Trennlinien in der Ostukraine

Von Heiko Pleines (Bremen)

Zusammenfassung
Zur Beilegung eines gewaltsamen Konfliktes müssen zuerst die Konfliktparteien getrennt und durch eine neutrale Instanz an der Wiederaufnahme von Gewalt gehindert werden. Dieser Logik folgen auch die in Minsk von der Ukraine, Russland und den Separatisten unter Vermittlung der OSZE geschlossenen Vereinbarungen vom September 2014 (Minsk 1) und Februar 2015 (Minsk 2).

Einleitung

Zur Beilegung eines gewaltsamen Konfliktes müssen zuerst die Konfliktparteien getrennt und durch eine neutrale Instanz an der Wiederaufnahme von Gewalt gehindert werden. Dieser Logik folgen auch die in Minsk von der Ukraine, Russland und den Separatisten unter Vermittlung der OSZE geschlossenen Vereinbarungen vom September 2014 (Minsk 1) und Februar 2015 (Minsk 2).

Waffenstillstandslinien: Minsk 1

Minsk 1 legte im ergänzenden Memorandum die aktuelle Frontlinie vom 19. September 2014 (in der Vereinbarung euphemistisch Kontaktlinie genannt) als Waffenstillstandslinie und damit als Trennlinie zwischen den Konfliktparteien fest. Innerhalb von 24 Stunden sollten alle schweren Waffen mindestens 15 km bzw. entsprechend ihrer maximalen Reichweite von der Frontlinie abgezogen werden. Die durch den Rückzug entstehende Pufferzone von 30 km Breite sollte durch die OSZE-Beobachtermission überwacht werden.

Einziger Erfolg von Minsk 1 war neben einem Gefangenenaustausch ein Rückgang der Kampfhandlungen für etwa drei Monate. Der Abzug der schweren Waffen fand nicht statt. Ende Dezember 2014 eskalierte der Konflikt erneut. Im Januar 2015 erklärte der Präsident der Donezker Volksrepublik, dass über einen Waffenstillstand nicht mehr verhandelt werde, und kündigte an, gemeinsamer mit der Luhansker Volksrepublik auf ganzer Linie anzugreifen – bis zu den Grenzen der Region und im Falle einer Bedrohung auch darüber hinaus.

Der Geländegewinn der Separatisten von September 2014 bis Februar 2015 ist auf etwa 500 km2 geschätzt worden (siehe <http://graphics.wsj.com/ukraine-rebel-maps/>). Bei einer Länge der Frontlinie von etwa 400 km bedeutet dies im Durchschnitt eine Verschiebung der Frontlinie um gut einen Kilometer. De facto rückten die Separatisten jedoch vor allem im Westen an einigen strategisch wichtigen Punkten um Dutzende Kilometer vor, während die Frontlinie an vielen Stellen weitgehend unverändert blieb.

Waffenstillstandslinien: Minsk 2

Minsk 2 sah dann erneut einen Waffenstillstand vor. Definiert wurden jetzt insgesamt drei Trennlinien. Der Abzug der schweren Waffen sollte auf der ukrainischen Seite ausgehend von der aktuellen Frontlinie des 15. Februar 2015 erfolgen und auf der Seite der Separatisten bezogen auf die Waffenstillstandslinie des 19. September 2014 (d. h. von Minsk 1). Im Ergebnis sollte spätestens innerhalb von 14 Tagen (also bis zum 3. März) eine mindestens 50 km breite Pufferzone unter Kontrolle der OSZE entstehen.

Weiter sieht die neue Minsker Vereinbarung vor, dass das ukrainische Parlament innerhalb von 30 Tagen »auf Grundlage der Linie, die im Minsker Memorandum vom 19. September 2014 festgelegt wurde«, den Umfang des Separatistengebietes definieren soll, für das eine politische Lösung entwickelt wird. Im Ergebnis sehen damit beide Minsker Vereinbarungen die Waffenstillstandslinie vom September 2014 als zentrale Trennlinie, die das von den Separatisten kontrollierte Gebiet festlegt.

Wenn die neue Vereinbarung von Minsk ernst genommen würde, würden weitere Kämpfe damit keinen Sinn machen, da spätestens ab dem 15. März sowieso die alte Trennlinie vom September 2014 zur neuen Grenze werden würde. Tatsächlich aber haben die Separatisten der Donezker Volksrepublik den Ort Debalzewe nach Beginn des Waffenstillstands mit heftigen Kämpfen erobert und dies damit begründet, dass Debalzewe zu ihrem Gebiet gehöre.

Ein Problem beider Minsker Vereinbarungen ist, dass der Verlauf der Trennlinie nicht fixiert, sondern als bekannt vorausgesetzt wurde, da keine Karten beigefügt wurden. Dementsprechend kann über die Zuordnung umkämpfter Orte gestritten werden und es gibt z. B. eine Reihe von Karten im Internet, die für den Stichtag 19. September 2014 Debalzewe dem Separatistengebiet zuordnen. Die Berichte der OSZE-Beobachtermission vom September 2014, die regelmäßig in Debalzewe vor Ort war, belegen jedoch, dass sich Debalzewe zum Zeitpunkt des damaligen Waffenstillstands nicht unter der Kontrolle der Separatisten befand. Mit seiner Eroberung wollten die Separatisten also wohl, wie die OSZE es formulierte, »neue Fakten« schaffen.

Die Separatisten haben also mit der Eroberung von Debalzewe nicht nur den Waffenstillstand massiv verletzt, sondern demonstriert, dass sie nicht bereit sind, die anstehende Festlegung ihres Einflussgebietes gemäß der Waffenstillstandslinie vom September 2014 zu akzeptieren. In diesem Zusammenhang ist auch eine weitere Trennlinie in der Ostukraine von Bedeutung.

