Justizreform: Kognitive Dissonanz mit Hoffnung auf Fortschritt

Von Roman Kuybida (Zentrum für Politik und Rechtsreform, Kiew)

Zusammenfassung
Donnerstag, der 02. Juni 2016 könnte als einer der produktivsten Tage der derzeitigen Werchowna Rada gelten. Dies bezieht sich nicht auf die Anzahl der verabschiedeten Beschlüsse, sondern auf das Ausmaß der Veränderungen, die mit den verabschiedeten Gesetzen verbunden sind, und auf den Grad der Unterstützung durch die Parlamentsmitglieder. Das Parlament hat mit der Ergänzung der Verfassung, der Verabschiedung einer neuen Justizgesetzgebung und außerdem mit neuen Gesetzen zur Urteilsvollstreckung die lange erwartete Justizreform auf den Weg gebracht.

Einleitung

Man könnte große Hoffnungen auf diese Veränderungen setzen, aber die Art und Weise der Verabschiedung einiger dieser Gesetze folgt einer tückischen Regel der ukrainischen Politik: Das Ziel heiligt die Mittel. Entgegen der parlamentarischen Geschäftsordnung wurde das enorme Justizgesetz als Arbeitsgrundlage über- und in diesem Zuge gleich vollständig angenommen, mit mündlichen Korrekturen durch den Vorsitzenden des Parlamentsausschusses. Die Verfassungsänderungen wurden erst durch die Stimmen des Oppositionsblocks und anderer Parlamentsmitglieder möglich, die früher der Partei der Regionen angehört hatten und bis dahin als die größten Kritiker der vorgeschlagenen Änderungen aufgetreten waren. Den endgültigen Preis für diese Stimme kann man nur erraten. Vielleicht hatte das Schwarzgeld-»Hauptkonto« der Partei der Regionen einen gewissen Einfluss; einige Tage zuvor waren Auszüge aus dem Konto in den Medien veröffentlicht worden, während die Originalunterlagen an das Nationale Anti-Korruptionsbüro weitergeleitet worden waren.

Aber von all dem abgesehen gibt es ein Ergebnis – die verabschiedeten Gesetze. Diese Gesetze könnten effektiv sein – im Gegensatz zu früheren Parlamentsbeschlüssen der vergangenen zwei Jahre, die nicht zur Stärkung des Vertrauens in die Fairness der ukrainischen Justiz beitrugen.

Vorherige »Verfahren« erfolglose Strategie

Das Parlament gründete seine Bestrebungen von vorneherein darauf, dass Richter Opfer des Janukowitsch-Regimes und Geiseln der Entscheidungen des Gerichtspräsidenten, der Höheren Eignungs-Kommission für Richter (HEKR) und des Hohen Justizrats (HJR) seien. Daher gab das Gesetz »Zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Justiz«, das im April 2014 verabschiedet worden ist, Richtern die Möglichkeit, die Situation zu bereinigen. Bis dahin entschieden sich Richter in den meisten Fällen dafür, denselben Gerichtspräsidenten im Amt zu belassen und griffen auf Gerichtsurteile zurück, um die Ernennung neuer Mitglieder für die HEKR und den HJR für lange Zeit zu blockieren. Diese Posten nicht zu besetzen bedeutete, keine Verantwortung für Richter zu haben.

Als nächstes verabschiedete das Parlament das Gesetz »Zur Gewährleistung des Rechts auf ein faires Verfahren« (Februar 2015), dass eine Beurteilung der Kompetenz (erneute Bescheinigung) aller Richter einführte. Der Rat der Richter arbeitete bis zum Ablauf der gesetzlichen Frist für die Überprüfung von Richtern am Obersten Gerichtshof und Obersten Zivilgerichten keine Methode zu Durchführung einer solchen Erhebung aus. Die HEKR konnte erst in diesem Jahr die Überprüfung für Richter an Amtsgerichten beginnen. Gleichzeitig wurden diese, aufgrund fehlender verfassungsrechtlicher Grundlage für die Abberufung von Richtern, die die Überprüfung nicht bestanden, zurück an die Schule für Richter geschickt.

Einige dieser Situationen waren richtiggehend komisch: Man kann die Herkunft des eigenen »Fuhrparks« nicht erklären? Geh und studiere an der Schule für Richter! Die Regierung bezahlt weiter das Gehalt, während kein Recht mehr gesprochen wird. Was ist das, wenn nicht ein Erholungsurlaub! Und fürchte keine Amtsenthebung, denn die Verfassung, die eine Liste von Gründen für die Absetzung von Richtern festlegt, sieht keinen für diesen speziellen Fall vor.

