Die Maidan-Revolution in der Ukraine: Gewaltloser Widerstand in gewaltgeladener Situation

Von Maciej Bartkowski (Baltimore, USA)

Zusammenfassung
Der massive Gewalteinsatz des Regimes in seinen letzten Tagen war kein Zeichen der Stärke. Er zeigte seine grundlegende Schwächung und war ein verzweifelter Versuch, den eigenen Niedergang abzuwenden. Janukowytschs Sturz gingen drei Monate der Mobilisierung des Volkes und ziviler Widerstandsaktionen voran, darunter die kollektive Weigerung, den politischen Status Quo nach dem 30. November anzuerkennen. Bei dem von Hunderttausenden Protestierenden getragenen Konflikt ging es weniger um physische Kapazitäten (hier war die Regierung den Protestierenden klar überlegen) als um Mittel des politischen Kampfs, über die das Regime effektiv delegitimiert, die Bürger mobilisiert und die wichtigsten Verbündeten des Regimes zum Seitenwechsel bewogen werden konnten. Diese Prozesse waren nicht das Ergebnis von Aktionen der prominent sichtbaren gewalttätigen Minderheit – deren spektakuläres Werfen von Molotowcocktails in der Berichterstattung der westlichen Medien für die Aktionen der gesamten Bewegung stand –, sondern die Folge einer Organisierung des Volks, die den schwächsten Punkt in der Abwehr des Regimes angriff – dessen schwindende Fähigkeit, den freiwilligen oder erzwungenen Gehorsam der Bevölkerung sicherzustellen.

Gewaltlose Organisierung der Maidan-Revolution

Die Ukrainer engagierten sich vom Beginn der Kiewer Proteste in der zweiten Novemberhälfte an bis zum 21. Februar, dem Tag, an dem Janukowytsch aus der Hauptstadt floh, ununterbrochen – in einem beeindruckenden Aufgebot gewaltloser Aktionen, die das Regime wohl stärker als sämtliche von den Radikalen angewendete Gewalt getroffen und in die Knie gezwungen haben.

Der Maidan in Kiew bestand aus mehreren Tausend regulären Campern und aus Zig- und Hunderttausenden von weiteren Personen, die sich ihnen während der größeren Demonstrationen an den Wochenenden anschlossen. Der Maidan war nicht nur eine physische Besetzung städtischen Raums, sondern auch ein tiefgehendes psychologisches Phänomen, das Gefühle der Menschen umfasste – Liebe fürs Land, Wut aufs Regime, Scham über die Art und Weise, wie die Regierung ihre Bürger behandelte, Hoffnung, dass sich das organisierte Volk letztlich durchsetzen würde. So betrachtet ging es beim Maidan um die Befreiung gefangener Gedanken und Gefühle – in geistigem wie praktischem Sinne.

In den drei Monaten des Widerstands gegen das Janukowytsch-Regime schufen die Ukrainer eine wahrhaftig abwägende und selbstorganisierte Polis. Über hundert Wissenschaftler nahmen an dem auf dem Maidan errichteten Wissenschaftscamp teil. Die Offene Maidan-Universität hielt während der Besetzung Hunderte von Vorlesungen und Diskussionsforen ab, um die Menschen zu informieren und zu bilden. Bildung hatte auf dem Maidan die Organisierung von Widerstand zum Gegenstand, aber auch das Reden in der Öffentlichkeit, die Organisierung von Dienstleistungen, die Verbesserung sozialer und komunikativer Fähigkeiten und den wirksamen Einsatz Sozialer Medien.

Schnell wurde ein Netzwerk zur Unterbringung aufgebaut, um Aktivisten von außerhalb Kiews bei der Suche nach einer Unterkunft zu helfen. Dafür stellten Kiewer Bürger Hunderte von Schlafplätzen in ihren Privatwohnungen zur Verfügung. Rechtsanwälte riefen die Initiative Euromaidan SOS ins Leben, die festgenommenen Aktivisten rechtliche und finanzielle Unterstützung zukommen ließ. Viele Menschen kamen und boten Geld, Lebensmittel, Kleidung, Decken und Zelte an. Suppenküchen, die von Hunderten von Freiwilligen effektiv organisiert wurden, waren dafür verantwortlich, jeden Tag Essen für Tausende von Maidan-Campern zuzubereiten und auszugeben. Unter dem Schutz der nationalen Krankenhausinitiative wurden medizinische Einrichtungen aufgebaut, die Medizinstudenten und Ärzte betrieben. Einige waren mit Geräten ausgestattet, um die sie sogar die lokalen Krankenhäuser beneiden konnten.

