Einleitung
Da in der Sowjetunion auf Grundlage der eigenen Produktion eine zentral koordinierte Erdgasversorgung zu extrem niedrigen Preisen erfolgte, führte der Übergang zum kommerziellen Erdgashandel zwischen den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu erheblichen Konflikten. Die Ukraine hat so mit Russland mehrfach Erdgaskonflikte ausgefochten, die zu russischen Lieferstopps in die Ukraine geführt haben. Da die Ukraine auf eine Einstellung der russischen Lieferungen – sowohl wegen Entnahmen für den eigenen Bedarf als auch wegen des Fehlens technischen Gases für den Betrieb des Leitungsnetzes – mit einer Reduzierung des Transits in die EU reagierte, kam es 2006 und 2009 zu einer vorübergehenden Einstellung der russischen Lieferungen in die EU.
Diese Bedeutung als Transitland hat die Ukraine regelmäßig ausgenutzt, um Russland zu Zugeständnissen zu zwingen. So kam es in der Vergangenheit zu illegalen Entnahmen aus Transitpipelines und zu einseitigen Zahlungsaussetzungen, in deren Folge die Ukraine Milliardenschulden für russische Erdgaslieferungen anhäufte.
Die russische Motivation für eine Eskalation der Erdgaskonflikte ist dabei regelmäßig eine zweifache. Einerseits versucht Gazprom schon seit einigen Jahren sein wirtschaftliches Ergebnis durch höhere Preise für Erdgaslieferungen in die GUS zu verbessern. Trotz eines deutlichen Rückgangs der Liefermenge hatte die Ukraine 2013 immer noch einen Anteil von über 10 % an Gazproms gesamten Erdgasexporten. Die Ukraine gehört damit zu den vier größten Importeuren russischen Erdgases, hinter Deutschland und etwa gleichauf mit Italien und der Türkei (siehe Tabelle 1 im unten folgenden Datenanhang). Andererseits hat die politische Führung Russlands die Abhängigkeit der Ukraine von russischen Erdgaslieferungen regelmäßig genutzt, um dieser angesichts ihrer Westorientierung die Abhängigkeit von Russland zu demonstrieren.
Während dem alten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch nach seiner Ablehnung des Assoziierungsabkommens mit der EU zum Jahresende 2013 von Russland noch ein Rabatt auf den Erdgaspreis gewährt wurde, fordert Russland nach der Absetzung Janukowitschs im Frühjahr 2014 von der Ukraine einen deutlich erhöhten Preis und eine umgehende Begleichung aufgelaufener Schulden für Erdgaslieferungen. Gleichzeitig wurden europäische Regierungen von Russland informiert, dass der Konflikt mit der Ukraine auch Auswirkungen auf die russischen Erdgaslieferungen in die EU haben könnte.
Der aktuelle Vertrag
Der derzeit gültige russisch-ukrainische Erdgasvertrag wurde nach dem bisher schärfsten Konflikt im Januar 2009 zwischen Gazprom und dem staatlichen ukrainischen Energiekonzern Naftohaz Ukrainy unterzeichnet. Auf ukrainischer Seite war die damalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko für die Aushandlung des Vertrages verantwortlich. Als sie 2010 die Präsidentschaftswahl gegen Viktor Janukowitsch verlor, war der Vorwurf der Kompetenzüberschreitung beim Vertragsabschluss Anlass für das erste in einer Reihe manipulierter Gerichtsverfahren, die zur langjährigen Inhaftierung Timoschenkos führten.
Die inhaltlichen Regelungen des Erdgasvertrages wurden bereits 2009 in der Ukraine stark kritisiert. Obwohl Gazprom seine Lieferverträge als Geschäftsgeheimnis behandelt, gelangte der Originalvertrag in der Ukraine an die Öffentlichkeit und wurde von der Ukrainska Pravda im Internet veröffentlicht.
