Das Postrevolutionäre Machtvakuum als Quelle der ukrainischen Reformträgheit

Von André Härtel (Kiew)

Zusammenfassung
Ein Jahr nach den ersten Parlamentswahlen in der Nach-Janukowitsch-Ära sind sich ukrainische und internationale Beobachter einig: Das Reformtempo des Landes ist selbst angesichts des weiter schwelenden Krieges im Osten des Landes deutlich zu niedrig und die Ukraine läuft Gefahr, dass sich das nach der »Revolution der Würde« weit geöffnete window of opportunity für einen einschneidenden Wandel der politischen und ökonomischen Realitäten wie schon nach der »Orangen Revolution« von 2004 alsbald schließt. Bei der Einschätzung der reformatorischen Performanz konzentrieren sich die meisten Stimmen jedoch vor allem auf die Symptome bzw. auf Aktivitäten und Effizienz einzelner Politiker oder Institutionen, während tiefere systemische Ursachen unberücksichtigt bleiben. Demgegenüber wird hier argumentiert, dass sich nach dem Maidan bisher keine konsolidierte neue Machtordnung in der Ukraine ergeben und sich vielmehr ein postrevolutionäres Vakuum eingestellt hat, das die Trägheit des Reformprozesses umfassender erklären kann

Dilemma der Gleichzeitigkeit: die Reformagenda

Die Herausforderungen, denen sich die neue politische Führung sowie das im Oktober 2014 neu gewählte Parlament der Ukraine nach dem Maidan zu stellen haben, sind enorm. Neben dem Krieg im Donbass müssen – abgesehen von einer hohen Zahl notwendiger sektorspezifischer Reformen – eine fundamentale Wirtschaftskrise überwunden, institutionelle Großprojekte wie die Dezentralisierung angegangen und das zentrale Problem der Korruption auf allen Ebenen bekämpft werden. Hinzu kommt, dass all dies von einer noch jungen Demokratie und Nation erwartet wird, die sich gerade erst von der zunehmend autoritären Herrschaft eines Elitenclans befreit hat und als identitäres Projekt findet. Die Transformationsforschung kennt dieses Phänomen als »Dilemma der Gleichzeitigkeit« mehrerer politischer und ökonomischer Wandlungsprozesse, das zu zahlreichen Obstruktionseffekten führen und nur durch kluge Sequenzierung der einzelnen Reformschritte aufgelöst werden kann.

Allerdings wird ein Großteil der derzeitigen innerukrainischen wie internationalen Kritik verständlicher, wenn man sich die Ausgangslage der neuen Kiewer Machtelite vor Jahresfrist vergegenwärtigt: Während Präsident Petro Poroschenko im Mai 2014 mit fast 55 % der Stimmen im ersten Wahlgang gewählt wurde und im Spätherbst (scheinbar) eine breite propräsidentielle und klar reformorientierte Parlamentsmehrheit entstand, war die Bereitschaft der Bevölkerung zu kurz- und mittelfristig hart wirkenden Reformen nach dem Maidan so hoch wie vielleicht nie zuvor. Die Revolution war die fundamentale »Krise«, die politisches System wie Öffentlichkeit benötigten, um neue Reformbereitschaft zu erzeugen und »Status-quo-Kräfte« wie die Oligarchen zu marginalisieren. Die durch diese Fakten erzeugte Legitimität für einen klaren Reformkurs wurde seitdem aber vollständig nahezu verspielt. Während die Ratings der führenden Politiker kaum noch zweistellige Werte erreichen und der Populismus und die Unzufriedenheit der Bürger längst vorrevolutionäre Ausmaße annehmen, schreiten zentrale Reformen kaum voran: So attestiert das unabhängige Monitoring-Portal Vox Ukraine den Institutionen schon seit Januar 2015 ein überwiegend nur noch unzureichendes Reformtempo, während insbesondere in den Bereichen Wettbewerbspolitik, Governance und im Kampf gegen Großkorruptionsfälle nahezu Stillstand herrscht.