Die Musik des Widerstands war auf dem Maidan laut zu hören. Eines der Lieder, »Vitya Ciao« (»Ciao, Wiktor«, eine deutliche Anspielung auf Wiktor Janukowytsch), wurde Anfang Dezember auf Youtube gepostet, wo es ein reges Eigenleben entwickelte und bald fast eine Million Mal angeguckt worden war. Der Geist des singenden Maidans war ansteckend. In der Kiewer U-Bahn hielten die Menschen zu Hunderten an, um die Nationalhymne zu singen, die auch auf dem Maidan immer wieder zu hören war. Ein anderes Video, »Ich bin Ukrainerin«, brachte es auf über 7,5 Millionen Klicks: Es zeigt eine junge Frau, Julia Maruschewska, die auf dem Maidan steht und sehr emotional über Widerstand, Repression und die Ausdauer der Aufständischen spricht, während im Hintergrund der Lärm der Proteste zu hören ist.

Der Maidan war nicht nur der Platz des Widerstands der Gesunden und körperlich Fitten. Unter den Freiwilligen an der Essensausgabe waren auch blinde Aktivisten und Protestierende mit Behinderungen trugen Schilder mit der Aufschrift »Erschießt Ihr uns auch?« durch die Straßen – eine Referenz auf die Polizeigewalt, die im Januar zum Tod von Aktivisten geführt hatte. Bilder von ihnen wurden weltweit geteilt.

Außerdem wurde die Maidan-Revolution von einem großen Netzwerk alternativer Medien unterstützt, darunter unabhängige Onlinemedien wie Hromadske TV, UA Stream TV und Espreso TV, auf den Maidan bezogene Facebookseiten wie Euromaidan, Hromadski Sector Maidanu und Automaidan sowie zahlreiche Freiwillige, die Broschüren und Flugblätter mit unzensierten Informationen über die Maidan-Revolution, Repressionen und Forderungen der Bevölkerung in Städten im Osten der Ukraine verteilten.

Zu einem frühen Zeitpunkt des Widerstands riefen die Ukrainer einen Boykott von Produkten und Firmen ins Leben, die dem regimetreuen Oligarchen oder Abgeordneten der Partei der Regionen gehörten oder die für enge Verbindungen zu ihnen bekannt waren. Die Organisatoren des Boykotts machten dafür über 200 Unternehmen aus der gesamten Ukraine aus. Die Boykottziele deckten eine große Bandbreite ab – von Finanzinstituten wie Banken über Restaurants, Hotels, Einkaufszentren, Autohäuser, Online- und Printmedien und alkoholische Getränke bis hin zu Molkereiunternehmen. Es wurde berichtet, dass die Preise einiger Produkte aufgrund eines Überangebots fielen. Von einigen Firmen wurde bekannt, dass sie ihre Produkte umpackten, um Kunden zurückzugewinnen – in Verpackungen ohne Firmenkennzeichnung. Der Verkaufsmenge einiger der boykottierten Produkte fiel in der Hauptstadt auf weniger als die Hälfte. Die wichtigste Facebook-Boykottgruppe hat fast 60.000 Mitglieder, die Facebookseite der Boykottgruppe einer einzelnen Stadt – Lwiw – fast 4.500.

Mit der Radikalisierung des Widerstands verlegten sich die Protestierenden zunehmend auf Aktionen, die stärker den Charakter von Störmaßnahmen trugen, dabei aber immer noch gewaltlos blieben: Sie brachten Regierungsgebäude in Kiew und anderen Regionen faktisch unter ihre Kontrolle und besetzten sie. Diese Taktik erwies sich als sehr hinderlich für die Behörden. Ohne erheblichen personellen Aufwand, der für Janukowytsch generell schwierig war, konnten die nun gut verbarrikadierten Gebäude nicht wieder eingenommen werden. Gleichzeitig war die Besetzung der zentralen Regierungsgebäude durch die Aktivisten ein starkes Signal an die Öffentlichkeit, dass die Regierung die Lage nicht unter Kontrolle hatte.