Der Erdgasvertrag mit einer Laufzeit bis 2019 orientiert sich an den Lieferverträgen Gazproms mit Energiekonzernen in der EU. Der Erdgaspreis wird über eine Formel an die Entwicklung des Preises für Erdölprodukte gekoppelt. Aufgrund eines hohen Basispreises wurde aber erwartet, dass die Ukraine für russische Erdgaslieferungen mehr bezahlen werde als der europäische Durchschnitt.
Gleichzeitig enthält der Vertrag eine bei Gazproms Lieferverträgen grundsätzlich übliche »Take-or-Pay«-Klausel, die die Ukraine zur Bezahlung von mindestens 80 % der vertraglich festgelegten Liefermenge von 52 Mrd. m3 verpflichtet, auch wenn diese tatsächlich nicht benötigt wird. Dabei verbietet der Vertrag der Ukraine den Weiterverkauf des gelieferten Gases außerhalb der Ukraine.
Zusätzlich wird auch der Erdgastransit durch die Ukraine im Vertrag geregelt. Die in Abhängigkeit von der Transitmenge festgesetzte Transitgebühr wurde in der ukrainischen Öffentlichkeit nach Vertragsabschluss als zu niedrig kritisiert, da im Vertrag der Lieferpreis deutlich stärker erhöht worden war als die Transitgebühr. Gleichzeitig legt der Vertrag fest, dass die Ukraine auch im Konfliktfall den Transit nicht aussetzen darf, während Gazprom bei einem ukrainischen Zahlungsverzug das Recht auf einen Lieferstopp hat.
Im ersten Jahr, in dem der neue Erdgasvertrag voll greifen sollte, wurde Viktor Janukowitsch zum Präsidenten der Ukraine gewählt. In durchaus konflikthaften Auseinandersetzungen mit Russland gelang es ihm de facto die vollständige Umsetzung zentraler Vertragsbestimmungen zu vermeiden.
Erstens wurde bereits im April 2010 in der »Charkiwer Vereinbarung« im Gegenzug für eine Verlängerung des russischen Nutzungsvertrages für die militärischen Anlagen der Schwarzmeerflotte auf der Krim der Ukraine ein Preisnachlass von 100 US-Dollar pro 1.000 m3 auf den Lieferpreis für russisches Erdgas gewährt. Dieser Preisnachlass wurde finanziert über den Verzicht des russischen Staates auf Exportzölle, so dass er die Einnahmen von Gazprom nicht betraf.
Außerdem wurde die »Take-or-Pay«-Klausel ignoriert, weshalb die Ukraine unter Janukowitsch durch eine Reduzierung der Importe die Zahlungen an Russland deutlich verringern konnte. Während der Vertrag die jährliche Abnahme von mindestens 42 Mrd. m3 Erdgas vorsieht, reduzierte die Ukraine ihre tatsächlichen direkten Importe aus Russland von 45 Mrd. m3 im Jahre 2011 auf nur noch 28 Mrd. m3 im Jahre 2013 (siehe auch Grafik 2 im unten folgenden Datenanhang). Gleichzeitig verzichtete Gazprom trotz ukrainischer Schulden, die sich zum Jahresende 2013 nach russischen Angaben auf 2,7 Mrd. US-Dollar beliefen, auf den Übergang zu Vorauszahlungen.
Am 17. Dezember 2013 erklärte die russische Regierung im Kontext von Hilfszusagen nach der ukrainischen Absage des Assoziierungsabkommens mit der EU, dass der Erdgaspreis für die Ukraine ab dem Folgejahr mit quartalsweisen Überprüfungen um ein Drittel reduziert würde, was für das Jahr 2014 einen Preis von 269 US-Dollar pro 1.000 m3 bedeuten würde. Gleichzeitig erhielt die Ukraine eine russische Kreditzusage über 15 Mrd. US-Dollar. Von diesem Kredit wurden 3 Mrd. US-Dollar direkt ausgezahlt und ermöglichten u. a. die Begleichung eines Teils der Erdgasschulden.