Die vorgetäuschte Reformfähigkeit der »alten Ukraine«

Die Suche nach Gründen der offensichtlichen Reformträgheit der Post-Maidan-Eliten muss beim alten System ansetzen und fragen, welche qualitativen Veränderungen sich seit dem Februar 2014 tatsächlich ergeben haben, die auf eine verbesserte Reformfähigkeit des politischen Systems der Ukraine hinweisen. Konkret bedeutet dies: Inwiefern sind reformorientierte Akteure in der Lage, eingesessene Interessen (»vested interests«) als Haupthindernis von Reformen zu marginalisieren, Reformprogramme zu gestalten, entsprechende politische Mehrheiten für diese zu organisieren und schließlich für eine effektive Implementierung zu sorgen?

Das bis Anfang 2014 herrschende Janukowitsch-Regime war in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung für die Historie der unabhängigen Ukraine, da es sich im Grunde als erstes anschickte, den bis zum Ende der 2000er Jahre bestehenden regional geprägten Clan- bzw. Elitenpluralismus zu überwinden. Zumindest schien es im Jahre 2013 so, als wäre es dem Donezker Clan, trotz vorhandener innerer Fraktionierung, gelungen, politische und ökonomische Macht in der Ukraine erstmals zu monopolisieren. Politökonomisch kann man dieses System als Höhepunkt des sogenannten »state capture«, der Vereinnahmung politischer Institutionen durch oligarchische Interessen, in der Ukraine bezeichnen. Hatten sich bisherige Präsidenten, wie insbesondere Leonid Kutschma (1994–2004) und in begrenztem Maße auch Viktor Juschtschenko (2005–2010), durch ein geschicktes Kooptationssystem und das Ausnutzen des Elitenpluralismus ein gewisses Maß an politischer Autonomie gesichert, verfügten die Oligarchen des Donezker Clans, wie Rinat Achmetow oder Andrij Kljujew, nun über fast uneingeschränkten Zugriff auf die politische Macht. In puncto Reformkapazität ergab sich hierdurch folgendes Bild: Einerseits waren echte Strukturreformen wie im Bereich der Demonopolisierung und im Antikorruptionskampf unmöglich geworden. Vielmehr plünderten, wie viele seit dem Maidan öffentlich gewordene (Groß-)Korruptionsfälle und nicht zuletzt die gestiegene ökonomische Macht der »Familie Janukowitsch« selbst zeigen, die Eliten den Staat nun ungehindert aus. Andererseits verfügte das immer autoritärere System über soviel politische Durchsetzungsfähigkeit, dass partielle und systemirrelevante Reformen möglich waren, die die Interessen des Clans nicht tangierten und der außenpolitischen Agenda entsprachen (s. das lange angestrebte Assoziationsabkommen mit der EU).

Die Beharrungskraft der »vested interests«

Wesentliches Ergebnis der »Revolution der Würde« von 2014 war dann eine Entmachtung und Diskreditierung zumindest der politischen Vertreter des Donezker Clans und der »Familie Janukowitsch«, sichtbar geworden vor allem am Untergang des politischen Arms des Clans, der »Partei der Regionen«. Auch die maßgeblichen Oligarchen des Clans wurden, in unterschiedlichem Ausmaß, zu Opfern der Revolution. Während beispielsweise Dmytro Firtasch im österreichischen Exil verharren muss und durch ein Verfahren in den USA bedroht wird, musste Rinat Achmetow eine (auch durch die Zerstörungen von Teilen des Donbass ausgelöste) empfindliche Reduzierung seines Vermögens sowie den Verlust weitreichender politischer Protektion hinnehmen. Oberflächlich betrachtet kam es somit zu einem signifikanten Rückgang des »state capture« bzw. der Macht »eingesessener Interessen« in der Ukraine, der die Zahl an Veto-Spielern verringern und den neuen reformorientierten Eliten bzw. der Parlamentsmehrheit deutlich größeren Spielraum für Reformen bieten sollte. Dass dies bis zu einem gewissen Grad der Fall ist, zeigen die bisher erfolgten Schritte zur Deoligarchisierung des Systems, wie die Verringerung des Quorums für Aktionärsversammlungen, die das Ende der Monopolisierung der mehrheitlich in Staatsbesitz befindlichen Firma »Ukrnafta« durch den Minderheitsaktionär Ihor Kolomoisky bedeutete. In dieselbe Richtung gehen die Entmachtung des bisherigen Monopolisten »DTEK« (Rinat Achmetow) beim Stromexport und das entschiedene Vorgehen gegen die Vormachtstellung der Firma »UkrgasEnergo« (zur DF Group von Dmytro Firtasch) auf dem Gasmarkt.