Die Aufständischen benutzten die besetzten Gebäude – besonders in Kiew – zur Unterstützung der größeren Besetzung des zentralen Platzes. Sie hielten dort medizinische Versorgung bereit und richteten Zentralen zur Essensverteilung sowie Aufwärmplätze für die kalten Wintertage ein. Außerdem entstanden dort Koordinations- und Kommunikationszentralen.

Als an den entscheidenden letzten Tagen des 20. und 21. Februar Sondereinsatzkräfte der Polizei Maidan-Aktivisten bekämpften, besetzten Aktivisten Schienen und blockierten so einen Zug mit 500 Sicherheitskräften, die aus Dnipropetrowsk kamen und auf dem Weg nach Kiew waren. Sie wurden zum Aussteigen und zur Rückkehr in ihre Kasernen gezwungen und erreichten ihr ursprüngliches Ziel nicht.In anderen Städten und Orten entlang der größten Straße der Ukraine zwischen Odessa und Kiew wurden Blockaden errichtet und Busse mit von der Regierung bezahlten Schlägern (titushki) gestoppt, die so zu Hunderten am Erreichen der Hauptstadt gehindert wurden. Einige Kiewer Taxifahrer waren dafür bekannt, unvermutet auftauchenden Schlägergruppen, die von außerhalb Kiews kamen, um Chaos zu verbreiten, Fahrten anzubieten, mittels derer sie diese dann direkt ins Zentrum des Maidans brachten und dem Widerstand der Bürger übergaben. Stadtteilbewohner gründeten Nachbarschaftswachen, um Schlägertrupps zu kontrollieren und außer Gefecht zu setzen. Allein in Kiew gab es elf Nachbarschaftswachen, die Facebookseiten zur Koordination einrichteten. Ihre Größe variierte von einigen Dutzend bis zu Hunderten und Tausenden Mitgliedern. Sie übertrafen die Anzahl der Schläger und zwangen diese, die Stadt zu verlassen.

Der Automaidan oder die ukrainische Auto-Bewegung, die auf ihrem Höhepunkt aus über tausend Autos bestand, erfüllte während des Widerstands wichtige Kommunikations-, Schutz- und Deeskalierungsfunktionen. Oft war der Automaidan Auge und Ohr des Maidan, indem er Bewegungen der Sicherheitskräfte und der als titushki bekannten von der Regierung beauftragten Schläger beobachtete. Etliche Male blockierte er Eingänge zu Geländen der Sicherheitskräfte und verhinderte so deren Einsatz. Er leitete die Blockade der nahe bei Kiew gelegenen Präsidentenresidenz in Meschigorje, die Janukowytsch stark erschütterte. Er schützte die Krankenhäuser, in denen die verwundeten Aktivisten behandelt wurden, gegen Polizei und Schläger. Außerdem brachten die Autoaktivisten Feuerholz, Essen, Wasser und Medizin auf den Maidan. Am Ende patrouillierte der Automaidan durch die Hauptstadt und andere ukrainische Städte, um zu verhindern, dass marodierende titushki Verwüstungen anrichteten. Die Patrouillen trieben Schläger in die Enge und brachten sie auf den Maidan, wo sie öffentlich angeklagt und umerzogen und letztlich gegen das Versprechen freigelassen wurden, nach Hause zurückzukehren – was die meisten von ihnen auch taten. Die Störtaktiken des Automaidan waren so effektiv, dass das Regime hart gegen ihn vorging. Mitglieder des Automaidan wurden von der Polizei regulär angehalten, worauf viele ihre Führerscheine verloren, während ihre Autos ausgebrannt, mutwillig beschädigt oder konfisziert wurden. Der Anführer des Automaidan wurde entführt und von Unbekannten schwer misshandelt.

Die Stärke des Maidan kam ursprünglich nur durch ein paar Hundert gewaltbereite Jugendlichen zustande, die darauf aus waren, Steine und Molotowcocktails zu schmeißen und improvisierte Waffen einzusetzen. Sie verbreiterte sich dann durch die tägliche Arbeit der Aktivisten und der normalen Bürger, die das Funktionieren des Maidan 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche aufrechterhielten – 92 Tage lang ohne Unterbrechung, während der gesamten Zeit des Widerstands.