Die Streitpunkte
Die aktuellen Streitpunkte im Erdgaskonflikt zwischen Russland und der Ukraine beziehen sich zum einen auf den Lieferpreis und zum anderen auf die ukrainischen Schulden.
Auf die Absetzung Janukowitschs durch das ukrainische Parlament im Februar 2014 reagierte Russland schnell mit der Rücknahme der Kreditzusage und der Aufkündigung des Preisnachlasses zum Ende des ersten Quartals. Damit ergab sich ausgehend von der Preisformel des Liefervertrages für die Ukraine ein Importpreis für Erdgas von 386 US-Dollar pro 1.000 m3, was ungefähr dem europäischen Preisniveau entsprach. Nach der Annexion der Krim kündigte Russland Anfang April dann einseitig mit sofortiger Wirkung die Charkiwer Vereinbarung über die Nutzung der militärischen Anlagen der Schwarzmeerflotte, wodurch sich der geforderte Lieferpreis auf 486 US-Dollar pro 1.000 m3 erhöhte. Einen Überblick über die russischen Erdgaspreise für die Ukraine gibt Grafik 1 im unten folgenden Datenanhang.
Parallel zu den steigenden Preisforderungen erhöhte Russland auch den Druck in der Schuldenfrage. Russland erklärte ursprünglich, falls die Ukraine ihre Altschulden in Höhe von 2,2 Mrd. US-Dollar (Stand Anfang April 2014) bis Anfang Mai nicht begleiche, werde umgehend der im Vertrag vorgesehene Übergang zur Vorauszahlung erfolgen. Außerdem erklärte Gazprom, dass sich aus der »Take-or-Pay«-Klausel zusätzliche Forderungen in Höhe von insgesamt 18,6 Mrd. US-Dollar für 2012 und 2013 ergäben. Russlands Präsident Vladimir Putin sprach in einem Brief an europäische Regierungen von Preisnachlässen im Wert von 17 Mrd. US-Dollar und Forderungen aus der »Take-or-Pay«-Klausel in Höhe von 18,4 Mrd. US-Dollar. 18,4 Mrd. US-Dollar entsprechen 10 % des ukrainischen BIP.
Die Ukraine wiederum erklärte, dass sie für russische Erdgaslieferungen erst wieder bezahlen werde, wenn eine Einigung über den Lieferpreis erreicht sei. Dabei wurde vorrangig der Preis von 269 US-Dollar als Bezugspunkt genannt. Gleichzeitig wies die Ukraine daraufhin, dass sich Russland mit der Annexion der Krim ukrainisches Staatseigentum angeeignet habe, darunter auch Aktiva in der Erdgaswirtschaft, deren Wert deutlich über den ukrainischen Erdgasschulden liege.
In dieser Situation begann Anfang Mai eine Reihe von trilateralen Verhandlungen zwischen Russland, der Ukraine und der EU zur Beilegung des Erdgaskonfliktes.
Die laufenden Verhandlungen
Das erste Treffen von Vertretern Russlands, der Ukraine und der EU, das direkt dem Erdgaskonflikt gewidmet war, fand am 2. Mai 2014 in Warschau statt. Am 13. Mai trafen sich Vertreter der EU in Brüssel mit der ukrainischen Seite, am 19. Mai in Berlin mit der russischen Seite. Am 16. Mai hatten sich bereits die Vorstandsvorsitzenden von Gazprom und Naftohaz Ukrainy in Amsterdam getroffen. Am 26. und 30. Mai in Berlin sowie am 2. Juni in Brüssel folgten trilaterale Treffen auf Ministerebene. In Berlin trafen sich am 4. Juni abermals die Vorstandsvorsitzenden von Gazprom und Naftohaz Ukrainy zu mehrtägigen Verhandlungen. Parallel zum Verhandlungsprozess fand ein öffentlicher Briefwechsel zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem Präsidenten der EU-Kommission José Barroso statt. Ab dem 9. Juni folgte in Brüssel eine neue Verhandlungsrunde der Energieminister und Unternehmensleiter.