So war es auch bei den Richtern, die während der Ereignisse von 2013–2014 willkürliche Urteile gefällt haben: Nur eine kleine Anzahl von ihnen wurde für eine Absetzung vorgeschlagen. Aber selbst die, die abgesetzt wurden, waren dank der Entscheidungen des Obersten Verwaltungsgerichts ganz einfach in der Lage, ihre Posten zu behalten.

Im Laufe von zwei Jahren scheiterte die Justiz daran, nur ein einziges positives Signal an die Gesellschaft zu senden, dass Veränderungen in Gang sind. Die Justiz zeigte keinen Willen, ihre Mitschuld an der gesetzeswidrigen Machtergreifung Janukowitschs zuzugeben. Im Gegenteil demonstrierte sie gegenseitige Vertuschung und die Abwesenheit von Agenten des Wandels innerhalb des Justizapparats. Mit einigen wenigen Ausnahmen tauchte kein Richter auf (von denen, die ehrliche Arbeit machten), der eine zuverlässige Alternative zum aktiven Teil der Justiz, der allen positiven Veränderungen widersteht, hätte sein können.

Das Level des entgegengebrachten Vertrauens ist Ergebnissen soziologischer Studien zufolge das niedrigste in Europa (im Bereich von 5–10 Prozent) (s. Grafik 1 auf S. 6). Damit liegen die Gerichte genauso wie die Staatsanwaltschaften weit hinter anderen Regierungsinstitutionen zurück. Sogar Präsident, Regierung und Parlament genießen in der Öffentlichkeit ein größeres Vertrauen. In anderen europäischen Ländern rangieren die Gerichte mittlerweile weit vor den politischen Behörden.

Die Forderung der Gesellschaft nach radikalen Veränderungen, die zum Ziel haben, dem korrupten System ein Ende zu setzen, wird immer stärker. Nach Meinung der Öffentlichkeit, der Experten, der Investoren und internationaler Organisationen ist die Justizreform, neben der Anti-Korruptions-Reform, zum drängendsten Anliegen geworden.

Nur die Zeit wird zeigen, ob ihre Erwartungen in Erfüllung gehen. Gleichzeitig ist es schon jetzt möglich, die Verfassungs- und Gesetzesänderungen auszumachen, die eine Chance für Fortschritt bergen.

Veränderungen, die erfolgreich sein könnten

Im Gegensatz zur erfolglosen Reform der Staatsanwaltschaft werden Veränderungen im Justizsystem top-down beginnen und nicht bottom-up. Es wird ein neues vereinigtes Oberstes Gericht anstelle der zurzeit existierenden Kassationsgerichte geschaffen. Die neuen Richter werden mithilfe eines Auswahlverfahrens ausgewählt und es gibt die Möglichkeit juristische Positionen mit Juristen von außerhalb des Systems zu besetzen. Richter an den zurzeit bestehenden Gerichtshöfen haben die Möglichkeit, von ihrem Amt zurückzutreten oder sich für das Auswahlverfahren zu bewerben. Bisher konnten nur Richter mit einer gewissen Amtszeit an die höheren Gerichte berufen werden. Ein gewisser Anteil von ihnen verkörpert noch die negative informelle Praxis. So reproduzierte sich das System immer wieder von selbst.

Es wird möglich sein, schneller ein abschließendes Urteil für einen Fall zu erlangen, denn das existierende System aus vier Ebenen (Amtsgerichte, Berufungsgerichte, Fachgerichte, Oberster Gerichtshof) wird durch ein Drei-Stufen-System ersetzt (Amtsgerichte, Berufungsgerichte, Oberster Gerichtshof).

Das Amt des Richters wird attraktiver werden: um die besten Juristen außerhalb des Justizapparates zu gewinnen, ist eine spürbare Erhöhung der Justizgehälter vorgesehen. Die Gehälter der vorhandenen Richter werden nur bei erfolgreichem Abschluss der Kompetenz-Prüfung angehoben.