Der radikale Flügel auf dem Maidan: eine strategisch stumpfe Waffe

Dem gewaltlosen Widerstand, dessen Zentrum die Besetzung des Maidan war, lag eine Taktik zugrunde, die die Ukrainer während der Orangen Revolution acht Jahre zuvor mit großem Erfolg erprobt hatten. Dieses Mal standen sie jedoch einem anderen Gegner gegenüber. Als klar wurde, dass sich Janukowytsch nicht ergeben wollte und im Gegenteil sehr gewillt war, Gewalt anzuwenden, begannen einige Protestierende die Effektivität der Disziplin zur Gewaltfreiheit und des friedlichen Protests in Frage zu stellen. Damit begann die Formierung eines radikalen Flügels bzw. einer gewalttätigen Minderheit in einer größtenteils friedlichen Bewegung, repräsentiert durch den rechten Sektor und einige Selbstverteidigungseinheiten auf dem Maidan. Ihre Aktionen wurden während der Scharmützel mit der Polizei in der Hauptstadt in der zweiten Januarhälfte sichtbar.

In einem einzigen Moment spielte der kleine radikale Flügel der größeren Bewegung zur Verteidigung des Platzes womöglich tatsächlich eine wichtige taktische Rolle – in den Straßenkämpfen gegen das gewalttätige Regime. Einige bezweifeln aber auch die taktische Bedeutung des Gewalteinsatzes durch die Opposition und sind nicht der Ansicht, dass die gewalttätige Minderheit die Menschen effektiv geschützt und Provokateure des Regimes erfolgreich vom Maidan ferngehalten hat. Auch dass diese Minderheit wirkungsvoll Aktionen geplant und durchgeführt hat, die die allgemeine Sicherheit auf dem Maidan und das Leben der kaum trainierten Protestierenden, die der Polizei mit Molotowcocktails, Steinen und brennenden Autoreifen entgegentraten, nicht aufs Spiel setzten, wird bezweifelt. So spielte etwa der Zug zur Werchowna Rada am 18. Februar, den einige radikale Elemente innerhalb der Bewegung organisiert hatten, den Sicherheitskräften in die Hände und lieferte dem Regime einen Vorwand, um den bereits vorbereiteten Frontalangriff auf den Maidan zu starten und Agents Provocateurs ins Camp einzuschleusen.

Die kurzfristigen Erfolge einer kleinen gewalttätigen Gruppe können auf taktischer Ebene zwar verteidigt werden, in strategischer und längerfristiger Perspektive hat die gewalttätige Minderheit das Janukowytsch-Regime jedoch weder geschwächt noch zu Fall gebracht. Die Zahl der Protestierenden auf dem Maidan ging vom 18. bis zum 20. Februar, auf dem Höhepunkt der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Polizei, aber zurück, sie fiel von mehreren Zehntausend auf etwa 5.000. Die Gewalt von beiden Seiten stärkte die Beteiligung der Bürger also nicht, sondern schwächte sie.

Ein anderes Beispiel: Dass das Regime in der zweiten Januarhälfte in die Teilnahme an Verhandlungen zusagte, nachdem auf beiden Seiten der Barrikaden Gewalt zum Einsatz gekommen war, bejubelten einige Aktivisten als klaren Sieg der radikalisierten Maidan-Gruppen. Mittlerweile ist bekannt, dass Janukowytsch an den Verhandlungen nicht in gutem Willen teilgenommen hat, sondern dass er die Waffenruhe vielmehr nutzte, um ein gewaltsames Vorgehen im Februar vorzubereiten. Sollte es die gewalttätige Minderheit gewesen sein, die Janukowytsch zur Aufnahme von Verhandlungen mit der Opposition gezwungen hat, dann hätte sie einen Pyrrhussieg errungen.

Der radikale Flügel ist letzten Endes gar nicht so radikal

Das positive Bild, das in der Öffentlichkeit von den Radikalen vom Maidan vorherrscht, ist auch durch deren selbstbeherrschten Gestus zustande gekommen. Trotz des Drangs, gewaltsam gegen Polizei und Schläger vorzugehen, gab es bei den Radikalen tatsächlich ein beträchtliches Maß an Disziplin zur Gewaltfreiheit. In einigen entscheidenden Momenten während des Kampfs in Kiew legte sogar der Führer des Rechten Sektors, Dmitri Jarosch, Selbstbeherrschung an den Tag, etwa als er am 9. Februar eine seiner wichtigsten Botschaften herausgab. In ihr rief er zu einem entschiedenen Vorgehen gegen das Regime auf, das sich nicht kompromissbereit zeigte und nicht alle politischen Gefangenen frei- und alle Strafanzeigen fallen ließ. Diese Botschaft bedeutete das Ende der informellen Waffenruhe, die seit Ende Januar zwischen Regierung und Opposition in Kraft gewesen war. Man sucht in ihr vergebens nach dem Aufruf, das Regime mit Waffengewalt, Molotowcocktails und anderen gewaltsamen Akten oder durch die Androhung physischer Gewalt herauszufordern. Die Radikalität der Botschaft lag allein in Jaroschs Aufruf, landesweit zur Blockierung von Regierungsgebäuden zu mobilisieren. Der Führer des radikalsten Flügels der Bewegung rief in seiner Botschaft also zu einer Fortführung des zivilen Widerstands mittels unruhestiftender, aber dabei gewaltloser Methoden auf – auch wenn er sie nicht so nannte.