Ein erster Erfolg der Verhandlungen war, dass die Eskalation des Konfliktes verzögert wurde. Gazprom verschob so mehrfach die Frist für die Begleichung der ukrainischen Schulden und den Übergang zu Vorauszahlungen. Die russischen Erdgaslieferungen sowohl in als auch durch die Ukraine erfolgten in vollem Umfang, obwohl die Ukraine ihre Zahlungen ab März komplett eingestellt hatte. Erst Ende Mai überwies die Ukraine knapp 0,8 Mrd. US-Dollar an Gazprom, während die russische Seite die Schulden bis Ende März, d. h. bis zur Rücknahme des vergünstigten Preises von 269 US-Dollar pro 1.000 m3, auf insgesamt 2,2 Mrd. US-Dollar bezifferte.
Gleichzeitig wurden bei den Verhandlungen Grundlagen für einen möglichen Kompromiss gesucht. Die EU versuchte dabei, die Diskussion auf den Erdgasvertrag zu beschränken und unterstützte dementsprechend nicht die ukrainische Gegenrechnung der auf der Krim verlorenen Aktiva. Die Ukraine wurde nachdrücklich zur Begleichung der bis Ende März 2014 aufgelaufenen Erdgasschulden gedrängt und erhielt dafür über Hilfskredite internationaler Organisationen auch die entsprechenden Mittel.
Gegenüber Russland wurde auf das in Europa übliche Preisniveau von aktuell knapp 400 US-Dollar verwiesen. EU-Energiekommissar Günther Oettinger verknüpfte die Ukrainekrise auch explizit mit Genehmigungen für den Bau der von Russland geplanten Export-Pipeline »South Stream«, die von 2015 bis 2018 schrittweise den Betrieb aufnehmen soll, um russische Lieferungen durch das Schwarze Meer direkt auf den Balkan und weiter nach Mitteleuropa zu ermöglichen. Aus Sicht der EU-Kommission sind die entsprechenden Pipeline-Verträge nicht im Einklang mit EU-Recht. Die bulgarische Regierung erklärte am 9. Juni 2014 alle Arbeiten an der Pipeline gestoppt zu haben und den Bau erst mit Zustimmung der EU-Kommission wieder aufzunehmen. Die EU-Kommission wiederum erklärte, über die South Stream-Pipeline erst wieder nach einer Lösung des ukrainischen Erdgaskonfliktes zu verhandeln.
Im Hintergrund steht darüber hinaus Druck der EU auf Gazprom über ein laufendes Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht. Der deutsche Energiekonzern RWE hat bereits vor einem internationalen Schiedsgericht Milliardenrückzahlungen für überhöhte Preise in Gazproms Lieferverträgen erstritten.
Als Grundlage für einen konkreten Kompromiss, über den seit dem 2. Juni verhandelt wird, bezeichnete Oettinger einen Preis von 350 bis 380 US-Dollar pro 1.000 m3 als angemessen, da er dem europäischen Preisniveau entspreche. Die Ukraine hatte wiederholt betont, nach einer Einigung über den Lieferpreis umgehend alle Schulden zu bezahlen. Die Hoffnung scheint zu sein, dass Russland dann erneut auf die Einhaltung der »Take-or-Pay«-Klausel verzichtet, um die Lieferungen in die EU nicht zu gefährden.
Dieser Kompromiss ist aber nicht garantiert. Russland hat angekündigt im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen sofort Vorauszahlungen zu verlangen, was de facto wohl einen Lieferstopp für die Ukraine bedeuten würde. Sowohl die Ukraine als auch Russland haben für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen mit der Anrufung des Stockholmer Schiedsgerichts gedroht. Dieses ist im Vertrag als Konfliktregulierungsinstanz vorgesehen.
Die Ergebnisse der aktuellen Verhandlungen sind deshalb derzeit noch nicht absehbar. Zentral ist dabei aber nicht nur die kurzfristige Verhinderung eines Lieferstopps durch eine Einigung über Altschulden und aktuelle Lieferpreise, sondern auch die Entwicklung einer langfristig tragfähigen Lösung, die vor allem auch die Liefermengen unter Verzicht auf die »Take-or-Pay«-Klausel festlegen muss.
