,1). Die genannten Abschnitte der Verfassung können mithin nur mit der Zustimmung von zwei Dritteln der Parlamentsabgeordneten geändert werden. Indem der Präsident über die Möglichkeit verfügt, dem Volk eine gänzlich »neue Version der Verfassung« unmittelbar in einem Referendum zur Abstimmung vorzulegen, könnte Artikel 156 der Verfassung aber ausgehebelt werden.
Verabschiedung des Gesetzes
Die parlamentarische Behandlung des Referendumsgesetzes vor seiner weitgehend geräuschlosen Verabschiedung am 6. November 2012 lässt kaum einen Zweifel daran, dass es der Partei der Regionen genau darauf ankam, ein Instrument zu schaffen, mit dessen Hilfe die Verfassung ohne Bremswirkung seitens des Parlaments, d. h. der Opposition, umgeschrieben werden kann. Die Vorlage zum Referendumsgesetz wurde nämlich bereits am 29. April 2010, also kurz nach der Wahl von Janukowytsch zum Präsidenten, ins Parlament eingebracht. Bei der entscheidenden zweiten Lesung der Gesetzesvorlage am 9. Juli 2010 wurde auf Initiative der Opposition, unterstützt von den Kommunisten und den Abgeordneten der Gruppe Lytwyn, eine einschneidende Änderung der Vorlage verabschiedet: Die Möglichkeit der Außerkraftsetzung oder Neufassung der Verfassung insgesamt durch Referendum wurde aus dem Referendumsgesetz gestrichen.
Danach verlor die Regierung Janukowytsch offenbar jedes Interesse an diesem Gesetz, jedenfalls wurde der parlamentarische Gesetzgebungsprozess nicht weiterverfolgt. Erst im November 2012 setzte die Partei der Regionen erneut die Vorlage des Gesetzes im inzwischen neu gewählten Parlament auf die Tagesordnung und sorgte für seine umgehende Annahme, und zwar in der Fassung der ersten Lesung aus dem Jahr 2010. Die seinerzeit in der zweiten Lesung beschlossenen entscheidenden Änderungen blieben einfach unberücksichtigt.
Rückkehr in die Kutschma-Zeit
Janukowytsch und seine Partei der Regionen haben ihre Wahlniederlage im Dezember 2004 bis heute nicht anerkannt und betrachten die Orange Revolution als Betrug und illegale Einmischung des westlichen Auslands. Deshalb werden die Konsequenzen der Orangen Revolution nach Möglichkeit beseitigt. Die Verurteilung von Julia Tymoschenko zu Gefängnishaft ist nur der drastischste Akt dieser Politik. In den gleichen Zusammenhang gehört die Aufhebung der Verfassungsänderung vom 8. Dezember 2004, die auf dem Höhepunkt der Orangen Revolution erfolgte. Am 1. Oktober 2010 entschied das Verfassungsgericht, dass die Änderungen der Verfassung vom 8. Dezember 2004 unwirksam seien, denn sie seien unter Verletzung formaler Bestimmungen zustande gekommen. Damit trat die Verfassung von 1996 wieder in Kraft, und ein zentrales Element der Orangen Revolution, die Umwandlung des präsidentiellen in ein parlamentarisches System, wurde rückgängig gemacht.
Auch das Referendumsgesetz steht in diesem Zusammenhang; es ist sozusagen eine Revision der Niederlage von Präsident Kutschma, der sich im Jahr 2000 anschickte, mit Hilfe eines Referendums die Verfassung umzuschreiben: Die Kompetenzen des Präsidenten sollten erweitert und das Parlament auf Taschenformat reduziert werden. Kutschma war mit seinen Aktionen schon ziemlich weit fortgeschritten, als dann im Herbst 2000 »Kutschmagate« losbrach und alle weiteren Pläne zunichtemachte. Von der Aufdeckung der illegalen Tonbandmitschnitte in Kutschmas Büro, die die Verwicklung des Präsidenten in die Ermordung des oppositionellen Journalisten Heorhij Gongadse zeigten, führte ein gerader Weg zur Bewegung »Ukraine ohne Kutschma!« und zur Orangen Revolution.
Kutschma hatte auf »Volksinitiative« hin für den 16. April 2000 ein Referendum anberaumt, in dem die Wähler ursprünglich zu sechs Fragen Stellung nehmen sollten. Gemäß Frage eins sollte das Volk dem damaligen Parlament das Misstrauen aussprechen und zugleich dem Präsidenten durch Verfassungsänderung das Recht einräumen, das Parlament, dem das Volk das Misstrauen ausgesprochen hat, aufzulösen. Zweitens sollte der Präsident durch Verfassungsänderung grundsätzlich ermächtigt werden, das Parlament aufzulösen, wenn es nicht innerhalb eines Monats eine stabile parlamentarische Mehrheit bildet oder nicht innerhalb von drei Monaten den Haushaltsentwurf der Regierung verabschiedet. Drittens sollte die in der Verfassung verankerte Abgeordnetenimmunität aufgehoben werden. Viertens sollte die Zahl der Parlamentsabgeordneten von 450 auf 300 reduziert werden. Fünftens sollte die Verfassung in Zukunft ein Zwei-Kammer-Parlament vorschreiben. Sechstens sollte sich das Referendum sozusagen selbst ermächtigen, in Zukunft die ukrainische Verfassung auf dem Weg eines Referendums anzunehmen.