Häufig beeindruckte die Radikalität des radikalen Maidan-Flügels sogar weniger als die Aktionen gewalttätiger Gruppen innerhalb anderer großenteils gewaltloser Kämpfe. Zum Beispiel machen der Afrikanische Nationalkongress (ANC) und sein erklärtermaßen bewaffneter Widerstand gegen das Apartheidsregime einen stärkeren Eindruck als der radikale Flügel auf dem Maidan, obwohl die Herausforderungen der bewaffneten Staatsgewalt militärisch ähnlich chancenlos waren. In beiden Fällen – dem des ANC und dem der gewalttätigen Minderheit auf dem Maidan – setzten die Gruppen wesentlich mehr Theatralik und »Gewaltikonographie« (um einen Ausdruck des ehemaligen ANC-Strategen und Journalisten Howard Barrel zu verwenden) ein, um die Moral der Teilnehmer zu steigern, ihnen militärähnliche Disziplin beizubringen und ihren Ruf zu erhöhen, als dass sie sich in ernsthafte militärische Planungen oder einen bewaffneten Zusammenstoß mit dem Gegner begeben hätten.

Letzten Endes waren die radikalen Aktionen einer relativ kleinen Anzahl von Personen auf dem Maidan ziemlich begrenzt, verglichen etwa mit anderen Revolutionen. Im Verlauf der ägyptischen Revolution von 2011 wurden während der 17 Tage des Aufstands in den Zusammenstößen mit Protestierenden mehr als 300 Polizisten getötet. Die tunesische Revolution forderte während der 28 Tage dauernden Revolte das Leben von 20 Polizisten und Soldaten. Zum Vergleich: Während der 92 Tage dauernden Maidan-Revolution starben 16 Polizisten. Die Zahl der getöteten Aktivisten ist im Durchschnitt vier bis sechs Mal so hoch wie die der getöteten Sicherheitskräfte. Die Revolutionen in Ägypten und Tunesien werden von vielen immer noch als weitgehend gewaltlos angesehen – zum einen wegen des gewaltlosen Verhaltens der Mehrheit der Demonstrierenden während dieser Aufstände und zum anderen weil die Kräfte der gewaltlosen Organisierung und Mobilisierung von Millionen (und nicht die Gewalt einiger weniger) als ausschlaggebend dafür betrachtet, dass die führenden Köpfe der Regime gezwungen waren, aufzugeben und zu gehen. In diesem Sinne hat die Maidan-Revolution ähnliche Dynamiken gezeigt wie ihre ägyptischen und tunesischen Pendants.

Die Machtdynamiken des Volks haben Janukowytsch bezwungen

Tödlich getroffen haben Janukowytsch letzten Endes nicht die physischen Angriffe der Radikalen, die Molotowcocktails auf die Polizei geworfen haben, oder andere Gewaltandrohungen gegen den nunmehrigen Expräsidenten. Letzten Endes war es vielmehr die mehr als zwei Monate währende Arbeit der Bürger an sorgfältig eingefädelten gewaltlosen Aktionen, an Organisierung und Mobilisierung, die das Regime wirklich verwundbar gemacht hat. Diese Arbeit ließ die Zahl der Überläufer aus den Reihen der Verbündeten des Regimes steigen und stellte sicher, dass es jedesmal einen Gegenschlag gab, wenn der Staat zu ausgedehnteren Repressionen griff, während eine wachsende Zahl gewaltloser Taktiken die fortdauernde Mobilisierung und die Beteiligung der normalen Bürger am Widerstand sicherstellte.

