Russische Außenpolitik: alte und neue Handlungsmuster im Konflikt mit der Ukraine

Von Regina Heller (Hamburg)

Zusammenfassung
In der Ukraine-Krise offenbart Russland bereits bekannte, aber auch ganz neue außenpolitische Handlungsmuster. Nach der Absetzung Wiktor Janukowytschs setzt Moskau alles daran, erstens, auf der Krim zügig Fakten zu schaffen, zweitens, westliche Bemühungen um eine diplomatische Lösung der Krise zu blockieren, und, drittens, in der Ostukraine mit Hilfe einer Medienkampagne die Bevölkerung dort weiter zu politisieren und gegen die neuen Kräfte in Kiew zu mobilisieren. Während all dies durchaus bekannten außenpolitischen Mustern folgt, deuten die Entschlossenheit, mit der der Kreml in der Krim-Krise seine militärische Stärke demonstriert, sowie die Tatsache, dass westliche Kritik an Moskaus Vorgehen im Kreml scheinbar vollkommen ignoriert wird, auf neue Verhaltensmuster hin. Dennoch geht es Moskau nicht zuletzt auch darum, sich im Westen Gehör für die eigene Sicht der Dinge zu verschaffen – mit vielleicht verheerenden Folgen.

Alte Muster: Fakten schaffen, Krisendiplomatie blockieren, Desinformation streuen

Ob bei der Besetzung des Flughafens von Pristina 1999, dem überfallartigen Einmarsch in Südossetien 2008 oder nun der handstreichartigen, wenn auch inoffiziellen Besetzung der Krim – in allen Fällen schafft Russland, oft mit Hilfe rasch etablierter Marionettenregierungen, Sondertruppen und auch des Militärs, zügig Fakten. Zwar erscheinen diese Aktionen stets wohl orchestriert und durchgeplant, doch sie sind weniger Ausdruck langfristiger strategischer Planung als vielmehr Ad-hoc-Reaktionen auf unerwünschte Entwicklungen. Attraktiv ist eine solche Handlungsweise für Moskau deshalb, weil sie kurzfristig kaum Kosten verursacht und nur mit einem geringen Risiko des Scheiterns verbunden ist. Die längerfristigen Kosten werden ausgeblendet oder erst gar nicht wahrgenommen. In diesem Sinne treibt die pro-russische Marionettenregierung auf der Krim die Abspaltung von der Ukraine zügig voran.

Zu erwarten ist, dass Moskau jegliche diplomatischen Bemühungen des Westens solange blockieren wird, bis das Referendum auf der Krim über den Anschluss an Russland, das mittlerweile auf den 16. März 2014 vorverlegt wurde, stattgefunden hat. Ebensowenig wird Moskau substanzielle Zugeständnisse machen, bevor der Westen sich von der von Russland als illegitim angesehenen Übergangsregierung in Kiew distanziert hat. Auch dies ist ein bekanntes Muster russischer Außenpolitik: Krisendiplomatie zu blockieren, wenn Moskau von unerwünschten Entwicklungen überrollt wird und die eigenen Interessen gefährdet zu sein scheinen. Proaktive Schritte, die eine Deeskalation der Lage in der Ukraine in Gang setzen könnten, sind im Moment von Russland also nicht zu erwarten.

Ein weiteres bekanntes Instrument ist der Einsatz medialer Desinformation. Insbesondere in der Ostukraine wird von russischen Medien gezielt Stimmung gegen die neue Regierung in Kiew gemacht. Es scheint zwar zunächst nicht das Ziel Moskaus zu sein, ein Auseinanderbrechen der Ukraine herbeizuführen oder gar den Anschluss der Ostukraine an Russland zu forcieren, wohl aber sollen die Fliehkräfte in der Ukraine verstärkt werden. Am Ende könnte eine ukrainische Föderation stehen, deren weitgehend autonome Gebiete selbst bestimmen, wohin sie sich ausrichten wollen.

Neue Entschlossenheit: militärische Drohgebärden und Ignorieren westlicher Kritik

Neben den bereits bekannten Handlungsmustern lassen sich jedoch auch neue Verhaltensweisen ausmachen. Auffallend ist vor allem, wie schnell Moskau das Militär als Mittel zur Verteidigung der Interessen ethnischer Russen in der Ukraine ins Spiel gebracht hat. Im Georgienkrieg hatte Russland mit der Mobilisierung des Militärs noch bis zum tatsächlichen Ausbruch von Gewalt in Südossetien abgewartet, im aktuellen Fall wurde mit der Entscheidung, Truppen auf die Krim und bei Bedarf auch ins ukrainische Kernland zu schicken, vorauseilend gehandelt.

Neu ist auch das demonstrative Desinteresse der russischen Führung an der Kritik aus dem Westen. Präsident Putin hat in seiner Erklärung vor der russischen Presse strikt darauf beharrt, dass Russland keinerlei völkerrechtswidriges Verhalten an den Tag gelegt habe und alle Schritte, einschließlich der Mobilisierung der Streitkräfte, rechtskonform seien. Stattdessen hat er dem Westen vorgeworfen, er bewege sich mit der Unterstützung der Übergangsregierung in Kiew außerhalb des Rechts. Auch die Androhung und Verhängung von Sanktionen seitens des Westens scheinen nur mäßige Wirkung zu zeigen. Putin fühlt sich im Recht, trotz des Verstoßes gegen das Budapest-Memorandum von 1994 und der Verfassungswidrigkeit des Referendums auf der Krim. Er inszeniert sich nach außen als unverwundbar und will zeigen, dass er die Lage unter Kontrolle hat.

Russlands Tragik

Putin und andere offizielle Regierungsvertreter in Moskau haben immer wieder beteuert, es gehe ihnen weder um die Destabilisierung der Ukraine noch darum, einen neuen Kalten Krieg in Europa zu entfachen. Russland sei an einer stabilen und prosperierenden Ukraine interessiert und man wolle auch keine Trennlinien in Europa, sondern gemeinsam mit dem Westen an einem vereinten Europa bauen. Der Westen mag diese Botschaft in der Vergangenheit nicht gehört und auch nicht ernst genug genommen haben. Mit seinem Vorgehen will Putin erzwingen, dass Russlands Anliegen nun endlich gehört und respektiert wird. Doch eine Politik, die eine konstruktive Lösung für die Ukraine nicht zulässt und dabei die Konfrontation sowohl mit Kiew als auch mit dem Westen förmlich zu suchen scheint, ist dafür kaum geeignet. Sie provoziert das Gegenteil von dem, was Putin so sehr beteuert: Instabilität und Chaos statt Stabilität und Wohlstand in der Ukraine und eine weitere Entfremdung vom Westen statt gegenseitigem Respekt und Vertrauen.

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