Ernüchterung nach einem Jahr Lustrationsprozess

Von Andreas Stein (Kiew)

Zusammenfassung
Vor etwas mehr als einem Jahr, am 16. Oktober 2014, trat das speziell vor den vorgezogenen Parlamentswahlen verabschiedete Gesetz »Über die Säuberung des Regierungsapparates« in Kraft. Erwartungsgemäß konstatierte die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission), dass das Gesetz in Teilen zu überarbeiten ist. Diese Teile entsprechen nicht den 1996 formulierten Grundsätzen für einen Lustrationsprozess der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Auch den hohen Erwartungen, die die Gesellschaft an den Lustrationsprozess stellte, konnte das Gesetz nicht gerecht werden. Im Gegenteil grassieren Nepotismus und Korruption weiter. Zudem zeugt die selektive Anwendung des Gesetzes vor allem davon, dass politische Zweckmäßigkeiten und persönliche Ergebenheiten bei der Postmaidanregierung weiter Vorrang vor Verfassung und Gesetz haben.

Einleitung

Groß waren die Ankündigungen vor den Parlamentswahlen im Oktober 2014. Bis zu einer Million Staatsbedienstete aller Kategorien und Ränge sollten laut den Ankündigungen von Ministerpräsident Arseni Jazenjuk am 17. September 2014 von dem Gesetz betroffen sein. In der Gesellschaft wurden Hoffnungen auf einen Befreiungsschlag geweckt, auf eine einfache Lösung eines schwierigen Problems. Wären erst die »Schergen Janukowytschs« aus den Ämtern entfernt, sei bereits ein großer Schritt in Richtung »Europäisierung« der Verwaltung und Beseitigung der Korruption »an ihren Wurzeln« getan. Etwas mehr als ein Jahr später ist Ernüchterung eingetreten. Das Thema Lustration, wie der Vorgang der »Durchleuchtung« und »Reinigung« des Staatsapparates genannt wird, spielt im politischen Diskurs nur noch selten eine Rolle. Vermutlich hat es seine Aufgabe der Wählerstimmenbeschaffung und als Dampfventil vorerst erfüllt. Auch die Welle der vor Kameras inszenierten sogenannten »Müll-Lustrationen«, bei denen missliebige Staatsangestellte als Vorform des Lynchmords in Abfallcontainer entsorgt wurden, ebbte bis auf wenige Ausnahmen im Frühjahr schlagartig ab.

Schaffung einer Behörde

Für die Umsetzung des Gesetzes wurde im Justizministerium eine Abteilung für Lustrationsfragen eingerichtet, die von Tetjana Kosatschenko geleitet wird. Die Juristin hatte sich vorher bereits beim Gesellschaftlichen Lustrationsausschuss engagiert und zum Gesetzentwurf beigetragen. Ihr Dienstherr ist Justizminister Pawlo Petrenko, ein Jugendfreund Arseni Jazenjuks.

Der Website des Departments ist zu entnehmen, dass den Lustrationsprozess mehr als 111.000 im Amt befindliche Staatsangestellte und mehr als 51.000 Kandidaten für Staatsposten durchlaufen haben. Für bislang 841 Personen kam darüber hinaus das automatische zehnjährige Amtsverbot zur Anwendung, nach dem diese bis zum 15. Oktober 2024 keine leitenden Positionen im Staatsdienst mehr besetzen können. Die von diesem Verbot Betroffenen haben unter Präsident Wiktor Janukowytsch länger als ein Jahr die in Artikel 3 des Gesetzes benannten leitenden Positionen besetzt, zu Sowjetzeiten Verbindungen zum KGB unterhalten oder höhere Posten im Parteiapparat bekleidet. Mehr als tausend Staatsangestellte kündigten oder ließen sich auf rangniedrigere Posten versetzen, um dem Lustrationsprozess zu entgehen. Jazenjuk zufolge hatte sich ihre Zahl im April bereits auf 1.500 erhöht. Der Leiter des Antikorruptionsausschusse Jehor Sobolew von der Partei Samopomitsch (Selbsthilfe), eine der Haupttriebkräfte hinter dem Lustrationsgesetz, schätzte ihre Zahl im Oktober auf bis zu 1.200. Zu ihnen gehören der Chef des Statistikamtes Oleksandr Ossaulenko, der das Amt seit 1997 geleitet hat und für den bisher kein Ersatz gefunden wurde, sowie der Leiter der Staatlichen Agentur zur Verwaltung der Schutzzone um das ehemalige Kernkraftwerk von Tschernobyl, Wolodymyr Choloscha, der seit 1995 in verschiedenen Positionen für die Bewältigung der Folgen der Atomkatastrophe verantwortlich war. Sein im Mai ernannter Nachfolger Jurij Antypow wurde nach Korruptionsvorwürfen bereits im September wieder entlassen.

