Presseschau und internationale Positionen zum Sieg Jamalas

Am 14. Mai 2016 hat die ukrainische Sängerin Jamala den Eurovision Song Contest 2016 in Stockholm gewonnen. Ihr Siegerlied »1944« ist der Deportation der Krimtataren, darunter auch Jamalas Großmutter, aus der Krim vor 72 Jahre gewidmet. Damals hat die sowjetische Regierung fast 200.000 Krimtataren nach Zentralasien zwangsumgesiedelt, als Strafe für »Kollaboration« mit den Deutschen im zweiten Weltkrieg. Eine Massenrückkehr fand erst Ende der 1980er Jahre statt.Das Lied wie auch der Sieg Jamalas wurde in der Ukraine und in Russland unterschiedlich interpretiert. Wir dokumentieren im Folgenden die Positionen der ukrainischen und russischen Eliten und bieten eine Auswahl an Pressemeldungen zum Thema an.

Die Redaktion der Ukraine-Analysen

Ukrainische Positionen

Pawlo Klimkin, Außenminister der Ukraine (14.05.2016)

The truth always wins as Jamala and Ukraine did tonight. Congratulations and many thanks:) And please don’t forget that #CrimeaisUkraine

Quelle: <https://twitter.com/PavloKlimkin/status/731616497899085824>

Petro Poroschenko, Präsident der Ukraine (14.05.2016; inoffizielle Übersetzung)

»Ich habe Jamala zu ihrem Sieg persönlich gratuliert. Heute sprach das ukrainische Volk durch ihre Stimme zur Welt. Die Wahrheit hat wie immer gewonnen!«

Quelle: <https://twitter.com/poroshenko/status/731626056428453888>

Mustafa Najem, Journalist und Abgeordneter der Wechowna Rada (14.05.2016)

The crown of justice would be to hold next Eurovision Song Contest at the historic homeland of Jamala Jamaladynova—in Ukrainian (!) Crimea

Quelle: <https://twitter.com/mefimus/status/731621684160167936>

Julia Timoschenko, Vorsitzende der Vaterlandspartei (15.05.2016)

(…) I thank the beautiful and extraordinary Jamala! We so need victories and succesess today. We don’t have enough of them. Ukraine’s victory is not only being forged in the trenches in the steppes of Donbas, but also on the stage in Stockholm. That is how our common struggle hardens, how Ukraine consolidates, how Crimea is returned! (…)

Quelle: <https://www.tymoshenko.ua/en/news-en/jamala-s-victory-is-a-big-step-towards-the-consolidation-of-ukraine/>

Russische Positionen

Alexei Puschkow, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma (15.05.2016; inoffizielle Übersetzung)

»Aus dem Musikwettbewerb ist Eurovision zu einem politischen Schlachtfeld geworden. Jetzt haben die Weißrussen das Recht, über das niedergebrannte Chatyn zu singen, und die Russen – über die Märtyrer von Odessa.«

Quelle: <https://twitter.com/Alexey_Pushkov/status/731766971868545024>

Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums (15.05.2016; inoffizielle Übersetzung)

»Beim nächsten Wettbewerb müsste man über Assad singen. Hier ist ein Refrain:Assad bloody, Assad worst.Give me prize, that we can host.«

Quelle: <https://www.facebook.com/maria.zakharova.167/posts/10209814234902253?pnref=story>

Konstantin Kossatschow, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Föderationsrates (Oberhaus) (15.05.2016; inoffizielle Übersetzung)

»Beim Eurovision Song Contest 2016 wurden die Stimmen der Zuschauer (…) und der nationalen Jury zum ersten Mal öffentlich geteilt. Im ersten Fall [bei der Punktevergabe durch die Zuschauer – Redaktion der Ukraine-Analysen] hat die Kunst gewonnen. Sogar in der Ukraine setzten die Zuschauer auf Lasarew. In der zweiten Fall – die ukrainische Sängerin Jamala. Nach dem Gesamtergebnis hat die Geopolitik die Oberhand.

Aber ich kann der Ukraine nicht gratulieren, weil die Ukraine paradoxerweise zu den Verlierern gehört. Warum? Weil viele dabei verloren haben.

Verloren hat die Musik, weil eindeutig nicht das beste musikalische Kunstwerk den Sieg errungen hat. Und dann haben sich die Komponisten, Darsteller und ihre Teams vergeblich befleißigt.

Verloren hat der Contest, weil sich die politische Haltung anstelle des fairen Wettbewerbs durchgesetzt hat.

Verloren hat Europa. Denn in den Köpfen der Europäer hat keine einmütige »Ode an die Freude«, sondern geradezu der »Kalte Krieg« gewonnen.