Innerhalb und außerhalb der Ukraine, insbesondere von Seiten des Europarats, wurde massive Kritik an diesen Referendumsfragen laut. Nicht zuletzt unter internationalem Druck entschied das ukrainische Verfassungsgericht im März 2000, dass die Referendumsfragen eins und sechs nicht verfassungskonform seien. Die verbliebenen vier Fragen wurden von den Wählern mit überwältigender Mehrheit von über 80 % mit »Ja« beantwortet. Dennoch kam es, wie oben geschildert, nicht zu einer Umsetzung der Referendumsergebnisse, weil Kutschma ab Herbst 2000 nicht mehr über eine qualifizierte Mehrheit im Parlament verfügte, ohne die Verfassungsänderungen nicht möglich waren.
Alle diese Probleme und Hindernisse scheinen mit dem neuen Referendumsgesetz aus dem Weg geräumt. Denn es erlaubt dem Präsidenten alles, was Kutschma am Ende vergeblich anstrebte, über ein Referendum zu realisieren – vorausgesetzt, die Wähler folgen den Vorlagen des Präsidenten im Rahmen einer allgemeinen Volksabstimmung.
Das Referendumsgesetz in der Kritik
Innerhalb und außerhalb der Ukraine ist das Referendumsgesetz auf heftige Kritik gestoßen, die von seinen Befürwortern in der Partei der Regionen selbstverständlich zurückgewiesen wird. Manche sehen mit dem Gesetz und seinen Folgen bereits »das Ende der Demokratie in der Ukraine« gekommen. Andere weisen darauf hin, dass schließlich auch die Opposition das Referendum nutzen könnte, um die Absichten des Präsidenten zu konterkarieren – vorausgesetzt, sie ist in der Lage, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen.
Auch in der von Janukowytsch im Mai 2012 berufenen Verfassungsversammlung, die eine neue Verfassung erarbeiten soll, ist das Referendumsgesetz heftig umstritten. Während offenbar die Mehrheit dafür eintritt, das Parlament aus dem Projekt für eine neue Verfassung ganz auszuschließen und die Fragen den Wählern in einem Referendum direkt zur Abstimmung vorzulegen, beharren andere Mitglieder der Verfassungsversammlung darauf, dass ein solches Verfahren im Widerspruch zur geltenden Verfassung und zu europäischen Normen stehe.
Auch Witali Klitschko, einer der Oppositionsführer und Vorsitzender der Parlamentsfraktion Udar, fordert, dass Änderungen der Verfassung in der Kompetenz des Parlaments verbleiben. Er verlangt eine Neufassung des Referendumsgesetzes.
Die Venedig-Kommission der Parlamentarischen Versammlung des Europarates hat in ihrer Stellungnahme im Juni 2013 massive Bedenken gegen das Referendumsgesetz formuliert. Vor allem sieht sie die Gewaltenteilung bedroht. Die Ausschaltung des Parlaments bei der Verabschiedung einer neuen Verfassung oder bei Verfassungsänderungen würde »der Verfassungsstabilität und Legitimität in der Ukraine Schaden zufügen«.
Das Referendumsgesetz und die Präsidentenwahl 2015
Von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der Ukraine wird die Präsidentenwahl zum Jahresanfang 2015 sein. Die derzeitigen Machthaber sind entschlossen, die Wiederwahl von Janukowytsch durchzusetzen. Dies ist angesichts der deutlich rückläufigen Popularität des Präsidenten im Vergleich zu der Zeit seines Wahlsiegs im Februar 2010 und in Anbetracht des aktuellen Wahlrechts keine leichte Aufgabe. Deshalb liegt es nahe, die Verfassung und das Wahlgesetz mit Hilfe eines Referendums zu ändern, um dem Amtsinhaber die Wiederwahl zu sichern. So gibt es Vorschläge, den Präsidenten vom Parlament statt direkt vom Volk wählen zu lassen, weil das Parlament, jedenfalls in seiner jetzigen Zusammensetzung und Manipulierbarkeit, einigermaßen berechenbar erscheint. Ein anderer Vorschlag geht dahin, den Präsidenten in nur einer Runde vom Volk wählen zu lassen und nicht eine Zustimmungsrate von mindestens 50 % vorzuschreiben. Die Opposition könnte durch zahlreiche Kandidaten zersplittert werden, und so könnte der Amtsinhaber eine relative Mehrheit in nur einem Wahlgang erringen. Es bleibt abzuwarten, in welcher Weise das Referendumsgesetz genutzt wird, um einen Machtwechsel im Jahr 2015 zu verhindern.
Derweil werden in der Öffentlichkeit zahlreiche weniger weitgehende Vorschläge zur Abhaltung von Referenden erörtert. Am weitesten ging bisher die Kommunistische Partei der Ukraine, die im September 2013 ein offizielles Verfahren zur Durchführung eines Referendums bei der Zentralen Wahlkommission eingeleitet hat. Es soll die Wähler fragen, ob sie dem Beitritt der Ukraine zur Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan zustimmen oder nicht. Natürlich agitieren die Kommunisten für einen solchen Beitritt. Die Opposition hat demgegenüber vorgeschlagen, in einer Volksabstimmung die Freilassung von Julia Tymoschenko aus dem Gefängnis zu fordern. Ein offizielles Verfahren ist jedoch bisher nicht eröffnet worden. So hat das Referendumsgesetz bislang nicht zu einer Volksabstimmung geführt. Aber es ist wie eine politische Mine, die jederzeit hochgehen kann.