»Dass die Ukraine nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens eine Freihandelszone mit der EU errichten wird, muss als Realität begriffen werden.« Mit diesen Worten gab sich der damalige Ministerpräsident Mykola Asarow am 28. August 2013 sicher, dass die Ukraine schon drei Monate später das Abkommen unterzeichnen würde. Im November jedoch gab derselbe Asarow bekannt, dass man die Verhandlungen auf unbestimmte Zeit aussetzen werde. Darauf folgten Euromaidan, Revolution, Krim-Annexion und Kreditzusagen aus dem Westen, und nun ist es doch soweit: Am 21. März unterzeichneten Arsenij Jazenjuk, EU-Ratspräsident Herman van Rompuy und die 28 Regierungschefs der EU den politischen Teil des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine – der wirtschaftliche Teil soll noch in diesem Jahr folgen.
Es ist das umfassendste Abkommen seiner Art. Vom Schutz der Grundrechte über Justizreformen und Energiesicherheit bis zu Annäherungen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik sieht der politische Teil interne Reformen und eine Angleichung an europäisches Recht in beinahe allen Bereichen nationaler Politik vor. Ob und wie weit die im Vertrag festgehaltenen Maßnahmen von EU und ukrainischer Regierung umgesetzt werden können, hängt von vielen innen- und außenpolitischen Faktoren ab. Angesichts vor allem der innenpolitischen Stabilität und des weiteren Vorgehens Russlands könnte sich der schnelle Abschluss des Abkommens als zumindest nicht förderlich erweisen.
Ein fragiles Gleichgewicht
Politische Stabilität, gesunde Staatsfinanzen und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bilden ein komplexes Gefüge gegenseitiger Abhängigkeit. Was beispielsweise von der politischen Stabilität und der Wirtschaftsleistung übrigbleibt, wenn mit überbordenden Sparanstrengungen die Staatsfinanzen saniert werden, kann man seit Jahren in Griechenland studieren. In der post-revolutionären Ukraine wird zurzeit ein atemberaubender Dreischritt versucht: Erstens muss eine neue legitime politische Ordnung errichtet werden. Zweitens ist ein Staatsbankrott abzuwenden (kurzfristig durch Kredite, langfristig durch fiskalische Konsolidierung), und drittens soll das Investitionsklima verbessert und die Wirtschaft in Schwung gebracht werden. Ein Rückschritt in einem der drei Bereiche kann eine rasante Abwärtsspirale aller anderen in Gang setzen – tatsächlich ist diese Spirale durch massive westliche Finanzhilfen gerade erst gestoppt worden. In dieser Situation erfordert jede Handlung ausgesprochene Umsicht. Die schnelle Unterzeichnung des Abkommens ist angesichts dessen ein unvorsichtiger Schritt.
Schenkt man den Ankündigungen der ukrainischen Regierung Glauben, so ist sie sich der Empfindlichkeit dieser Balance zwar bewusst: Sparmaßnahmen, Freihandelszone und Angleichung der Produktionsstandards sollen schrittweise eingeführt, die Anhebung des Gaspreises für Verbraucher (eine wichtige Bedingung des IWF) soll durch finanzielle Unterstützung für finanzschwache Haushalte flankiert werden. Ist es jedoch dem Vertrauen in die politischen Institutionen und damit der politischen Stabilität zuträglich, dass das Abkommen schon jetzt teilweise unterzeichnet wurde? Wäre dafür nicht Zeit bis nach der Präsidentschaftswahl gewesen? Eine solch vorschnelle und gleichzeitig weitreichende Entscheidung auf aktuell schwacher Legitimationsgrundlage lässt möglicherweise Sorgen aufkommen. Sorgen, dass eine Regierung, die nicht durch reguläre Wahlen an die Macht gekommen ist, die Chance nutzt und schnell so viel wie möglich durchsetzt, bevor Wahlen ihr einen Strich durch die Rechnung machen. Schließlich sprechen sich 66 Prozent der Befragten in Umfragen für vorgezogene Parlamentswahlen aus. Dreißig Prozent der Befragten stehen den ersten Schritten der neuen Regierung zudem abwartend gegenüber, weitere dreißig Prozent sehen sie kritisch (s. Grafik 3 auf S. 16).
Auch wenn der Regierungschef, der für die Unterzeichnung des Abkommens verantwortlich ist, nach der neuen Verfassung nicht mehr vom Präsidenten abhängt, ist die Präsidentschaftswahl ein wichtiger Stimmungstest und eine Möglichkeit, den eingeschlagenen Kurs zu bestätigen. Zumindest diese Wahl abzuwarten, hätte die Unterzeichnung des Abkommens weniger anfechtbar gemacht. Zwar unterstützten laut einer Umfrage im Februar 48 Prozent der Befragten die Unterzeichnung des Abkommens. Gleichzeitig aber hat sich der Anteil seiner Gegner seit April 2013 von 33 auf 38 Prozent erhöht. Das Mandat eines neu gewählten Präsidenten hätte der Entscheidung für das Abkommen eine belastbarere Grundlage gegeben.
Russlands selbsterfüllende Prophezeiung
Die schnelle Entscheidung zur politischen Assoziierung hat Russland außerdem ein Argument geliefert, mit dem es an seiner Version von der illegitimen Einmischung des Westens festhalten kann. Aus russischer Sicht hat die EU nun, was sie wollte. Und sie hat noch nicht einmal gewartet, bis sich die Lage im Land beruhigt und das Volk neue politische Vertreter gewählt hat. Mit seinem aggressiven Verhalten auf der Krim hat Russland freilich selbst dazu beigetragen, dass die Entscheidung so voreilig getroffen wurde. Wenigstens bis nach den Präsidentschaftswahlen abzuwarten, wäre aber zumindest ein taktisch kluger Versuch gewesen, russischen Interpretationen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die aktuelle Entwicklung jedoch kommt der russischen Regierung, die zurzeit mehr denn je auf Innenwirkung bedacht ist, sehr gelegen: Ihre Prophezeiung von der Ausdehnung westlicher Einflusszonen bis an Russlands Grenzen erfüllt sich mit der hastigen Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens wie von selbst. Ähnliches gilt übrigens für die erneute Annäherung Georgiens an die Nato. All dies kann die russische Führung dazu nutzen, weitere aggressive Schritte militärischer oder wirtschaftlicher Natur zu begründen und sich innenpolitische Unterstützung zu sichern – was wiederum dem fragilen Gleichgewicht politischer, fiskalischer und wirtschaftlicher Stabilität in der Ukraine nur abträglich sein kann.