Verloren hat der Minsk-Prozess. Einschließlich der Bemühungen des Teams von Präsident Poroschenko, nebenbei bemerkt. Es ist schon unglaublich schwierig, die notwendige Mehrheit für die Annahme der vorrangigen Minsk-Punkte zu sammeln – Dezentralisierung, Amnestie, usw. Jetzt gibt es noch weniger Anreize: Warum die Gesetze ändern, verhandeln, wenn es heißt: »Europa ist mit uns!« und »Der Westen wird uns helfen«.

Deshalb hat die Ukraine verloren. Und nicht nur ihr mageres Staatsbudget. Das Wichtigste ist, dass das Land und die Nation den Frieden jetzt wie die Luft zum Atmen brauchen. Stattdessen hat der Krieg gewonnen.

Daher ist das Ergebnis des Eurovision Song Contests nicht nur enttäuschend. Diejenigen, die für Jamala Abgestimmten haben, haben in der Tat für die Fortsetzung der Repressionen Kiews gegen das eigene Volk gestimmt. So hat auch Jazenjuk geschrieben: »Die Ukraine gewinnt und wird gewinnen, die Krim wird ukrainisch!« …

Paradoxerweise, weil Jamala anscheinend gegen Repressionen gesungen hat… Ich kann mir nicht eine Person mit einem Gewissen und gesundem Menschenverstand vorstellen, die sich über einen solchen »Pyrrhussieg« freuen würde. Ich kann mir kaum die Musik-Fans vorstellen, die einen »Hit« über 1944 singen. Es gibt keinen Sinn mehr, sich den ohnehin jämmerlichen Wettbewerb anzuschauen.«

Quelle: <https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=1043501455730616&id=100002123135703&pnref=story>

Presseschau

Deutsche Medien

Die Zeit: Ukraine gewinnt ESC mit Lied über Vertreibung (15.05.2016)

(…) »Dass solch ein Lied den Gesangswettbewerb gewinnt, gibt dem ESC auch eine politische Dimension. Russlands Annexion der Krim 2014 wird in dem Lied nicht erwähnt. Doch durch den Sieg Jamalas könnte dieses Thema wieder stärker in den öffentlichen Fokus rücken. Die Krimtataren, die eine turksprachige, überwiegend muslimische Minderheit darstellen, berichten davon, dass ihre Unterdrückung seit der russischen Annexion der Schwarzmeerhalbinsel zugenommen habe.« (…)

Quelle: ZEIT Online, <http://www.zeit.de/kultur/musik/2016-05/ukraine-gewinnt-den-eurovision-song-contest-deutschland-verliert>

Taz.de: Die ukrainische Eurovisionsheldin (15.05.2016)

(…) »Jamala sagte später, sie habe für ihr Land gesungen, für die Geschichten, die nicht so oft in Europa erzählt werden, Geschichten von Vertreibung, von Hungertoden, von Deportationen – die es ja auch noch während des Holocaust in der Ukraine gab. Sie sprach, als hätte ihr der US-Historiker Timothy Snyder (»Bloodlands«) das wissenschaftliche Skript geschrieben – eine ästhetische Zuspitzung in der Sprache des Pop über die blutigen Landschaften der Ukraine in den vierziger Jahren und wie sehr die dortigen Überlieferungen von den Taten bis in die Jetztzeit nachwirken.« (…)

Quelle: Jan Feddersen, <http://www.taz.de/Jamala-gewinnt-den-ESC-in-Stockholm/!5305466/>

Deutsche Welle: Der Eurovision Song Contest war nie unpolitisch (15.05.2016)

(…) »Der Sieg von Jamala beim Eurovision Song Contest ist nur ein weiterer Beleg dafür, dass der ESC nie unpolitisch war. Das war er nicht bei der Geburt, als nur 11 Jahre nach dem Ende eines schrecklichen Kriegs sieben Länder, die sich vor kurzen noch bekämpften, zu einem musikalischen Wettbewerb nach Lugano in die Schweiz kamen. Das war er nicht, als die deutsche Sängerin Nicole auf dem Höhepunkt der Friedensbewegung in Europa »Ein bisschen Frieden« sang. Das war er auch damals nicht, als immer mehr osteuropäische Länder begannen, an diesem Wettbewerb teilzunehmen. Der Eurovision Song Contest war schon immer ein Abbild dessen, was gerade in Europa geschieht.