Die versprochene Transparenz des Lustrationsvorgangs, nach der alle persönlichen Erklärungen, dass Lustration auf eine Person nicht zutrifft, sowie Einkommensdeklarationen der untersuchten Staatsangestellten einsehbar sein sollen, konnte bisher nicht sichergestellt werden. Vor allem bei älteren Einträgen führen die zu persönlichen Erklärungen und Deklarationen gehörigen Links auf leere Dateien und es ist unwahrscheinlich, dass diese Fehler behoben werden. Verweise, bei anderen »Durchleuchteten« Informationen zu Staatsangestellten auf den Websites der entsprechenden Behörde einzuholen, führen meist ebenfalls ins Leere, da diese Behörden kaum die Kapazitäten zur Pflege der Daten haben.

Nicht immer läuft die Lustration ohne Widerstände ab. Im Februar 2015 machte der Gesellschaftliche Lustrationsausschuss publik, dass zwei Stellvertreter von Innenminister Arsen Awakow, Witalij Sakal und Wassyl Paskal, unter Janukowytsch insgesamt über ein Jahr in leitenden Positionen tätig waren. Dennoch veranlasste das Ministerkabinett nicht die Entlassung der beiden. Schlussendlich ging Kosatschenko vor Gericht. Am Tag, nachdem ihre Klage angenommen wurde, erfolgte unter dem Vorwand der Suche nach gefälschten Lustrationsnachweisen eine Durchsuchung der Räume des Lustrationsdepartments und der Wohnung Kosatschenkos durch Angehörige des Innenministeriums. Infolge der medialen Resonanz der Hausdurchsuchung reichte Sakal wenig später seinen Rücktritt ein. Paskal ist bis heute Stellvertreter Awakows.

Erwartete Bedenken der Venedig-Kommission

Trotz Inkrafttreten des Gesetzes ist die Legitimität einiger Positionen, beispielsweise der automatischen Entlassung einschließlich Einstellungsverbots ohne vorherigen Gerichtsentscheid, bis heute fragwürdig – nicht nur in Hinblick auf die Verfassung, sondern auch nach den Kriterien, die der Europarat 1996 für derartige »Durchleuchtungsprozesse« festgelegt hat. Bereits in ihrer Stellungnahme im Dezember 2014 warnte die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) davor, dass ein Lustrationsprozess im großen Stil in einer »gewaltigen bürokratischen Belastung« resultieren und zu einer Atmosphäre von »genereller Angst und Misstrauen« führen könnte. Ebenso wurde darauf hingewiesen, dass Lustrationsprozesse nach den Richtlinien des Europarates für die Durchführung von Lustrationsprozessen durch ein unabhängiges Organ und unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft erfolgen sollen und nicht wie in der Ukraine durch eine dem Justizministerium unterstellte Behörde. Entsprechende Änderungen wurden der Venedig-Kommission bereits vor ihrem Bericht in Aussicht gestellt. Allerdings gibt es bis heute nur einen Entwurf, der einen weiterhin hohen Einfluss des Ministerkabinetts auf die Ernennung des Chefs einer zukünftigen Lustrationskommission vorsieht.

