Aus dem Scheitern lernen – für eine neue Ukraine-Politik Europas

Von André Härtel (Straßburg)

Seit der überraschenden Absage der ukrainischen Führung an ein Assoziationsabkommen mit der EU Ende November 2013 steht die EU vor dem Scherbenhaufen ihrer Nachbarschaftspolitik. Statt des gewünschten »Rings« stabiler und demokratischer Staaten sieht sich Brüssel im größten Staat der östlichen Nachbarschaft mit einem eskalierenden Machtkampf zwischen pro-europäischen Demonstranten und einer offen autokratisch-repressiven Staatsführung konfrontiert. Schon seit dem Spätsommer 2013, als Russland für Wochen gezielt ukrainische Importe unterband, scheint die EU – und mit ihr die meisten Mitgliedstaaten – zudem nur noch Zuschauer einer von Moskau betriebenen geopolitischen »Neu«ordnung des postsowjetischen Raumes zu sein. Wie konnte es so weit kommen und welche Konsequenzen gilt es zu ziehen?

Unangenehme Wahrheiten 1 – Ukrainische Außenpolitik

Drei Gründe sind meiner Meinung nach ausschlaggebend für das Versagen der europäischen Nachbarschaftspolitik in der Ukraine. Erstens haben Brüssel und die meisten Mitgliedstaaten über Jahre den Charakter der ukrainischen Führung falsch eingeschätzt. Es handelt sich bei dem von Wiktor Janukowytsch geführten Regime eben nicht um eine zwar »semi-autoritäre«, aber dennoch langfristig reformierbare und am Wohle des Landes orientierte Führung, sondern um ein systematisch den eigenen ökonomischen Interessen dienendes Elitennetzwerk ohne jegliches Verantwortungsgefühl gegenüber der ukrainischen Bevölkerung. Die Blamage der EU in Vilnius ist daher eine direkte Folge des Unverständnisses für das Funktionieren ukrainischer Außenpolitik, die sich lediglich dem Primat der höchstmöglichen Bereicherungs- und Handlungsfreiheit der ukrainischen Politoligarchie unterordnet. Ein kurzer Fingerzeig aus Moskau war demnach auch genug, um der öffentlich beschworenen »evrointegracija« wieder einmal den Rücken zu kehren – allem aus Brüssel über Jahre in das Abkommen investierten politischen Kapital zum Trotz.

Unangenehme Wahrheiten 2 – Der geostrategische Faktor

Zudem scheint sich die Außenpolitik der »Zivilmacht« Europa in der Östlichen Partnerschaft jedem geostrategischen Denken verschlossen zu haben. Dabei hätte selbst außenpolitischen Laien seit der Ankündigung Wladimir Putins von 2011, ein eigenes eurasisches Integrationsprojekt voranzutreiben, klar sein müssen, dass Moskau eine Assoziierung der Ukraine mit der EU nicht wehrlos hinnehmen würde. Für einen solchen Fall aber war Brüssel schlecht gewappnet: Während in der auf Konditionalität und Sozialisierung fußenden Außenpolitik klassische Machtmittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen fehlen, gab es unter den Mitgliedstaaten keinen Konsens hinsichtlich der Wertigkeit des Assoziierungsabkommens im Falle russischen Widerstands. Die vor Vilnius oft zu hörende Argumentation, die Östliche Partnerschaft richte sich nicht gegen Russland, ist gegenstandslos. Zum einen existieren weder in der ENP noch in den EU-Russland-Beziehungen irgendwelche Mechanismen oder auch nur Visionen einer gemeinsamen Gestaltung der Nachbarschaft, zum anderen sieht Moskau die ENP nun eben einmal als klares Konkurrenzprojekt zu den eigenen Zielstellungen.

Unangenehme Wahrheiten 3 – Der fehlende Ukraine-Diskurs

Ganz wesentlich ist aber auch, dass in der EU und ihren Mitgliedstaaten auch 23 Jahre nach der ukrainischen Unabhängigkeit kein Konsens hinsichtlich des Platzes der Ukraine im europäischen Projekt existiert. Dabei ist offensichtlich, dass die Zukunft der Ukraine der Schlüssel sowohl für eine zu verhindernde neue Spaltung Europas in einen demokratischen Westen und einen autoritären Osten als auch für die Gestaltungsfähigkeit der europäischen Nachbarschaftspolitik ist. In den großen EU-Staaten überwiegen jedoch Skepsis und Desinteresse. Vor allem für die deutsche Außenpolitik ist dies mehr als peinlich, hat man sich doch gerade in Berlin einem strategischen Diskurs zur Ukraine in den letzten Jahren klar verweigert. Mehr noch, die jahrelange appeasement-Politik der Bundesrepublik gegenüber Russland hat die dortige Führung noch ermutigt, im »nahen Ausland« Stärke zu zeigen. Auf dieser Grundlage ist es dann schlechterdings unmöglich, eine Allianz einiger Mitgliedstaaten zu begründen, die eben auch über ökonomische und andere Machtmittel legitime europäische Interessen in Bezug auf Kiew durchsetzen könnte.

Den Moment nutzen – Zu einer neuen Ukraine-Politik im europäischen Mehrebenensystem

Die Konditionalität, also die Kopplung außenpolitischer Anreize an eine innere Demokratisierung, hat die EU in der Ukraine in eine groteske Sackgasse geführt. Während eine Aufwertung der Beziehung letztlich am Kiewer Nein scheiterte und sich die ukrainische Führung nach Moskau orientiert, hat man statt weiteren Reformen nun sogar ein »Belarus«-Szenario zu befürchten. Um diesen Zustand zu ändern, muss Brüssel vor allem dreierlei tun: Erstens sollte die Union strategische und ideelle Interessen dort entkoppeln, wo eine »Politik der Anreize« aufgrund der Natur des Regimes nicht funktionieren kann. Stattdessen sollte man einen echten geostrategischen Diskurs führen, der die Bedeutung der Östlichen Nachbarschaft auch jenseits der Regimefrage klärt. Zweitens muss Brüssel der eigenen Außenpolitik dringend eine echte machtpolitische Komponente hinzufügen, was vor allem über eine bessere Koordination auf mitgliedstaatlicher Ebene gelingen kann. Beispielsweise ist klar, dass eine Einbindung Kiews nur durch erhebliche europäische Unterstützung bei der Überwindung der strukturellen Abhängigkeit des Landes möglich ist. Drittens sollten v. a. die EU-Organe noch intensiver in die Zivilgesellschaft und die junge Generation in der Ukraine investieren – dies ist der langfristigen Demokratisierung schließlich zuträglicher als das aufwendige Abringen von Reformen, die am Ende doch nicht umgesetzt werden.

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