Unabhängig vom Ausgang der aktuellen Verhandlungen zeichnen sich längerfristig zwei sich gegenseitig verstärkende Trends ab. Russland reduziert seine Abhängigkeit von ukrainischen Transitpipelines und die Ukraine reduziert ihre Abhängigkeit von Erdgasimporten aus Russland.
Perspektiven der Ukraine als Transitland
Die alle noch aus der Zeit der Sowjetunion stammenden Exportpipelines durch die Ukraine haben eine Gesamtkapazität von gut 175 Mrd. m3. Bis 1999 liefen dabei alle russischen Erdgasexporte durch die Ukraine – mit Ausnahme der direkten Lieferungen in andere Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sowie nach Finnland. Mit der Inbetriebnahme der Jamal-Pipeline durch Belarus nach Polen im Jahre 1999 und der Blue Stream-Pipeline durch das Schwarze Meer in die Türkei im Jahre 2003 wurde das Transitmonopol der Ukraine für Lieferungen nach West- und Südeuropa beendet. Der Anteil der Ukraine an den Transitkapazitäten für russische Erdgasexporte jenseits der ehemaligen Sowjetunion lag aber immer noch bei 70 %.
Nach der Fertigstellung der Nord Stream-Pipeline von Russland durch die Ostsee nach Deutschland sank er 2013 allerdings auf 59 %. Sollte die South Stream-Pipeline wie geplant den Betrieb aufnehmen, dann würde der ukrainische Anteil an den Transitkapazitäten in den nächsten Jahren auf 48 % sinken. Einen Überblick über die Transitkapazitäten für russische Erdgasexporte gibt Tabelle 3 im unten folgenden Datenanhang.
Entscheidend für die Rolle der Ukraine als Transitland ist aber, dass der Ausbau der russischen Exportpipelines nicht mit einer entsprechenden Ausweitung der russischen Exporte einhergeht. Derzeit betragen die jährlichen Exporte Gazproms in die EU etwa 150 Mrd. m3. Das bedeutet, dass sowohl allein die ukrainischen Transitpipelines (mit einer Kapazität von 175 Mrd m3), als auch die Umgehungspipelines um die Ukraine inklusive der South Stream-Pipeline (187 Mrd m3) alleine für die russischen Erdgasexporte ausreichen.
Dementsprechend macht Gazprom mit dem Bau neuer Pipelines die Transitpipelines durch die Ukraine weitgehend überflüssig. In den letzten beiden Jahren lag der Transit russischen Erdgases durch die Ukraine bei etwa 85 Mrd. m3. Die Transitkapazitäten der Ukraine wurden damit gerade einmal knapp zur Hälfte genutzt. Die derzeit durch die Ukraine mit russischem Erdgas belieferten Länder werden weitestgehend über die geplante South Stream-Pipeline beliefert werden können. Die für 2018 geplante vollständige Fertigstellung der Pipeline könnte damit aus russischer Sicht für die Ukraine das Ende der Rolle als Transitland bedeuten. Einen Überblick über die Zielländer der russischen Erdgaslieferungen durch die Ukraine gibt Tabelle 2 im unten folgenden Datenanhang.
Die Liberalisierung des Erdgasmarktes in der EU könnte Russland allerdings einen Strich durch die Rechnung machen. Genau wie bei Telekommunikation und Strom will die EU auch bei Erdgas allen Anbietern gleiche Zugangsrechte zum Leitungsnetz gewähren. Das würde bedeuten, dass Gazprom seine Exportpipelines nicht alleine nutzen kann, sondern auch anderen Erdgasproduzenten Zugang gewähren muss. Die zusätzliche Nachfrage durch andere Produzenten könnte auch Transitpipelines durch die Ukraine einbeziehen. Derzeit ist auch noch nicht auszuschließen, dass der Konflikt mit der EU den vollständigen Ausbau der South Stream-Pipeline verhindert oder zumindest verzögert, was die Rolle der Ukraine als Transitland ebenfalls stärken würde. Die großen Erdgasspeicher in der Ukraine mit einer Gesamtkapazität von gut 30 Mrd. m3 können aus Sicht der EU einen Beitrag zur europäischen Energiesicherheit bieten. Ihre Nutzung, z. B. auch direkt organisiert und finanziert durch europäische Abnehmer, würde entsprechende Transitpipelines erforderlich machen.