Ein weiterer Kritikpunkt der Venedig-Kommission war der fehlende Datenschutz, der in einem Land, in dem es vorkommt, dass der Innenminister Namen und Geburtsdaten von Mordverdächtigen in der Öffentlichkeit verbreitet, nicht verwundert. Gleichzeitig überschneiden sich viele Funktionen des Lustrationsgesetzes und bereits existierender Gesetze. So ergibt sich etwa eine Doppelung, indem Kandidaten für höhere Staatsposten gemäß dem Gesetz für die Vorbeugung und Bekämpfung der Korruption bereits einem speziellen Screening unterliegen. Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass eine effektive Bekämpfung der Korruption eher durch eine spezielle Antikorruptionsgesetzgebung erfolgen sollte als durch das Lustrationsgesetz. Zweifelhaft sei zudem, dass Vertreter des Sowjetregimes noch 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion eine Gefahr für den Aufbau der Demokratie darstellen sollen. Diese Annahme ist zum einen auf den langen Prozess der Verabschiedung dieses Gesetzes zurückzuführen – die Forderung nach einer »Durchleuchtung« des Staatsapparates ist so alt wie die Unabhängigkeit der Ukraine. Zum anderen sehen weite Teile der Bevölkerung den schlechten Zustand des ukrainischen Staatswesens, die Misserfolge beim Krieg im Osten sowie alles Schlechte im Allgemeinen vor allem als Ergebnis der Sabotage von Staatsangestellten an, deren Loyalität dem Nachbarn Russland gilt. Denn dieser Überzeugung zufolge gibt es keine ehemaligen KGB-Agenten.

Ausnahmen zum Wohl des Vaterlandes

Die Führung des Landes handelt diesem Grundsatz zuwider. So hatte eine Änderung des Lustrationsgesetzes vom Januar 2015 das Ziel, hohe Offiziere in Armee, Nationalgarde und Grenztruppen auf Antrag und nach Genehmigung des Präsidenten wieder in den Dienst aufzunehmen oder sie gar nicht erst zu entlassen. Begründet werden muss dieser Schritt durch persönliche Bedeutung für die Verteidigungsfähigkeit des Landes. Mindestens sieben Generäle wurden den veröffentlichten Ukasen zufolge als derartig wichtig eingestuft.

Kritik am Gesetz selbst kommt natürlich aus den Reihen der Betroffenen beziehungsweise aus dem ehemaligen Regierungslager. Von dieser Seite wird eine kollektive Schuld für das blutige Ende der Regierungszeit Janukowytschs aus nachvollziehbaren Gründen nicht akzeptiert. Im Januar reichten 47 Parlamentsabgeordnete vor allem aus dem sogenannten Oppositionsblock vor dem Verfassungsgericht Klage gegen das Gesetz ein, das ihrer Meinung nach die Hälfte der Staatsbediensteten des Landes diskriminiert. »Wir sprechen davon, dass die Verfassung klar einen individuellen Charakter von Schuld und keine allgemeine Schuld festlegt, und die Verfassung verpflichtet dazu, die Menschenrechte zu befolgen, wenn vom Recht auf Ausübung des Berufs die Rede ist«, meinte beispielsweise Jurij Miroschnytschenko, der ehemalige Vertreter von Präsident Wiktor Janukowytsch im Parlament, am 22. Oktober 2015 gegenüber dem Sender Ukrajina. Hintergrund solcher Bemühungen ist es, die eigenen Chancen auf Regierungsposten nach den ersehnten und auf das nächste Jahr vorgezogenen Parlamentswahlen nicht durch ein aus dem Lustrationsgesetz resultierendes Verbot zu schmälern. Das Verfassungsgericht selbst beeilt sich mit einem Urteil nicht. Seit Einreichung der Klage wurde ihre Prüfung mehrfach verschoben, auf der letzten Sitzung am 23. Oktober auf unbestimmte Zeit.

Richter bleiben außen vor?

