Krieg oder Frieden

Von Gerhard Simon (Köln)

Der Waffenstillstand vom 5. September 2014 verdient nicht diesen Namen, er ist aber auch nicht die uneingeschränkte Fortsetzung des Krieges der vorangegangenen Monate. Dieser teilweise Waffenstillstand kann jederzeit wieder in massive Kriegshandlungen umschlagen. Der Grund ist: Keine der Kriegsparteien hat ihr Kriegsziel erreicht. Die ukrainischen Streitkräfte wollen die fremden Truppen aus dem Donbas vertreiben und dort die tatsächliche Souveränität Kiews wieder herstellen. Die Kämpfer der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und ihre russischen Unterstützer wollen den Donbas und nach Möglichkeit noch weitere Gebiete der Ukraine unter ihrer Kontrolle behalten. Ein Kompromiss zwischen diesen Positionen ist schwer vorstellbar, deshalb könnte es darauf hinauslaufen, dass hier ein neuer eingefrorener Konflikt entsteht, ein zweites Transnistrien. Das würde Russland ein effizientes Instrument zur dauernden Destabilisierung der Ukraine in die Hand geben. Insofern wäre es ein Teilsieg Russlands, auch wenn von der Etablierung eines »Neurussland« nicht die Rede sein kann.

Aber die Ukraine hat in einer ganz anderen Hinsicht einen Teilsieg errungen: Es ist ihr gelungen, gegen den massiven Widerstand Russlands die Konsolidierung im Inneren des Landes ein wesentliches Stück voranzubringen. Die Wahlen eines neuen Präsidenten im Mai und eines neuen Parlamentes im Oktober 2014 haben den Grund gelegt für Reformen im Inneren und die Umsetzung des außenpolitischen Ziels: Integration in Richtung Europa. Russland hat sich als Vetomacht nicht durchsetzen können. Denn das eigentliche russische Kriegsziel bestand und besteht nicht darin, die Krim und den Donbas zu besetzen, sondern die Ukraine daran zu hindern, sich aus der russischen Hegemonie zu lösen und den Weg nach Westen zu gehen.

Die russische Politik und Kriegführung fahren zur Begründung ihrer Kriegsziele das schwere Geschütz der Geopolitik und der Geschichte auf: Die Ukraine sei seit jeher ein Teil der »Russischen Welt«, ja, Russen und Ukrainer seien »ein Volk«, wie Putin nicht müde wird zu wiederholen. Eine Loslösung der Ukraine aus der »Russischen Welt« wird deshalb von den Ideologen des neuen russischen Nationalismus als Angriff auf die russische Großmacht-Identität wahrgenommen.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob sich hinter dieser scheinbaren Verteidigung der Vergangenheit nicht die Angst vor der Zukunft verbirgt. Denn sollte es gelingen, Demokratie und den Willen zur Freiheit in der Ukraine fest zu verankern, wäre dies eine massive Bedrohung für die autoritäre Präsidialherrschaft in Russland. So wie Perestrojka und Glasnost vor 25 Jahren von Moskau aus ihren Siegeszug nach Ostmitteleuropa und in die Ukraine antraten, sind Demokratie und Freiheit heute eine Bedrohung für Moskau, die von Kiew ausgeht. Gewiss lassen sich gegen diese Bedrohung Panzer und Grad-Raketenwerfer einsetzen, aber deren Langzeitwirkung ist begrenzt.

Es ist nicht sicher, dass es gelingt, demokratische Institutionen in der Ukraine unumkehrbar zu konsolidieren und das Land ökonomisch auf Wachstumskurs zu bringen. Ohne die Unterstützung der EU und Nordamerikas erscheint das aussichtslos. Bisher ist der Westen, jedenfalls im Prinzip, bereit zu honorieren, dass hier das größte Land Ostmitteleuropas verspätet, aber jetzt mit Nachdruck und unter erheblichen Opfern den Anschluss sucht. Die Wahlen haben gezeigt, dass vor allem die Ukrainer selbst entschlossen sind, für ihre Ziele einzustehen und dass über diese Ziele jetzt in viel höherem Maß Konsens herrscht als in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten. Eine Erfolgsgarantie gibt es aber nicht. Denn die Ukraine ist zwar auf gutem Weg, sich politisch von Russland zu emanzipieren, aber militärisch und wirtschaftlich bleibt sie vorerst verwundbar und abhängig. Eine neue Perestrojka, die Russland selbst auf den Weg nach Westen bringen und damit ganz neue Handlungsbedingungen schaffen würde, ist derzeit nicht in Sicht. Deshalb muss man davon ausgehen, dass die schweren Konflikte zwischen Russland und dem Westen, zu dem nun auch die Ukraine gehört, auf absehbare Zeit die internationale Politik bestimmen werden.

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Analyse

Bewaffnete Freiwilligenbataillone: Informelle Machthaber in der Ukraine

Von Huseyn Aliyev
Die politische Landschaft der postsowjetischen Ukraine ist geprägt durch eine Vielzahl informeller Machthaber, darunter Oligarchen, hochrangige »Problemlöser« und Akteure der organisierten Kriminalität. Der Euromaidan, die Annexion der Krim und der Beginn des Krieges im Donbass haben die politische Landschaft der Ukraine um einen weiteren einflussreichen informellen Akteur erweitert: bewaffnete Freiwilligenbataillone. Die Freiwilligenverbände – in der Ukraine als »Dobrobaty« oder »Wolontery« bezeichnet – wurden mobilisiert, um die staatlichen Sicherheitskräfte im Konflikt in der Ostukraine zu unterstützen. Mit dem Ende der schweren Kampfhandlungen im Donbass wandten sich die Freiwilligenverbände der Politik zu und wurden schnell zu einflussreichen sozioökonomischen und -politischen Akteuren. Ungeachtet der hohen Reputation, die sie während des Donbass-Konflikts genossen, setzen Freiwilligenbataillone ihre Ressourcen aktiv ein, um den Staat in seiner Rolle als Sicherheitsgarant und Hüter des Gemeinwohls herauszufordern. (…)
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Kommentar

Test bestanden, Herausforderung verstanden? Präsident Selenskyj und der Donbas-Konflikt

Von André Härtel
Für den ukrainischen Präsidenten und seine zuletzt bewiesene außenpolitische Lernfähigkeit bedeutet die Ausdehnung des anhaltenden Konfliktes mit dem großen Nachbarn in weitere, multiple Arenen eine enorme Herausforderung. Sie wird sich, anders als im Donbas, nicht durch bloße Standfestigkeit in Verhandlungen und eine bessere Sicherung der Gebiete unter eigener Kontrolle bearbeiten lassen. Die Ukraine braucht eine regionale Sicherheitsstrategie, die ihre politische Handlungsfreiheit und ökonomische Konnektivität bewahrt und die Bedrohung durch feindlich gesinnte Regime unter Kontrolle halten kann.
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