Ost-West-Spaltung verfolgt Ukraine erneut

Von Hrant Kostanyan, Dmytro Panchuk (beide Ghent)

Die jüngsten Proteste gegen die Regierung gingen zwar hauptsächlich von West- und Zentralukrainern aus, auch im Osten und Süden haben jedoch einige Menschen ihre Passivität überwunden und sich dem Aufstand angeschlossen. Dennoch kann die Führung des Landes noch genauso wie während der Orangen Revolution der Strategie des »Teile und herrsche« folgen, indem sie die regionalen Brüche in der ukrainischen Wählerschaft nutzt, um die Langlebigkeit des Regimes zu sichern.

Es überrascht nicht, dass die Janukowitsch-Regierung es geschafft hat, gegen fast alle Versammlungen der Opposition – einschließlich der jüngsten Pro-EU- und Anti-Diktatur-Proteste – ihre eigenen »Anti-Proteste« mithilfe ihrer zwar bröckelnden, aber noch immer mächtigen Wählerschaft, hauptsächlich aus dem Osten des Landes, zu organisieren. Die propräsidentielle Partei der Regionen kaufte zwar viele Menschen ein oder zwang sie unter Androhung des Verlusts ihrer Arbeitsplätze, an den Kundgebungen teilzunehmen, einige gingen jedoch auch freiwillig, um die Politik des gegenwärtigen Präsidenten zu unterstützen. Laut Umfragen des Rasumkow-Zentrums würden selbst nach der Verabschiedung der berüchtigten antidemokratischen Gesetze am 16. Januar 20 Prozent der ukrainischen Bürger (hauptsächlich aus dem Osten) die Diktatur der Demokratie vorziehen (siehe Grafik 3 auf S. 21). Eine andere soziologische Forschungsgruppe aus der Ukraine, »SOCIS«, stellte fest, dass noch etwa 20 Prozent des Landes den gegenwärtigen Präsidenten Janukowitsch unterstützt hätten, wären in der letzten Woche des Jahres 2013 Wahlen abgehalten worden (siehe Grafik 5 auf S. 21). Diese Zahl liegt etwas über den Beliebtheitswerten jedes einzelnen Oppositionskandidaten, sollten sie alle zur Präsidentschaftswahl antreten. Obwohl jeder der potentiellen Oppositionskandidaten Janukowitsch bei der Stichwahl mit großem Abstand besiegen würde, ist die Basis seiner Unterstützer im Osten und Süden doch erheblich.

Dieser Umstand hat mehrere bedeutsame Folgen für die zukünftigen innerukrainischen Entwicklungen. Erstens verschafft er Janukowitsch trotz der heftigen Proteste, die sich in Kiew und zunehmend auch in anderen Regionen erheben, noch immer einige Verhandlungsmasse. Natürlich sind die Nichtanhörung der Mehrheit des Landes, die auf dem Maidan repräsentiert ist, und der mehrfache Einsatz brutaler Gewalt nicht zu rechtfertigen. Dennoch erlaubt es sein politischer Rückhalt im Osten der Ukraine Janukowitsch immer noch, die Forderungen der Opposition abzulehnen, da sie nicht die Interessen des gesamten Landes repräsentieren. So kann die Führung der Ukraine den Maidan immer noch hinter einem Schleier der Legitimation bekämpfen.

Zweitens können ein kürzlich bei Russland aufgenommener 15-Milliarden-Dollar-Kredit und ein günstiger Gasvertrag mit Russland mit Janukowitschs Bestreben erklärt werden, seine Wahlunterstützung im Osten zumindest bis zu den Präsidentschaftswahlen 2015 zu sichern. Während der letzten vier Jahre von Janukowitschs Präsidentschaft begann seine Regierung, immer schwerer wiegende Haushaltsdefizite anzuhäufen und die Auslandsschulden zu erhöhen. Das russische Geld soll mit diesen Schulden verrechnet werden und einen Zahlungsausfall des Landes zumindest für den Augenblick abwenden. Nebenbei bemerkt vermuten viele Beobachter in der Ukraine und im Westen, dass Janukowitsch mit Putin einen Deal gemacht hat, der den Beitritt der Ukraine in die von Russland geführte Zollunion einschließt. Die Rhetorik der engeren kulturellen und wirtschaftlichen Bindungen zu Russland kommt auch Geist und Herzen der östlichen Ukrainer entgegen. Das bedeutet jedoch, dass die Regierung ihre Beliebtheit bei der Wählerschaft schnell verlieren könnte, sollte sie ihre wirtschaftlichen Ziele nicht erreichen.

Last but not least denken russische Medien und Offizielle wie auch einige Anhänger der Partei der Regionen in der Ukraine immer häufiger über die Möglichkeit einer territorialen Teilung der Ukraine aufgrund der politischen Krise nach. Die jüngsten separatistischen Rufe von der Krim und aus einigen ostukrainischen Städten ergänzen dieses Bild. Viele Beobachter glauben, dass es unabsehbare Konsequenzen für die Souveränität des Landes haben könnte, sollten die Parteien im Fall eines erneuten Ausbruchs der Gewalt nicht zu einem Kompromiss finden. Angesichts der relativ hohen Zahl von Unterstützern für Janukowitschs Politik im Osten, von denen einige dem amtierenden Regime treu ergeben zu sein scheinen, ist dieses pessimistische Szenario ansatzweise bereits der Fall. Entscheiden sich das Team des Präsidenten und die Opposition allerdings für die Suche nach einem Konsens, könnte es noch abgewendet werden.

Infolge interner Uneinigkeiten zwischen ihren Mitgliedstaaten hat die EU ihre Ankündigungen bislang noch nicht in Taten umgesetzt. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten ist der Überzeugung, dass die angestrebten Sanktionen keinen positiven Effekt haben werden. Die jüngsten Entwicklungen in Kiew führen für die EU-Mitgliedstaaten jedoch zu zusätzlichem Handlungsdruck. Während sie über intelligente Sanktionen nachdenkt, sollte die EU sofort ihre Unterstützung der ukrainischen Zivilgesellschaft, die auf dem Maidan und über ihn hinaus für eine demokratische und europäische Ukraine kämpft, verstärken. Angesichts der aktuellen Spekulationen über das Andauern von Russlands Bekenntnis zu dem 15-Milliarden-Dollar-Deal nach einem Rücktritt der Regierung sollte die EU außerdem nach Wegen suchen, um die Ukraine auch in ihren wirtschaftlichen Kämpfen zu unterstützen.

Am Ende des Tages kann es keinen klaren Sieg im Kampf zwischen den proeuropäischen und den prorussischen Regionen der Ukraine geben. Im Zuge der Ausweitung der Demonstrationen über das ganze Land weicht die Ost-West-Spaltung allerdings Schritt für Schritt der Konfrontation des ukrainischen Volks mit seinen Autoritäten. Auch wenn die regionale Spaltung im Hintergrund bestehen bleiben wird, gibt es darüber, dass das Janukowitsch-Regime eine Bedrohung für Freiheit, Reformen und Einheit in der Ukraine ist, einen stärker werdenden Konsens zwischen allen Ukrainern und – in zunehmendem Maß – den westlichen Demokratien.

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