Der einfachste Ausweg aus der Krise ist die Rückkehr zur Verfassungsreform von 2004

Von Olexiy Haran (Kiew)

Es wird behauptet, dass sich der Dialog zwischen der Regierung und der Opposition normalisiert hat. Die Tatsache, dass das Parlament die brutalen, mit allen möglichen Verstößen verabschiedeten »Gesetze« vom 16. Januar für ungültig erklärt hat, ist der erste kleine Sieg der Opposition. Der Rücktritt der Regierung von Ministerpräsident Asarow kommt in Wirklichkeit zu spät. Dieser hätte am 30. November 2013 erfolgen sollen.

Repressionen werden besonders in den Regionen immer noch fortgesetzt. Die Regierung benutzt die eigenen Bürger als Geiseln. Genau deswegen wurde das Amnestiegesetz zur Freilassung der inhaftierten Demonstranten in »Gesetz der Geiseln« umbenannt (da die Regierung der Opposition angeboten hatte, die Freilassung der inhaftierten Demonstranten gegen die Räumung von Regierungsgebäuden zu tauschen).

Ich glaube, dass die Opposition richtig handelt, indem sie die Verhandlungen fortsetzt. In diesem Fall zeigt sich die Opposition als ausgewogen und moderat. Trotzdem sollte der Druck von unten auch in den Regionen fortgesetzt werden. Wir müssen verstehen, dass wir den Versprechungen von Präsident Janukowytsch keinen Glauben schenken dürfen. Es ist deshalb notwendig, dass die westlichen Staaten endlich vom Reden zum Handeln übergehen. Einreiseverbote für einige Regierungsmitglieder sind erst der erste Schritt in diese Richtung. Diese Sanktionen hätten bereits am 30. November 2013 erfolgen sollen. Aber es ist zumindest etwas. Die Machthaber spüren bereits die Androhung der Sanktionen.

Das Positive daran ist, dass Politiker der Partei der Regionen endlich angefangen haben zu verstehen, welche Konsequenzen dies für sie haben kann, und nun über die Möglichkeiten einer Rückkehr zur Verfassungsreform von 2004 nachdenken. Andererseits nutzt die Regierung die Verhandlungen mit der Opposition in Wirklichkeit aber nur, um diese mit Vorschlägen abzuspeisen, die entweder nicht erfüllbar sind oder eine Falle darstellen, wie etwa das Angebot zur Räumung des Maidans oder zur Beteiligung an der Regierung unter der Bedingung, sich mit der absoluten Kontrolle durch den Präsidenten einverstanden zu erklären.

Oder lasst uns, wie Leonid Krawtschuk vorgeschlagen hat, eine Kommission zur Verfassungsreform bilden und erst einmal einfach weitermachen wie bisher. Der Vorschlag wäre zwar sinnvoll, wenn die Situation entspannter wäre, jetzt aber reicht die Zeit nicht aus für langanhaltende Diskussionen und Verhandlungen. Es sollte eine schnelle Rückkehr zur reformierten Verfassung ermöglicht werden. Es gibt zwei Wege, um das zu erreichen: erstens, indem 300 Abgeordnete im Parlament zustimmen; zweitens, indem das Verfassungsgericht binnen eines Tages seine frühere Entscheidung zurücknimmt, dies mit den geänderten Umständen begründet und unverzüglich die ursprüngliche Version des Verfassungsgesetzes in der Fassung von 2004 wieder in Kraft setzt. Dies wäre ziemlich leicht zu erreichen, wenn der politische Wille da wäre. Politischen Willen gibt es aber nur dann, wenn Janukowytsch sich bedroht fühlt und gleichzeitig eine Garantie erhält, dass er persönlich und auch die Geschäfte seines Sohnes unbeschadet davon kommen werden. Ich denke, das wäre es wert.

Natürlich gäbe es keine juristischen Bedenken, wenn eine Zweidrittel-Mehrheit des Parlaments (300 Stimmen) erreicht werden würden. Aber in Anbetracht des Umstandes, dass das Land am Rande eines Blutbads steht, muss man sich manchmal auf politische Methoden einlassen. Deswegen ist, meiner Meinung nach, die Idee des Verfassungsakts aufgekommen. Die Verfassungsreform von 2004 war durch das Verfassungsgericht außer Kraft gesetzt worden, was absolut illegal war, und das Parlament hatte sich an dieser Entscheidung nicht beteiligt. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts wurde einfach auf der Internetseite des Parlaments veröffentlicht. Es gab offensichtliche Gesetzesverletzungen. Deswegen entstand die Idee, durch die Zustimmung der Parlamentsmehrheit die alte, illegal außer Kraft gesetzte Verfassung wieder in Kraft zu setzen.

Vielleicht ist dies aus rechtlicher Sicht keine hundertprozentige Lösung, aber unter derartigem Zeitdruck, wo jede Minute zählt, halte ich diese Entscheidung für einen wichtigen Schritt zum Ausstieg aus der Krise und zur Wiederherstellung der Rolle des Parlaments. Der Westen betont immer wieder, dass Janukowytsch durch demokratische Wahlen zum Präsidenten gewählt wurde, wir sollten uns aber auch erinnern, dass er am Anfang über viel weniger Macht verfügte, als er später durch die Rückkehr zur Verfassung von 1996 erhalten hat.

Der zügige Ausstieg aus der Krise verlangt die Bildung einer neuen Regierung, die dem Parlament untergeordnet wird, während die bewaffneten Einheiten wie Militär und Polizei nicht Präsident Janukowytsch, sondern der neu formierten Mehrheit im Parlament unterstellt werden.

Wenn man im Rahmen der aktuellen Verfassung von einer Regierung spricht, ist die Rolle der Opposition einfach eine Fiktion. Ich weiß, dass im Westen gesagt wird: »Bildet eine Koalitionsregierung.« Es wäre jedoch einer solchen Regierung unmöglich, einen Minister oder seinen Stellvertreter ohne Zustimmung des Präsidenten Janukowytsch zu ernennen. Außerdem besitzt der Präsident die Macht jeden Minister in jeden beliebigen Moment wieder abzusetzen.

Ich möchte erneut betonen, wenn es um grundsätzliche und nicht nur um kosmetische Veränderungen geht, muss eine neue Regierung im Kontext der Rückkehr zur Verfassung von 2004 gebildet werden.

Das Einzige, was Janukowitsch beeinflusst, ist die Kraft des Protestes. Wir haben bereits gesehen, wie er die Europäische Union und die Mission von Cox und Kwaśniewski herausgekickt hat, die mindestens dreißig Mal in die Ukraine gereist war. Er hat sie einfach hereingelegt. Dieser Begriff charakterisiert Janukowytsch. Deswegen kann nicht einmal Europa eine Garantie für die Einhaltung von Vereinbarungen sein. Zwei Kräfte sollten sich zu diesem Zweck vereinen: die Kraft von unten und der Druck des Westens.

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