Quo vadis Ukraine? Die Neuerfindung des ukrainischen Staates

Von Stefan Meister (Berlin)

Ein Jahr nach dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Vilnius und dem Beginn der Proteste auf dem Maidan befindet sich die Ukraine in einer der schwersten Krisen ihrer post-sowjetischen Geschichte. Nicht nur, dass das Land praktisch zahlungsunfähig ist und seine Gläubiger nur mit Hilfe internationaler Geldgeber bedienen kann, es befindet sich auch in einem (asymmetrischen) Krieg mit einem von Russland unterstützten kriminellen Regime in Teilen des Donbas, die Krim ist mittel- bis langfristig an Russland verloren und Korruption sowie alte Seilschaften bestimmen weiterhin maßgeblich die ukrainische Politik. Die größte Herausforderung für das Land bleibt jedoch das Nichtfunktionieren von Staatlichkeit auch in zentralen Bereichen wie Sicherheit sowie Rechts- und Sozialsystem. Die Wiederherstellung und Neudefinition von Staat in der Ukraine ist die größte Herausforderung für Präsident Poroschenko und das neugewählte Parlament. Dies kann nur mit der Gesellschaft gelingen, nicht wie bisher in der ukrainischen Politik gegen diese. Die Ablehnung dieses Staates und seiner korrupten Eliten, der Wunsch, in einem »demokratischen, sozial orientierten Rechtsstaat« zu leben, sind zentrale Forderungen des Kiewer Maidans gewesen.

Gleichzeitig bietet diese existentielle Krise die einzigartige Chance für einen Systemwechsel auf der Basis von echten, umfassenden Reformen. Damit der schwache Staat Ukraine nicht zum failed state wird, muss sich die Ukraine neu erfinden. Der Druck Russlands von außen (und zum Teil von innen) sollte davon nicht ablenken, sondern den Wandel befördern. Mit den Parlamentswahlen haben große Teile der ukrainischen Bevölkerung für die demokratischen und EU-orientierten Parteien gestimmt und damit auch ein Mandat für Reformen des Staates – auch wenn sie schmerzhaft sein werden – gegeben. Die ukrainische Zivilgesellschaft ist die wichtigste Ressource des Landes, die in diesen Prozessen eine zentrale Rolle spielen sollte. Seit der Absetzung des ehemaligen Präsidenten Janukowitsch sind zwar wichtige Reformprojekte angestoßen worden, jedoch fehlen zentrale Reformbereiche. Gleichzeitig ist ein Mentalitätswechsel nötig, der nicht von heute auf morgen erfolgen kann, sondern nur mittel- bis langfristig. Das sollte bei all den Erwartungen in der EU und der ukrainischen Bevölkerung berücksichtigt werden.

Präsident Petro Poroschenko und Premier Arsenij Jazenjuk haben im letzten halben Jahr im Wesentlichen fünf Reformen angestoßen: ein Lustrationsgesetz, welches eine große Zahl der Beamten auf Korruption, Tätigkeit unter Janukowitsch und im kommunistischen Partei- und Sicherheitsapparat überprüfen soll, die Reform der Staatsanwaltschaft, deren Rechte stark beschnitten werden, ein Anti-Korruptionspaket, bei dem unter anderen hohe Staatsbeamte ihre Einnahmen und ihren Besitz veröffentlichen müssen, erste Schritte für Energiereformen auf Druck des IWF und eine Reform der Hochschulbildung, die den Universitäten weitgehende Autonomie gibt. Trotz vieler Schwächen dieser Gesetze sind wichtige Probleme erstmals angegangen worden, aber grundlegende Defizite wie die Wahlreform, die Verfassungsreform oder die Zerschlagung von Monopolen auch im Energiesektor und insbesondere mit Blick auf den Monopolisten Naftogas fehlen. Priorität für die Bevölkerung haben Sicherheit und damit die Reform der Armee und Sicherheitskräfte, Korruption und eine unabhängige Justiz sowie die soziale Situation. Hier muss die ukrainische Regierung mehr tun. Eine Vielzahl von Reformkräften aus der Zivilgesellschaft ist in die Rada insbesondere über die Partei Selbsthilfe gewählt worden. Diese Partei wird als drittstärkste Kraft nach dem Block von Präsident Poroschenko und der Volksfront von Premier Arsenij Jazenjuk an der Regierung beteiligt werden. Damit zieht erstmals eine größere Zahl an unabhängigen Personen in die Rada ein, die nicht mit der Korruption der alten ukrainischen Eliten verbunden ist. Ebenso ist es ein positives Signal, dass der Koalitionsvertrag nicht bereits kurz nach der Wahl feststand, sondern über mehre Wochen ausgehandelt werden muss. Das lässt hoffen, dass es eher um Themen als um Personen geht.

Die zentralen Fragen bleiben, ob und wie die notwendigen Reformen angegangen werden und inwieweit sich die ukrainischen Eliten ihrer Verantwortung stellen. Druck von innen und von außen wird dafür nötig sein. Auch die EU und der IWF spielen als wichtigste Geldgeber eine zentrale Rolle. Sie müssen nicht nur über Personal und Know-how bei der Umsetzung von Reformen helfen, sondern durch eine harte Konditionalität bei der Vergabe von Geldern Druck auf die Eliten und die politische Führung ausüben. Dabei sollte die aktive Zivilgesellschaft in Monitoring-Prozesse und die Umsetzung von Reformen direkt eingebunden werden. Sie sollte von internationalen Institutionen nicht nur angehört werden, sondern direkt in deren Verhandlungen und Beratungen von Gesetzen und Reformen mit den politischen Institutionen einbezogen werden. Die Neudefinition des ukrainischen Staates kann nur gelingen, wenn sie sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung nach einem funktionsfähigen und sozialen Rechtsstaat orientiert und nicht an den rent-seeking-Interessen der korrupten Eliten.

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Analyse

Ein Jahr nach den Präsidentschaftswahlen – quo vadis Ukraine?

Von Heike Dörrenbächer, Volodymyr Oliinyk
Nach nur einem Jahr im Amt hat Präsident Janukowytsch eine ungeheure Machtfülle auf sich vereint, mit der ein Übergang zu einem autoritären Staat jederzeit möglich ist. Die Korruption wird vor allem verbal bekämpft und dieser Kampf dazu benutzt, den politischen Gegner in Schach zu halten. Die Pressefreiheit existiert eher formal und muss von den Journalisten und der Gesellschaft verteidigt werden. Der Staat ist stabil, doch wirkliche Reformen sind nicht in Sicht. Die Ukraine nähert sich immer mehr einer »imitierten Demokratie« an – einem Phänomen, das wir bereits aus Russland kennen. (…)
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Analyse

Die Rolle der Kiewer Mohyla-Akademie im aktuellen politischen Prozess

Von Andreas Umland
In der allgemeinen Diskussion um die Reform des ukrainischen Hochschulwesens und den zuständigen Bildungsminister Dmytro Tabatschnyk spielt die Kiewer Mohyla-Akademie eine besondere Rolle. Die Vertreter der Akademie melden sich in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die politische Ausrichtung der Ukraine vergleichsweise laut zu Wort. Das Verhältnis zwischen der auf nationale Wiedergeburt orientierten Akademie und dem russophilen Bildungsminister, dessen Rücktritt von großen Teilen der ukrainischen intellektuellen Elite gefordert wird, ist ein besonders schwieriges. Der folgende Artikel untersucht diese und weitere Konfliktlinien.
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