Dabei sind die Verfassungsrichter selbst vom Lustrationsprozess betroffen, zumindest nach Ansicht von Aktivisten und des Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk. Allein acht der derzeit 15 Richter wären demnach sofort zu entlassen. Allerdings weigern sich die Richter bisher, dieser Forderung nachzukommen. Hauptlustrator Jehor Sobolew wurde dabei auf der letzten Sitzung vom 23. Oktober vom Vorsitzenden Richter Jurij Baulin zurechtgewiesen: »Wir setzen die Sitzung fort und können diese Frage nicht jedes Mal prozessual prüfen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, so ist das Leben. Bislang gibt es noch 13 Richter im Verfassungsgericht und wir sind berechtigt, diese Angelegenheit zu prüfen. Gibt es kein Gericht, wird es auch keine Prüfung der Sache geben.«

Bis heute wurde kein Richter im Rahmen eines Lustrationsprozesses entlassen. Die 355 in diesem Jahr von der Rada entlassenen Richter sind alle aus anderen Gründen aus dem Amt geschieden. Darüber hinaus sind die derzeitigen Machthaber nicht in der Lage, die aufgrund von natürlicher Fluktuation vakanten 1.200 Richterposten zu besetzen. Offenbar fand Poroschenko, dem gemäß Artikel 128 der Verfassung die Ersternennung auf Vorschlag des Obersten Justizrates für fünf Jahre obliegt, in dem vorhandenen Bewerberpool von über 2.300 qualifizierten Juristen keinen gleichwertigen Ersatz.

Es wird nicht darüber diskutiert, wie vor diesem Hintergrund ein Ersatz für »lustrierte« Richter aussehen soll. Sobolew drohte derweil allen Richtern mit Lynchjustiz: »Das ist eine große Sabotage der Richter, sie drängen sich vor allem für Lynchgerichte auf. Wenn sie nicht auf zivilisierte Art lustriert werden, erwartet sie eine schreckliche Zukunft. Wir warnen sie bereits seit vielen Monaten und sie sprechen davon, dass wir ihnen drohen.« Vorher hatte er den Präsidenten über das für diese Art von Botschaften beliebte Facebook gewarnt: »Wenn das Gesetz über die Säuberung des Staatsdienstes zurückgenommen wird, werde ich als Gesetzgeber meine Zeit nicht weiter auf Gesetze verschwenden.«

Demgegenüber existiert beim Richterrat die Zahl von 4.998 von insgesamt etwa 7.500 Richtern, die das Lustrationsverfahren mit unterschiedlichem Ergebnis durchlaufen haben sollen; nur 60 hätten ihre Teilnahme verweigert, was zu ihrer sofortigen Entlassung geführt habe. Vor einer generellen Entlassung des Richterkorps hatte allerdings auch Christos Giakoumopoulos, der Sondervertreter des Europaratssekretärs in der Ukraine, gewarnt, da mit diesem Vorgehen keine Basis für ein unabhängiges Justizsystem geschaffen würde. »Es kann nur eine individuelle Bewertung der Effektivität der Richter geben, nach der gegen einzelne Richter Sanktionen angewendet werden können. Das Prinzip der Unabhängigkeit des Gerichtssystems wird dabei eingehalten«, sagte er Anfang November 2015 gegenüber der Jewropejska Prawda.

Mit seinem Populismus steht Sobolew allerdings nicht allein da. Ministerpräsident Jazenjuk kündigte am 23. Oktober 2015 vor deutschen Investoren in Berlin eine Justizreform an. »Die Reform sieht unter anderem die Entlassung von 9.000 Richtern vor«, erklärte er dabei. Ähnliches kündigte er im Wahlkampf 2012 sowie vor und während der Maidanproteste gegen Janukowytsch an. Inzwischen ist er bereits mehr als eineinhalb Jahre im Amt.

Reinwaschung durch fiktive Teilnahme an Antiterror-Operationen

Ein großes Schlupfloch zur Umgehung einer Entlassung gab es bereits von Anfang an. Erwartungsgemäß verschafften sich viele Staatsangestellte Bescheinigungen über eine Teilnahme an Kampfhandlungen im nach wie vor Antiterror-Operation genannten Krieg in der Ostukraine. Im April 2015 besaßen allein 419 Angehörige des Staatlichen Wachdienstes, der für den persönlichen Schutz von Politikern verantwortlich ist, einen solchen Nachweis, darunter auch ihr neuer alter Chef, Ex-Verteidigungsminister Walerij Heletej. Von ihm ist nicht anzunehmen, dass er mit der Waffe in der Hand gegen die Separatisten im Osten gekämpft hat.