2016 gaben europäische Zuschauer ihre Stimmen einem Land, das sich für Europa ausgesprochen hatte und für diese Wahl vom stärkeren Nachbarn hart bestraft wurde. Die Ukraine braucht diese Sympathie und Unterstützung. Sie darf diesen europäischen Vorschuss nicht verspielen. Neben aller Politik dürfen wir am Ende aber Eines nicht vergessen: Ohne eine künstlerische Leistung, ohne eine tolle Stimme und eine ausdrucksvolle Darbietung, hätte Jamala nicht gewonnen. Denn schließlich ist der Eurovision Song Contest ein musikalischer Wettbewerb.«

Quelle: Andreas Brenner, <http://www.dw.com/de/kommentar-der-eurovision-song-contest-war-nie-unpolitisch/a-19258736>

Russische Medien

Izvestia: Das ukrainische Volk stimmte für Russland (15.05.2016; inoffizielle Übersetzung)

(…) »Für Russland ist der Wettbewerb eine wichtige Lektion: Wenn wir nach den europäischen Regeln spielen, als ob diese ehrlich wären, werden wir getäuscht. Gerade für Russland werden die Regeln geändert, so dass es verliert. Russland muss aufhören, nach Regeln der anderen zu spielen; es muss aufhören so zu tun, als ob sie ehrlich sind. Sie sind unfair gegenüber uns und gerade wegen uns.«

Quelle: Politologe Sergey Markow, <http://izvestia.ru/news/613696#ixzz49ZwDoHKg>

Pravda.ru: Westliche Medien erstaunt: Jamala sollte disqualifiziert werden (15.05.2016; inoffizielle Übersetzung)

(…) »Und wenn man nicht nur über Eurovision, sondern auch über die Politik im Allgemeinen spricht, dann hat Europa in diesem Jahr erneut seine »demokratischen Standards« demonstriert. Es spielt keine Rolle, was die europäische Mehrheit denkt; wichtig ist, was »die richtigen Menschen aus der Jury« entscheiden. Alles ist logisch. Aus dem normalen Musikwettbewerb Eurovision ist endgültig eine offene politische Farce geworden. Das enttäuscht natürlich.« (…)

Quelle: <http://www.pravda.ru/news/showbiz/15-05-2016/1300965-smi-0/>

Nowaja Gaseta: Die Schlacht um Gayropa, wovon Europa selbst nichts weiß (17.05.2015; inoffizielle Übersetzung)

(…) »Der dritte Platz von Sergey Lasarew bei der Eurovision wurde in Russland auf dem höchsten Niveau kommentiert! Alle haben ihre Meinung über den verräterischen Schlag vom gemeinen Gayropa im Informationskrieg geäußert! (…)

Am schrecklichsten ist aber die Tatsache, dass Gayropa selbst noch mehr gelitten hat. Großbritannien zum Beispiel landete bei der Eurovision auf Platz 24 und Deutschland war sogar Letzter. (…) Aber leider kam weder David Cameron noch Francois Hollande auf die Idee, die Ergebnisse des Song Contests zu kommentieren. (…)

Und nur unter der Reichweite der russischen Raketenabwehrtürme – das heißt in Armenien, Weißrussland, der Ukraine, Estland, Lettland – weiß das treue russischsprachige Publikum, dass »Eurovision« ein neues Stalingrad ist, die Schlacht bei Megiddo, wo, wenn nicht der letzte, dann der vorletzte Kampf gegen den Antichristen und das Böse geschieht.« (…)

Quelle: Julia Latynina, <http://www.novayagazeta.ru/columns/73108.html>

Zum Weiterlesen

Analyse

Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022

Von Svitlana Biedarieva
Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Transformationen, die in der ukrainischen Kunst seit Beginn der vollumfänglichen Invasion im Februar 2022 gegen die Ukraine erfolgt sind. Es wird untersucht, wie die Arbeiten der Künstler:innen die Zugehörigkeit der Ukraine zum postsowjetischen Raum im Kontext kolonialer russischer Narrative neu interpretieren und bestreiten. Sie thematisieren darüber hinaus aus dekolonialer Perspektive das Trauma der anhaltenden, weit verbreiteten militärischen Gewalt durch Russland, der die Menschen ausgesetzt sind. Diskutiert wird auch der politisch-künstlerische Widerstand gegen die Invasion.
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Analyse

Der russisch-ukrainische Erdgasstreit: Fortsetzung ohne Ende?

Von Jonas Grätz
Die Unterbrechung der Gaslieferungen durch Russland im Januar 2009 liegt nun bereits fünf Monate zurück. Die damals geschlossenen Gasverträge konnten den Gasfluss zwar wieder herstellen, haben jedoch die zugrunde liegenden strukturellen und institutionellen Probleme nicht gelöst. Einige Probleme treten heute noch deutlicher zu Tage. Der Artikel beleuchtet die Entwicklungen seit Unterzeichnung der Verträge. Zentral sind dabei Fragen nach der Begleichung der Gasrechung, der Rolle der EU und der Funktion der Zwischenhändler. (…)
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