Wenn die Ukraine längerfristig ein Transitland bleiben will, muss sie allerdings erhebliche Summen in die Modernisierung der veralteten Erdgaspipelines investieren. Der ukrainische Energieminister schätzt den dringenden Finanzbedarf allein für eine erste Phase der Instandhaltung auf bis zu 4 Mrd. US-Dollar.
Perspektiven der Ukraine als Konsument
Selbst wenn es der Ukraine gelingen sollte, weiterhin ein wichtiges Transitland für russische Erdgasexporte zu bleiben, will die Ukraine auch aus politischen Gründen ihre Abhängigkeit von russischen Erdgaslieferungen reduzieren.
Mit dem nachhaltigen wirtschaftlichen Einbruch in Folge der globalen Finanzkrise von 2008 ist der jährliche Erdgasverbrauch der Ukraine von 71 Mrd. m3 (2007) auf 50 Mrd. m3 (2013) gesunken. Durch die neu verstärkte Wirtschaftskrise sowie einfache Sparmaßnahmen dürfte der Jahresbedarf 2014 etwas niedriger liegen als im Vorjahr. Es ist dabei nicht absehbar, wie der Konflikt in der Ostukraine Produktion und Verbrauch von Erdgas längerfristig beeinflussen wird. Ausgehend von aktuellen Zahlen ist zu erwarten, dass die Ukraine ihren Verbrauch zu knapp der Hälfte über Eigenproduktion decken kann, so dass nur rund 25 Mrd. m3 Erdgas importiert werden müssen.
Bereits unter Janukowitsch begann die Ukraine durch eine Umkehrung der Fließrichtung kleinerer Transitpipelines Erdgas aus der EU zu importieren. 2013 wurden so 2,1 Mrd. m3 und damit knapp 8 % der gesamten Erdgasimporte aus Westeuropa bezogen. Mit dem deutschen Energiekonzern RWE hat die Ukraine bereits im November 2012 einen Rahmenvertrag über Lieferungen von jährlich bis zu 10 Mrd. m3 geschlossen, der aber an das Vorhandensein entsprechender Liefermöglichkeiten gebunden ist. Die Lieferungen durch Ungarn sind bisher nur von symbolischem Ausmaß und Rumänien hat erklärt, frühestens 2016 Lieferungen in die Ukraine ermöglichen zu können. Durch Polen können derzeit 1,5 Mrd. m3 Erdgas in die Ukraine exportiert werden. Mit der Slowakei einigte sich die ukrainische Regierung auf die Inbetriebnahme einer stillgelegten Pipeline mit einer Kapazität von 3 Mrd. m3. Die Ukraine hofft hier auf Kapazitäten von bis zu 10 Mrd. m3. Sollte dies gelingen, könnte die Ukraine fast die Hälfte ihrer Erdgasimporte aus der EU beziehen. In Kombination mit den eigenen Erdgasspeichern, deren Volume in etwa dem Gesamtimport eines Jahres entspricht, wäre die Ukraine damit deutlich weniger anfällig für russische Lieferstopps.