Bei genauerer Betrachtung müssen allerdings zwei Einschränkungen gemacht werden: Zum einen handelte es sich bei der »Revolution der Würde« im Ergebnis vor allem um eine politische Revolution, welche die sozialen Grundlagen des Systems nicht oder noch nicht wesentlich tangiert. Die in der Ukraine weiterhin außerordentliche Konzentration ökonomischer Macht in den Händen weniger schlägt sich demnach auch heute in erheblichem politischem Einfluss nieder. So schätzen Experten, dass Dmytro Firtasch auch heute noch 22 oder 23, Rinat Achmetow 20 und Ihor Kolomoisky 15 Abgeordnete der Werchowna Rada kontrollieren. Hinzu kommt die Bedeutung lange bestehender politökonomischer Netzwerke und »Geschäftspartnerschaften« mit einflussreichen Politikern der Regierungsfraktionen, die es den Oligarchen erlauben, ihre Interessen auch angesichts gegen sie gerichteter Reformen durchzusetzen. So setzte sich Andrij Iwantschuk, einflussreiches Mitglied der Fraktion des Premierministers und Geschäftspartner Kolomoiskys, als Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaftspolitische Fragen lange vehement gegen die oben genannten Änderungen im Gesetz über Aktionärsgesellschaften ein. Trotz der Verabschiedung der Änderungen wird nun darüber spekuliert, dass Kolomoisky mit Hilfe einer erfolgreichen Intervention derselben politischen Kräfte bei der Vertragsausgestaltung des neuen »Ukrnafta«-Vorstands nun doch die faktische Kontrolle über die Firma behalten wird.

Eine zweite Einschränkung betrifft die Frage, inwiefern die partielle Rückgewinnung der Kontrolle über mehrheitlich in Staatsbesitz befindliche Unternehmen durch die politischen Institutionen tatsächlich zum Kampf gegen Korruption und zur Entstehung liberalisierter und transparenter Märkte beiträgt. Viel eher scheint es, als ob sich im Schatten des Kampfes gegen die Oligarchen, und hier vor allem gegen die des alten Regimes, schlicht eine Neuverteilung ökonomischer und damit politischer Macht abspielt. Hauptprofiteure sind dabei vor allem an wichtigen Schnittstellen des Systems operierende, politische und ökonomische Aktivitäten vermischende Vertreter der Post-Maidan-Elite. Beispielhaft hierfür ist Mykola Martynenko, langjähriger Vorsitzender des Energieausschusses, der mit Hilfe der Protektion von Premier und Präsident derzeit immer mehr persönlichen Einfluss auf das breite Netz staatlicher Energieunternehmen gewinnt. Während gegen Martynenko in der Schweiz bereits wegen Vorteilsnahme in Millionenhöhe ermittelt wird, steht er zudem im Verdacht, Staatsunternehmen über korrupte Schemen um Dollarbeträge in Millionenhöhe zu erleichtern. Insofern ist noch unklar, ob die Deoligarchisierung in der Ukraine tatsächlich für eine Marginalisierung von reformfeindlichen »vested interests« spricht oder sich nur deren Träger verändern. Dass dies der Fall sein könnte, zeigt sich vor allem an den auch nach dem Maidan extrem langsamen Privatisierungsprozessen – so haben weder neue politische Eliten noch hohe Staatsbeamte ein Interesse an der Aufgabe dieser der Bereicherung von Personen und Parteien dienenden Strukturen. Eher hat sich, wie nach 2004, eine (temporäre) Möglichkeit für die politischen Institutionen ergeben, verlorenes Terrain zurückzugewinnen und ein reformatorisches window of opportunity im besten Falle auch für neue Spielregeln zu nutzen. Entscheidend ist allerdings, ob diese dann auch innerhalb der Institutionen, und hier insbesondere von den für die Bestellung und die Kontrolle der Leitung von staatlichen Unternehmen zuständigen Organen, verantwortungsvoll oder zur persönlichen Bereicherung genutzt werden.