Gegenschlag

Jedesmal wenn Gewalt und Repression des Regimes in größerem Umfang zum Einsatz kamen, scheinen sie nach hinten losgegangen zu sein, weil die Öffentlichkeit die Aktionen des Regimes angesichts der physischen Bedrohung, die die Aktivisten darstellten, stets als extrem ansah. Am 30. November wurde der Widerstand schlagartig wachgerüttelt, als die Polizei Gewalt gegen Studierende anwendete, die Teil eines friedlichen Sit-ins waren. Die gewaltlose Bewegung wuchs, es gab erstmals politische Überläufer. Die Verabschiedung der antidemokratischen Gesetze am 16. Januar und der daraus folgende übermäßige Einsatz von Gewalt gegen Protestierende, durch den einige von ihnen getötet wurden, ließen den Widerstand und den internen Druck auf Janukowytsch anwachsen. Er war schließlich gezwungen, den Premierminister zu entlassen und die repressiven Gesetze zurückzunehmen. Letztlich war die Gewalt vom 18. bis zum 20. Februar so unmäßig, dass ein erheblicher Teil der Parlamentsabgeordneten aus der regierenden Partei der Regionen diese verließ.

Übertritte

Überläufer, die die Reihen der Unterstützer des Regimes verließen, spielten für den letztendlichen Sturz Janukowytschs und seiner Verbündeten eine erhebliche Rolle. Diese Übertritte kamen zustande, weil das Regime nach und nach seine gesamte Legitimation an die größtenteils gewaltlose Bewegung verlor, die die staatliche Repression, deren Zielscheibe sie war, zu ihrem Vorteil wenden konnte. Denn die Öffentlichkeit sah den Gewalteinsatz der Regierung als unmäßig an, auch trotz des Auftretens des gewalttätigen Flügels in der Bewegung. Entsprechend folgten weitere Übertritte.

Nach und nach gab es Überläufer aus der Janukowytsch-Administration, unter ihnen auch solche aus dem diplomatischen Korps, aus der Polizei und aus der regierenden Partei. Letztere fanden schon statt, seit das Regime am 30. November brutale Gewalt gegen friedliche Studierende angewendet hatte. Janukowytschs eigener Stabschef reichte sofort nach dem brutalen Angriff vom 30. November seinen Rücktritt ein (der nicht angenommen wurde). Nachdem sein Vorgesetzter am 17. Januar die antidemokratischen Gesetze unterzeichnet hatte, trat er zurück. Etliche Bürgermeister und Gouverneure aus Regionen der gesamten Ukraine traten freiwillig zurück oder wurden von organisierten Bürgern zum Rücktritt gezwungen. Organisierte Bürger riefen auch die lokalen Sicherheitskräfte und die Armee in den Städten der Ukraine auf, öffentlich bekanntzugeben, ob sie auf Seiten der Bürger stehen. Im Dezember riefen Berkut-Offiziere im Ruhestand und Veteranen ihre aktiven Kollegen auf, sich verfassungskonform zu verhalten und keine Gewalt gegen Demonstrierende anzuwenden. Einige Berkut-Polizisten – vor allem in der Westukraine – verweigerten sich den Befehlen ihrer Vorgesetzten im Innenministerium. Andere traten in Kiew mit Schildern auf, die besagten, dass Janukowytsch nicht mehr ihr Präsident sei. Lokale Geschäftsleute weigerten sich, Steuern an die Regierung zu entrichten, mit der Begründung, mit ihrem Geld würden Schläger oder Repressionen der Polizei nicht bezahlt werden. Sogar Dnipropetrowsk, der Hochburg der Partei der Regionen, sagten sich zwei Geschäftsleute vom Regime los und genehmigten die Ausstrahlung der unzensierten Nachrichten des Kanal 5 über ihre lokalen Fernsehsender.

Am 20. Februar, während der entscheidenden letzten Tage des Janukowytsch-Regimes, schlossen sich 36 Mitglieder seiner regierenden Partei der Regionen der Opposition in der Werchowna Rada an und stimmten für das Gesetz, das den Rückzug der Sicherheitskräfte aus den Kiewer Straßen und ihre Rückkehr in ihre Standorte beschloss (aus ihnen wurden in den folgenden 24 Stunden mehr als 70). Janukowytsch konnte sich auf seine bis dahin relativ folgsame Mehrheit im Parlament nicht mehr verlassen. Einige Abgeordnete, hauptsächlich solche mit Verbindungen zur Wirtschaft, wurden möglicherweise dadurch beeinflusst, dass die US-Regierung und europäische Regierungen entschieden hatten, Reisebeschränkungen und finanzielle Sanktionen gegen einige Mitglieder der Janukowytsch-Clique zu verhängen. Am selben Tag floh Janukowytschs wichtigster Gefolgsmann, Innenminister Witalij Sachartschenko, nach Belarus, begleitet von Janukowytschs persönlichem Bankier Sergej Kurtschenko.