Lediglich zwei Stellvertreter des Ministers für regionale Entwicklung, Bau und Wohnungswirtschaft bewahrte eine solche Bescheinigung nicht vor der Entlassung. Sie mussten nach der Aufdeckung eines Skandals durch einen Bericht des Senders Hromadske.tv abdanken. Andere sind bis heute im Dienst, beispielsweise Generalmajor Wolodymyr Pleschko von den Grenztruppen, der als Absolvent einer KGB-Hochschule hätte entlassen werden müssen. Der 54-Jährige weilte 2014 ganze 41 Stunden im gesicherten Teil der Zone der Antiterror-Operation (ATO) und erhielt danach eine Bescheinigung als ATO-Teilnehmer, wie der Lwiwer Kanal 24 nach seiner Ernennung zum Leiter des Westbereichs des Grenzschutzes im April berichtete. Bis 21. Oktober 2015 verblieb Pleschko auf diesem Posten, am 21. Oktober wurde er Lwiwer Lokalmedien zufolge beauftragt, die Verantwortung für den nichtkontrollierten Teil der ukrainischen Grenze im Osten zu übernehmen. Seinen Lebensstil – Schweizer Uhr, Maßanzug und Geländewagen –, der nicht seinem offiziellen Einkommen entspricht, dürfte er bis heute nicht verändert haben.

Auf die gleiche Art verschaffte sich der stellvertretende Leiter der Hauptverwaltung für den Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen beim Geheimdienst, Wassyl Pisnyj, einen Freifahrschein. Drei Tage verbrachte der damalige Leiter der Abteilung des staatlichen Dienstes für die Bekämpfung von Wirtschaftsverbrechen beim Innenministerium im Kriegsgebiet im Osten. Für seine Ernennung im März waren weder seine recht fragwürdige Biografie noch die für einen ausschließlich im Staatsdienst Beschäftigten zu hohen Vermögenswerte inklusive mehrerer Häuser hinderlich. Zum Stolperstein könnte einzig die Aufmerksamkeit werden, die ihm zuteilwurde, als er während der Sitzung des Antikorruptionsausschusses am 19. November vom Parlamentsrüpel Wolodymyr Parassjuk gegen den Kopf getreten wurde.

Die recht freizügige und problemlose Vergabe von ATO-Bescheinigungen an hohe Staatsangestellte wirkt vor allem für einfache Soldaten und ihre Angehörigen wie ein Hohn. Sie müssen teilweise monatelang um ihre Papiere kämpfen, um am Ende zumindest ein paar Hrywnja Kompensation für die Zeit an der Front oder sogar für erlittene Verletzungen zu bekommen. Ganz zu schweigen von Hinterbliebenen.

Geheimdienst lässt sich nicht »durchleuchten«

Pisnyj kam wohl nicht ganz zufällig bei der KGB-Nachfolgeorganisation, dem Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU), unter. Die Anwendung des Gesetzes auf einen der Machtpfeiler des Präsidenten erfolgt im Fall einer KGB-Vergangenheit noch freizügiger als bei anderen Institutionen. Nach Inkrafttreten des Gesetzes hätte sich der Chef des SBU Walentyn Nalywajtschenko eigentlich als erstes selbst entlassen müssen. Am 19. November 2014 wurde seine Erklärung über das Nichtzutreffen der Lustrationskriterien auf seine Person registriert. Vorher, am 24. Oktober 2014, hatte er zu seiner Entlastung durch seinen Sprecher Markijan Lubkiwskyj Materialien aus seiner SBU-Personalakte veröffentlichen lassen, die belegen sollen, dass er die KGB-Hochschule für Auslandsaufklärung in Moskau zwar besucht, aber nicht abgeschlossen hat – was er 2008 in einem Interview allerdings behauptet hatte. Drei Jahre KGB-Institut und die vorangegangene Unterrichtung ausländischer Studenten in Kiew machen eine KGB-Tätigkeit jedoch mehr als wahrscheinlich, weshalb er infolge der Lustration hätte entlassen werden müssen. Nalywajtschenko konnte jedoch bis zum 18. Juni 2015 weiterarbeiten und wurde erst geschasst, als er Poroschenko unbequem zu werden begann.