Machtillusionen und Kontrollverlust: die ukrainische Politik im Reformprozess

Ein wesentlicher Schwachpunkt der gegenwärtigen internationalen Debatte zur Reformpolitik in der Ukraine ist die Vernachlässigung politischer Faktoren bzw. die Verengung auf eine technische oder Effektivitätsdebatte. Vor allem scheint es hier vielfach, als spielten sich die Reformprozesse in Kiew in einer Art politischen Blase ab, auf die Machtfragen bzw. zumindest für demokratische Regime typische institutionelle Zwänge keinen Einfluss haben. Dabei ist – neben den bereits angesprochenen Veto-Spielern – die relativ geringe Kapazität des gegenwärtigen politischen Systems der Ukraine, Reformen effektiv zu gestalten, im Parlament zu verabschieden und zu implementieren, gerade für postrevolutionäre politische Kontexte nicht überraschend. Folgende politische Faktoren spielen für die heute beobachtbare Reformträgheit in der Ukraine die Hauptrolle:

Erstens sei daran erinnert, dass der Maidan eine Revolution der Straße war, die dem Großteil der ehemaligen Oppositionsparteien und heutigen Machthaber teils extrem kritisch gegenüberstand und -steht. Das »Mandat« des Maidan war denn auch kein anderes als das der totalen Selbstaufgabe der neuen Regierenden zu Gunsten eines radikalen Reformkurses – Premier Jazeniuk sprach anfangs von einer »Kamikaze-Regierung« –, eine Erwartungshaltung, der realistisch kaum zu entsprechen war. Insbesondere am in Umfragen immer deutlicheren Popularitätsverlust des Premiers und seiner Partei (Narodnij Front), im Oktober 2014 noch Wahlsieger, wird deutlich, welche Dynamik und Volatilität dem politischen System der Ukraine ein Jahr nach dem Maidan weiterhin innewohnt. Problematisch ist die Position des Premiers, über dessen baldige Absetzung schon spekuliert wird, in Bezug auf die Implementierung von Reformen insbesondere, wenn man bedenkt, dass sich der eigentliche Kampf zwischen altem und neuem System nicht im Parlament, sondern in den Ministerien selbst abspielt. Da die Reform- und insbesondere Anti-Korruptionsagenda für viele Vertreter vor allem der mittleren Ministerialbürokratie eine Bedrohung darstellt, spielt ihnen die prekäre Machtposition des Kabinetts in die Hände. Sabotage und das bewusste Hinauszögern von Reformen durch Teile der Ministerialbürokratie sind daher keine Seltenheit. Bekannt geworden sind solche Widerstände beispielsweise im Zuge der Kritik an Gesundheitsminister Aleksandr Kwitaschwili, dessen Behörde den Kampf gegen die verbreitete Korruption bei der Arzneimittelbeschaffung auch laut internationalen Organisationen behinderte. Dazu trägt bei, dass es nur im Wirtschaftsministerium bisher gelungen ist, sich von einem Teil der ineffektiven Belegschaft zu trennen (Kürzung um 30 %) und somit die interne Machtbalance zwischen Reformern und »Traditionalisten« zu beeinflussen – in anderen Ministerien liegt die Quote höchstens im einstelligen Bereich. Die Folge sind »capacity bottlenecks« bzw. das Fehlen eines funktionierenden institutionellen Umfelds für eine effektive Implementierung der Reformagenda. Hinzu kommt der nun vermehrt beobachtbare Populismus von Regierungsvertretern, der sich insbesondere im mantraförmigen Verweis auf wenige erfolgreiche Reformprojekte, wie die Einführung der neuen Polizei, zeigt.