Für eventuelle harte Maßnahmen versuchte Janukowytsch Ende Januar erfolglos, vier Brigaden der ukrainischen Armee in die Kräfte der Inneren Sicherheit zu integrieren. Nach nur einem Tag distanzierte sich das Regime bereits öffentlich von der Politik, Armeeeinheiten in die Kräfte der Inneren Sicherheit zu integrieren – offensichtlich ein Resultat der starken Opposition innerhalb der Armee. Das Janukowytsch-Regime setzte jedoch seine Versuche fort, die Armee in den internen Konflikt zu involvieren. Als sich die Generäle der Armee letzten Endes weigerten, Janukowytschs Befehle, gegen die Protestierenden vorzugehen, weiter auszuführen, degradierte er am 19. Februar den gemeinsamen Generalstabschef und ernannte einen neuen Vorsitzenden – einen Marineadmiral –, den er für loyal gegenüber dem Regime hielt. Der neue Generalstabschef ordnete am 20. Februar die sofortige Mobilmachung von vier Elitebrigaden der Armee an (zwei von der Luftwaffe und zwei von der Marine) – insgesamt wurde die sofortige Entsendung von 2.500 bis 3.000 im Südosten der Ukraine stationierten Soldaten nach Kiew befohlen. Noch am Tag der Ausgabe dieses Befehls trat der Stellvertretende Generalstabschef aus Protest gegen die Versuche der Regierung, die Armee in einen internen Konflikt zu involvieren, zurück. Nur eine Brigade aus 500 Truppen verließ schließlich ihren Standort in Dnipopetrowsk, die anderen Brigaden verblieben in ihren Kasernen. Als die Werchowna Rada am späten Abend des 20. Februar das Gesetz über den Abzug der Sicherheitskräfte aus Kiew in Kraft gesetzt hatte, rechtfertigten die befehlshabenden Offiziere der Brigaden ihre Entscheidung, die Truppen nicht nach Kiew zu verlegen, mit diesem Gesetz.

Die Armee sagte sich exakt deshalb von der Regierung los, weil sie die Revolution nicht als Projekt einiger weniger Radikaler ansah, sondern als echte Vertretung der großen Mehrheit der Ukrainer, als ihre Beschwerden und ihre Hoffnungen. Außerdem lehnte die Armee den Einsatz von Gewalt gegen größtenteils friedliche Protestierende ab. Interessanterweise gelobte die gleiche Armee, die sich den Befehlen zur Gewaltanwendung gegen den Maidan verweigerte, 2004 während der Orangen Revolution tatsächlich, diese Revolution vor den Sicherheitskräften zu beschützen – sogar ohne Waffen. Janukowytsch hat seine Lektion nicht gelernt und beide Kämpfe verloren.

Die Ukrainer haben die Wirksamkeit zivilen Widerstands erneut gezeigt

Acht Jahre nach der Orangen Revolution haben die Ukrainer erneut bewiesen, dass sie ein korruptes und autoritäres Regime durch den organisierten Einsatz von zivilem Widerstand besiegen können. Einige werden die heldenhaften gewaltsamen Aktionen verherrlichen, die eine kleine Gruppe von Maidan-Kämpfern besonders in den letzten Tagen des Regimes gegen die Kräfte der Inneren Sicherheit realisierte. Auch wenn ihr Heldentum bei einigen für Genugtuung sorgen mag, so war es letzten Endes doch nicht die strategische Kraft, die das Janukowytsch-Regime zum Einsturz brachte. Das waren vielmehr die beeindruckende Mammutleistung ziviler Widerstandsaktionen, die Repressionen des Regimes gegen eine unbewaffnete Bevölkerung, die nach hinten losgingen, und die Befehlsverweigerungen der zentralen Unterstützergruppen des Regimes, die die Regierung im Kern erschütterten und Janukowytschs Ausreise herbeiführten.

Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt

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