Bei seinem Nachfolger Wassyl Hryzak wurde die Überprüfung im Dezember 2014 eingeleitet, als er noch Erster Stellvertreter des SBU-Chefs war. Bis heute gibt es kein öffentlich einsehbares Ergebnis des Checks, dennoch wurde Hryzak zum Geheimdienstchef ernannt. Dabei beginnt sein Werdegang allen inoffiziellen Biografien zufolge beim KGB der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Mehr noch: Stimmt die Behauptung des im Exil lebenden Juristen Janukowytschs Andrij Portnow, dann hat Hryzak während der Maidanproteste als Berater des damaligen SBU-Chefs Olexandr Jakymenko gearbeitet. Als hoher Offizier, der an rechtswidrigen Handlungen gegen die Demonstranten beteiligt war und damit der Lustration unterläge, hätte Poroschenko ihn nicht ernennen dürfen. Zudem lässt sich bereits an seiner Kleidung ein nicht seinem Einkommen entsprechender Lebensstil ablesen. Im Zweifel wird Poroschenko ihn aber als unabkömmlich für die Landesverteidigung erklären. Für seine aktuellen Stellvertreter Witalij Malikow und Wiktor Trepak gibt es ebenfalls keine Lustrationsergebnisse, dabei hätten auch sie nach Artikel 2 vor ihrer Ernennung den Lustrationsprozess durchlaufen müssen.

Andere mutmaßliche KGB-Agenten hatten weniger Glück. Dem als großem Reformer angekündigten Ex-Manager von Microsoft Olexander Borowik wurde das Lustrationsgesetz wohl zum Verhängnis. Er hat nach eigenen Angaben dreieinhalb Jahre an der Hochschule des KGB studiert. Damit konnte er zwar vom 20. Februar bis in den Mai drei Monate als Berater des Wirtschaftsministers Aivaras Abromavicius agieren, die Position des Ersten Stellvertreters, auf der er sich bereits sah, blieb ihm jedoch wegen angeblich nicht konstruktiven Verhaltens verwehrt. Nunmehr versucht er mit zweifelhaftem Erfolg sein Glück als Stellvertreter des in Odessa angedockten ehemaligen georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili.

Ihre KGB-Wurzeln sind jedoch nicht das einzige Lustrationskriterium, unter das viele SBU-Mitarbeiter fallen. Bei einer Anwendung des Gesetzes würde das Auseinanderfallen ihres offiziellen Einkommens von höchstens ein paar Hundert Euro im Monat und des Fahrens großer repräsentativer Geländewagen für mehrere Zehntausend Euro einige leitende Mitarbeiter den Job kosten. Ähnliches stellten die Journalisten von Schemy auch für die Generalstaatsanwaltschaft fest. Doch anscheinend ist die Geheimdienstbehörde mit ihren knapp 30.000 Mitarbeitern weiterhin wichtig, um Listen ausländischer Journalisten zusammenzustellen, Telefongespräche für spätere Erpressungen aufzuzeichnen oder »Wehrkraftzersetzer« wie Ruslan Kozaba auf unbestimmte Zeit in Untersuchungshaft zu stecken und so dafür zu sorgen, dass die Ukraine, wie in der Hochzeit des KGB, wieder in der Liste der Länder mit politischen Gefangenen auftaucht. Die wirklichen Gefahren für das Land, die zur Annexion der Krim führten, oder die von Russland gesteuerten Separatisten hat der Dienst nicht einmal ansatzweise bekämpft.

Hat jemand vor, die Korruption zu bekämpfen?