Während die politische Problematik der Abhängigkeit von russischem Erdgas damit entschärft wäre, wird die wirtschaftliche Problematik komplett ignoriert. Die Ukraine ist offensichtlich unter den derzeitigen Bedingungen nicht in der Lage, ihren Eigenbedarf an Erdgas nachhaltig zu finanzieren, weder zu russischen noch zu europäischen Preisen. Die Ukraine hat für ihre Erdgasimporte seit 2011 pro Jahr 12 bis 14 Mrd. US-Dollar bezahlt. Ein großer Teil dieser Kosten ist aufgrund von Subventionen für private Haushalte (Gasversorgung und Fernwärme) beim Staatshaushalt angefallen. Da die Preise für Erdgasimporte in US-Dollar bezahlt werden, während ukrainische Verbraucher in der einheimischen Währung bezahlen, bedeutet der Wertverlust der Griwna gegenüber dem US-Dollar, der seit Jahresbeginn fast 50 % beträgt, eine erhebliche Zusatzbelastung für den Staatshaushalt.
Energiesparmaßnahmen, die Förderung alternativer Energiequellen, die Modernisierung der Leitungsnetze, die Verbesserung der Regulierung des Energiesektors und die soziale Abfederung der Erhöhung der Energiepreise für die Bevölkerung bedeuten einen umfangreichen Reformbedarf.
Resümee
Die große Aufmerksamkeit, die der Erdgaskonflikt erhält, ist erst einmal im strategischen Interesse Russlands. Die EU wird an ihre Abhängigkeit von Russland erinnert. Die regelmäßigen Verhandlungsrunden reduzieren das Risiko von Sanktionen, welche nicht zu »konstruktiven Gesprächen« passen und nach der Annexion der Krim und Vorwürfen bezüglich einer Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine kann sich Russland bei der Erdgasfrage erstmals wieder als vertragstreuer und kompromissbereiter Verhandlungspartner präsentieren.
Die neuen Wettbewerbsregeln der EU für den Energiemarkt sowie die steigende Bedeutung alternativer Bezugsquellen für Erdgas, vor allem über Flüssiggas, perspektivisch in einigen europäischen Ländern auch über Schiefergas, stellen die bisherigen langfristigen Lieferverträge Gazproms mit Ölpreisbindung und »Take-or-Pay«-Klausel grundsätzlich in Frage. Dadurch, dass Gazprom derzeit mit fast allen europäischen Vertragspartnern die Lieferbedingungen neu verhandelt, sollte Kompromissbereitschaft im ukrainischen Fall leichter fallen. Wenn Gazprom gegenüber der EU – als auch in Zukunft mit Abstand wichtigstem Abnehmer – die traditionell pragmatische Ausrichtung der Lieferbeziehungen beibehalten will, wird für die Gestaltung von Lieferverträgen ein neuer Konsens gefunden werden müssen.
Selbst ein vorteilhafter Kompromiss stellt die stark angeschlagenen ukrainischen Staatsfinanzen aber vor große Herausforderungen. Die Ukraine wird auf jeden Fall Erdgasschulden in Milliardenhöhe bezahlen müssen. Aufgrund internationaler Hilfskredite – vor allem des Internationalen Währungsfonds (IWF) – ist dies möglich. Die Kredite müssen aber später zurückgezahlt werden. Gleichzeitig sieht das Abkommen mit dem IWF deutliche Preiserhöhungen für private Erdgasverbraucher vor, die auch erhebliche soziale Konsequenzen haben. Für eine nachhaltige Entwicklung muss die Ukraine deshalb ihre Energiewirtschaft tiefgreifend reformieren.
Die russische Aufrechnung der Subventionen in zweistelliger Milliardenhöhe, die die Ukraine unter Präsident Janukowitsch allein im Erdgashandel erhalten habe, zeigt gleichzeitig die finanzielle Dimension der Integrationskonkurrenz zwischen Russland und der EU in der Region. Durch ein Bestehen auf dem bis 2019 gültigen Erdgasvertrag könnte Russland – wahrscheinlich selbst nach Korrekturen durch ein internationales Schiedsgericht – die aktuelle Finanzkrise der Ukraine dramatisch verschärfen. Wenn die Orientierung der Ukraine hin zur EU ein Erfolgsmodell werden soll, muss die EU auch hier eine Antwort finden.