Russische Grenze zum Separatistengebiet

Die offene Grenze zwischen Russland und dem Separatistengebiet ist der einzige Nachschubweg für die Separatisten. Sie erhalten über die Grenze regelmäßig mit von der russischen Regierung organisierten Hilfskonvois Nahrungsmittel und Treibstoff. Bisher haben 15 Konvois nach russischen Angaben insgesamt etwa 20.000 Tonnen Hilfsgüter geliefert. Auch aus anderen Ländern und aus der Ukraine selbst erfolgen Hilfslieferungen in das Separatistengebiet. Die russischen Konvois lassen jedoch weder eine Kontrolle durch die Ukraine oder die OSZE-Beobachtermission zu noch halten sie sich an die Richtlinien für internationale Hilfslieferungen. Zusätzlich überqueren in großer Zahl russische Staatsbürger die Grenze, um auf Seiten der Separatisten zu kämpfen. Die Ukraine und die NATO werfen Russland auch vor, die Separatisten über die Grenze mit Waffen zu versorgen.

Bereits Punkt 4 des Minsker Protokolls vom September 2014 sah vor: »Gewährleistung einer permanent aktiven Überwachung der ukrainisch-russischen Staatsgrenze und ihre Überprüfung von Seiten der OSZE durch die Schaffung einer Sicherheitszone in den grenznahen Gebieten der Ukraine und der RF [Russischen Föderation].«

Wenn die Vorwürfe gegen Russland berechtigt sind, dann würde eine Umsetzung dieses Punktes die Separatisten militärisch schwächen und ihre Bereitschaft zu einem Waffenstillstand erhöhen. Wenn die Vorwürfe gegen Russland unberechtigt sind, dann wäre dies für Russland der einfachste Weg, die immer behauptete Haltlosigkeit der Vorwürfe zu belegen.

Obwohl auch der russische Vertreter das Minsker Protokoll unterschrieben hat, ist die Überwachung der russischen Grenze durch die OSZE auf zwei Grenzübergänge beschränkt worden und damit nur von symbolischer Bedeutung. In Minsk 2 ist die Kontrolle der Grenze zwischen Russland und dem Separatistengebiet dann erst für die Zeit nach dem Abschluss der politischen Lösung des Konfliktes vorgesehen.

Welches Interesse kann Russland daran haben, die Kontrolle der Grenze zum Separatistengebiet bis zu einer politischen Lösung zu verhindern, wenn es nichts zu verbergen hat?

Waffenstillstand?

Die entscheidende Frage ist derzeit, ob ähnlich wie nach Minsk 1 die Kämpfe weitergehen und schrittweise eskalieren, weil die Separatisten den Waffenstillstand nur nutzen, um Kräfte an einzelnen Frontabschnitten zu konzentrieren ohne ukrainische Gegenvorstöße an anderer Stelle fürchten zu müssen, oder ob ein dauerhafter Waffenstillstand gewünscht wird, da weitere Kämpfe für beide Seiten eine zu starke Belastung sind. Letzteres scheint derzeit der Fall zu sein.

Selbst bei einem dauerhaften Waffenstillstand wird die Trennlinie zum Separatistengebiet aber umstritten bleiben, weil z. B. ein Abzug der Separatisten aus Debalzewe wohl nicht ernsthaft zu erwarten ist. Die in Minsk vereinbarte politische Lösung u. a. mit freien und fairen Wahlen im Separatistengebiet und einer Verfassungsreform in der Ukraine ist sehr komplex und verlangt von beiden Seiten viele Kompromisse. Wenn schon der Waffenstillstand gebrochen wird, um Gebiete zu kontrollieren, die im Rahmen der friedlichen Lösung festgelegt werden sollen, dann erscheint eine vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarungen utopisch.

Es ist damit zu erwarten, dass der Konflikt eingefroren wird, da nach Einrichtung der Sicherheitszone Kämpfe (hoffentlich) verhindert werden können, die in den Minsker Vereinbarungen vorgesehene politische Lösung aber nicht erreicht werden kann.

Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen

Analyse

Der »Minsker Prozess«: Perspektiven aus der Bevölkerung in der Konfliktregion

Von Cécile Druey, Julia Kaplan, Valentina Cherevatenko, Anna Hess Sargsyan
Der »Minsker Friedensprozess«, der seit 2014 den Konflikt im und um den ostukrainischen Donbas beizulegen versucht, wird in den Bevölkerungen der betroffenen Regionen unterschiedlich wahrgenommen und stößt vielerorts auf Kritik. Die vorliegende Studie befasst sich mit einem wichtigen Punkt der Minsker Verhandlungen: der Wiederherstellung der ukrainischen Staatsgrenze und der Re-Integration der nicht-regierungskontrollierten Gebiete um Donezk und Luhansk. Auf der Grundlage von in der Ukraine (inklusive nicht-kontrollierte Gebiete) und Russland geführten Interviews geht die folgende Analyse der Frage nach, von wem und warum die Wiederherstellung der Grenze unterstützt oder abgelehnt wird und wie die Wiederherstellung realistisch umgesetzt werden könnte bzw. was sie verhindert. Erstaunlich ist, dass die Positionen der Respondent*innen aus den verschiedenen Regionen zwar oft unvereinbar sind, ihre Interessen und Bedürfnisse, sowie die Haltungen in wichtigen Grundfragen jedoch häufig übereinstimmen. (…)
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