Eine Abteilung für Korruptionsbekämpfung haben allerdings nicht nur das Innenministerium und der Geheimdienst. Mit großen Erwartungen wurde das Nationale Antikorruptionsbüro gegründet. Doch bisher fiel ihr im April über ein aufwendiges Auswahlverfahren gewählter Chef, der 36-jährige Artem Sytnyk vor allem durch die Mitnahme seiner Frau zu einer Dienstreise nach London auf Staatskosten auf. Auch war es kein Hinderungsgrund, dass der neue Verfolger korrupter ukrainischer Staatsbediensteter im gesamten Jahr 2014 als Anwalt einer Kanzlei im Zentrum Kiews angeblich nur 23.500 Hrywnja, also weniger als 1.500 Euro, verdient hat. Arbeit haben die teils noch einzustellenden Detektive des Büros jedenfalls zuhauf und sie haben angekündigt, dabei auch auf journalistische Recherchen zurückgreifen zu wollen.

Ein Ernsthaftigkeitstest für die Bemühungen des neuen Büros könnte dabei die Zentrale Wahlkommission sein. Die Lustration ihrer 15 Mitglieder und ihres Apparats begann am 1. Dezember 2014 und sollte bis 31. Mai 2015 abgeschlossen sein. Sichtbare Ergebnisse blieben für alle Mitglieder jedoch aus. Dennoch erhielt der 42-jährige Wahlkommissionschef Mychailo Ochendowskyj, Mitglied der Wahlkommission seit 2004 und ihr Chef seit 2013, am 28. Juni 2015 von Präsident Petro Poroschenko den Jaroslaw-Mudry-Orden, unter anderem für die hohe Professionalität seiner Arbeit. Die hatte er unter anderem bei den manipulierten Kommunalwahlen im Oktober 2010 gezeigt. Sein dem Einkommen eines Staatsbediensteten nicht entsprechendes Anwesen konnten die Ukrainer vor einem Jahr als Luftaufnahme bestaunen.

Warten auf Reformergebnisse

Der erhoffte schnelle Befreiungsschlag blieb also aus und die sogenannte Lustration droht, zu einem langwierigen und zähen Ringen zwischen Staatsapparat und Anhängern der Lustration zu werden. Dabei wird die ukrainische Gesellschaft immer ungeduldiger. Bereits im Juli 2015 waren dem Rasumkow-Zentrum zufolge knapp 60 Prozent der Ukrainer nicht mehr bereit, auf Reformen zu warten (s. Ukraine-Analysen Nr. 156), entweder weil ihre wirtschaftliche Lage das nicht zulässt oder weil sie nicht mehr an den Erfolg von Reformen glauben. Mehr als zwei Drittel der Ukrainer waren im Juni zudem davon überzeugt, dass die Regierung die Lustration nur imitiert, und weitere 16 Prozent bezweifelten, dass überhaupt eine Form von »Reinigung« des Staatsapparates stattfinde.

Mehr als nur eine Warnung für die derzeitigen Machthaber waren die Zusammenstöße vor dem Parlament am 31. August 2015, bei denen es zu einem Handgranatwurf kam und bei denen vier Nationalgardisten getötet und Dutzende verletzt wurden. Auch wenn der eigentliche Auslöser der Zusammenstöße die geplanten Verfassungsänderungen im Rahmen des Minsk-Prozesses waren, die mit über 30 Prozent von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung abgelehnt werden, so ertönte auch der Ruf nach einer »Volkslustration«, unter der nur Lynchmord oder Massenerschießungen verstanden werden können. Die Ereignisse geben dabei einen Vorgeschmack darauf, was sich aus einer fortdauernden Unvereinbarkeit von geweckten Erwartungen und realen Möglichkeiten ergeben könnte. Die Erfolge der Partei Swoboda (Freiheit) bei den Kommunalwahlen deuten zumindest darauf hin, dass die von führenden Parteimitgliedern vor der Rada eingesetzten Methoden im nationalistischen Wählerumfeld keinen Makel darstellen. Eher das Gegenteil ist der Fall. Auch wenn politische Figuren vom Format Oleh Ljaschkos, Wolodymyr Parassjuks oder auch Jehor Sobolews sich immer schneller verbrauchen, besteht ständig die Gefahr einer Instrumentalisierung des herrschenden Unmuts – vor allem angesichts der beständig schlechten wirtschaftlichen Lage ohne Aussicht auf spürbare Verbesserungen in absehbarer Zeit.

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