Zweitens darf nicht unterschätzt werden, dass in der Ukraine – trotz einiger Elitenkontinuität – 2014 ein politischer Neuanfang gemacht wurde. Dessen Folge ist eine erhöhte Unberechenbarkeit des politischen Prozesses, die sich neben der Heterogenität insbesondere der von Präsident und Premier initiierten und regierenden politischen Formationen (Block Petro Poroschenko und Narodnij Front) aus der Rückkehr des für die Juschtschenko-Ära typischen machtpolitischen Dualismus zwischen Präsident und Premier ergibt. Eine wesentliche Konsequenz vor allem der wenig homogenen Parlamentsmehrheit bzw. Regierungsparteien für den Reformprozess ist die geringe Durchsetzungsfähigkeit von Gesetzesentwürfen der Regierung in der Werchowna Rada (nach Angaben von Vox Ukraine wurden nur knapp über 30 % verabschiedet), was deren Reformagenda zunehmend bremst und zum Stückwerk werden lässt. Hinzu kommt, dass das Parlament, aus dem mit über 80 % noch immer die meisten verabschiedeten Gesetze stammen (laut der Rada-Expertin Sarah Whitmore), den Dualismus der Exekutive für sich auszunutzen und beide Machtzentren gegeneinander auszuspielen weiß. Dies schafft erhebliche Freiräume für klientelistisches Verhalten bzw. Lobbying und erhöht die Chance, dass sich gegen jeden Reformvorstoß eine erhebliche Zahl an Abgeordneten mobilisieren lässt. Ein prominentes Beispiel ist die Blockadehaltung des Parlaments im Fall des Gesetzes zur Neuregelung der Vergabe von Staatsaufträgen, das die verbreitete Korruption in diesem Bereich (»tendernaja mafia«) beenden und die Teilnahme an zukünftigen Ausschreibungen erleichtern sollte. Wirtschaftsminister Aivaras Abromavitius zufolge scheiterte eine Verabschiedung auch nach der zweiten Lesung am Versuch mehrerer Parlamentarier, die liberalisierende Wirkung des Gesetzes durch Änderungen abzuschwächen. Ähnlich gelagert war die Abstimmung über die Schaffung des »Nationalen Büros gegen Korruption« (Nazionalnoje Antikorrupzionnoje Bjuro, NABU), bei der Abgeordnete der Werchowna Rada über 180 Änderungen einbrachten, welche die Autonomie der neuen Struktur stark einschränken (s. Ukraine-Analysen Nr. 153).

Drittens ist offensichtlich, dass der Ukraine für eine erfolgreiche Reformpolitik das Reservoir an politisch zuverlässigen, unbelasteten und gut ausgebildeten Kadern fehlt. Wie schmal die Personaldecke insbesondere im Bereich politischer Mandate ist, zeigen die auch nach dem Maidan beobachtbare relative personelle Kontinuität im Parlament sowie die Besetzung vieler Ministerposten mit ausländischen Kandidaten. Grund hierfür ist die Tatsache, dass auch 24 Jahre nach der Staatsgründung kaum Rekrutierungskanäle für politisches Nachwuchspersonal existieren und eine partielle Auffrischung des Parlaments lediglich durch den Ad-hoc-Wechsel von zivilgesellschaftlich Aktiven in die Politik nach 2004 bzw. 2014 zustande kam. Hinzu kommt, dass der Elitenmangel auch auf die regionale Ebene zutrifft. Da die ukrainischen Parteien generell nur schwach regional und lokal verwurzelt sind, fehlt es an politischen Transmissionsriemen vom Zentrum in die Peripherie – eine Beobachtung, die umso mehr auf neue politische Formationen wie die von Premier und Präsident zutrifft. Die Besetzung des Gouverneurspostens in Odessa mit dem georgischen Ex-Premier Michail Saakaschwili sowie die hektische Abordnung des Poroschenko-Vertrauten Hennadij Moskal auf den gleichen Posten in Transkarpatien zeigen, wie es um die Loyalität zum bzw. die Durchsetzungsfähigkeit des politischen Zentrums in den von jeher relativ unabhängig denkenden ukrainischen Regionen steht. Jenseits der Gefahren, die dies allgemein für eine auch vertikale Implementierung von Reformen birgt, wirft der Elitenmangel auch Fragen in Bezug auf die auch von den internationalen Partnern vehement eingeforderte und nun vom Parlament beschlossene Dezentralisierung auf: Inwiefern kommt dieser Prozess evtentuell zu früh und könnte zu einem gefährlichen weiteren Kontrollverlust zentralstaatlicher Institutionen sorgen?

Staat und Gesellschaft: »missing link« und divergierende Agenden

Abschließend sei auf einen ebenso simplen wie wichtigen Umstand verwiesen: Neben einem begünstigenden institutionellen und politischen Umfeld bedarf eine erfolgreiche Reformpolitik insbesondere eines Mindestmaßes an gesellschaftlichem Vertrauen in die handelnden politischen Akteure. Nach 24 Jahren der endemisch gewordenen persönlichen Bereicherung und des Klientelismus in der ukrainischen Politik ist Vertrauen nicht über Nacht herzustellen, weshalb auch die »neue« Elite nach dem Maidan mit einem überschaubaren Vorschuss startete. Dennoch waren die Revolution und insbesondere die ihr folgende »Ernennung« der Übergangsregierung durch den Maidan einschneidende Momente für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Ukraine. So sprach das damalige Überlappen der Agenden der maßgeblichen politischen Akteure auf der einen und der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite für eine nachhaltige Etablierung eines bisher fehlenden Links, einer Verbindung zwischen beiden Sphären, der mehr politische Responsivität und Verantwortlichkeit bedeuten könnte. Seitdem haben sich die Agenden allerdings wieder getrennt: Während die Zivilgesellschaft auf die vielen nicht eingelösten Reformversprechen verweist und versucht, einer erneuten Ab- oder Einkapselung der politischen Elite entgegenzusteuern, steht für die politischen Akteure im Vorfeld der Kommunalwahlen bereits wieder der mittelfristige Machterhalt, wenn nicht Machtausbau im Vordergrund. Insbesondere der Krieg im Osten des Landes hat zudem eine zusätzliche sogenannte »Kriegsagenda« entstehen lassen, die den politischen Akteuren gern als Ausrede für die ausbleibende Reformdynamik herhalten muss (s. Ukraine-Analysen Nr. 145). Vor diesem Hintergrund und dem erneut auf ein Minimum gesunkenen Vertrauen der Ukrainer in die Politik ist tatsächlich davon auszugehen, dass sich das window of opportunity für einschneidende Reformen bereits wieder schließt – während politische Alternativen nicht in Sicht sind.

Ausblick

Mehr als anderthalb Jahre nach der »Revolution der Würde« ist in der Ukraine ein postrevolutionäres Machtvakuum entstanden, aus dem sich die Reformträgheit der maßgeblichen politischen Akteure erklären lässt. Während die für die Ukraine zentrale Beziehung zwischen Staat und Oligarchen als Hauptvertretern der sogenannten »vested interests« nicht geklärt ist, hat sich auch zwischen den politischen Institutionen und Akteuren noch keine konsolidierte Machtordnung ergeben. Die Konsequenzen für den Reformprozess sind: 1) eine stark eingeschränkte Kontrolle von Präsident und Regierung über die Implementierung der Reformagenda; 2) zunächst wieder gewachsene Freiräume für Korruption und Lobbying; sowie 3) ein zunehmender Vertrauensverlust gegenüber der neuen politischen Elite innerhalb von Zivilgesellschaft und weiterer Öffentlichkeit, was den Reformspielraum weiter einschränkt. Für die der Ukraine wohlgesinnte internationale Gemeinschaft bedeutet dies vor allem, dass man politische Faktoren bei der Beurteilung der ukrainischen Reformfähigkeit stärker berücksichtigen, vorübergehende »roll-backs« einkalkulieren und generell mehr Zeit für das ambitionierte Reformprogramm veranschlagen sollte. Insbesondere sollten mehr politischer Druck und Beratung bei der Sequenzierung der Reformen erfolgen. Hier sind insbesondere bei der nicht erfolgten Priorisierung der Justizreform und der Stärkung von Eigentumsrechten vermeidbare Fehler gemacht worden. Letztlich sollten internationale Akteure noch mehr Mittel und Expertise bereitstellen, um ein effektives und unabhängiges Monitoring der Reformen durch zivilgesellschaftliche Initiativen zu ermöglichen. Nur so können dauerhaft Vertrauen und Responsivität entstehen.

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