Richter, die bei der Prüfung auf Kompetenz, Integrität und Übereinstimmung mit den ethischen Grundsätzen »durchfallen«, werden sofort ihres Amtes enthoben, anstatt auf die Richterschule geschickt zu werden. Dasselbe gilt für Richter, die die ordentliche Herkunft ihres Vermögens nicht nachweisen können. Zurzeit ist dies noch kein Grund für eine Amtsenthebung. Fälle von Absetzungen von Richtern, die der Korruption für schuldig befunden wurden (abgesehen von der weiten Verbreitung dieses Phänomens), gibt es bisher nur vereinzelt.

Die Öffentlichkeit wird die Möglichkeit haben, in die Prüfung und Auswahl nicht nur als Beobachter, sondern auch mit Hilfe einer neuen Institution – den öffentlichen Integritätsrat – einzugreifen. Er wird von spezialisierten zivilgesellschaftlichen Organisationen gebildet und aus Juristen und investigativen Journalisten bestehen. Dieser Rat wird Informationen zur Integrität der Richter sammeln und auswerten und seine Erkenntnisse der HEKR vorlegen. Diese Erkenntnisse werden dann in eine offene (internet-basierte) persönliche Akte über den Richter aufgenommen und Gegenstand einer Überprüfung durch die HEKR sein. Im Moment werden die persönlichen Akten der Richter nur von den Regierungsbehörden zusammengestellt, und nur die HEKR hat Zugang zu ihren Inhalten.

Die Richter werden verpflichtet, über alle die Familienmitglieder, die auch für das Gerichtswesen, die Anwaltskammer oder die Staatsanwaltschaft arbeiten oder hohe Posten innehaben, Rechenschaft abzulegen. Für Falschaussagen werden Disziplinarverfahren gegen sie eröffnet werden. Diese Maßnahmen werden helfen, Clanstrukturen aufzudecken und Interessenskonflikte zu verhindern, weil Richter keine Fälle mehr bearbeiten werden, in die Familienmitglieder verstrickt sind.

Unter solchen Umständen werden einige Richter von selbst zurücktreten, aus Angst vor einer genauen Untersuchung durch die HEKR und, noch viel wichtiger, die Öffentlichkeit.

Den europäischen Standards folgend, werden Präsident und Parlament nicht mehr am Entscheidungsprozess zur Einsetzung und Amtsenthebung von Richtern beteiligt sein. Der Präsident wird jedoch für weitere zwei Jahre die Möglichkeit haben, auf Grundlage der Empfehlung des Obersten Justizrates (der neue Name des HJR) über die Versetzung von Richtern zu entscheiden. Mit anderen Worten, der Präsident wird, rein theoretisch, die Möglichkeit haben, die Karriere eines Richters, den er für untragbar für den Posten hält, zu blockieren. Die Venedig-Kommission hielt dies innerhalb eines begrenzten Zeitrahmens aus Gründen »nationaler Sicherheit« für zulässig. Wahrscheinlich in Bezug auf eine Situation, in der der HJR (die Mehrheit seiner Mitglieder besteht aus Richtern) versuchen würde, Richter zu unterstützen, die mit Janukowitsch verbunden waren.

Die rechtliche Immunität wird nicht abgeschafft, jedoch deutlich eingeschränkt. Im Falle einer Festnahme wegen eines schweren oder besonders schweren Verbrechens oder sofort nach Begehung einer solchen Straftat, wird für den Richter nach allgemeinen Regeln des Strafvollzuges eine Festnahme beantragt, so wie für jeden gewöhnlichen Bürger auch (Hinweis: illegale Vorteilsnahme fällt unter solcherart Verbrechen). In anderen Fällen ist die Zustimmung des Obersten Justizrates für die Anordnung einer Festnahme oder Inhaftierung erforderlich. Zurzeit wird diese Zustimmung vom Parlament erteilt, das ein politisches Gremium ist und deshalb häufig nicht schnell genug auf solche Anfragen reagieren kann, was dem Richter die Möglichkeit gibt, zu fliehen.

Auch dieser Bereich wird, wie die Vollstreckung von Urteilen, eine Entmonopolisierung erfahren. Private Vollzugsbeamte werden nun neben den staatlichen Vollzugsbehörden arbeiten. Wettbewerb in diesem Bereich sollte die Korruption eindämmen und die Effizienz in der Vollstreckung von Urteilen erhöhen. Erfahrungen aus Ländern, die ein solches System bereits eingeführt haben, zeigen die Effektivität von privaten Vollzugsbeamten.

Gleichzeitig werden die neu verabschiedeten Gesetze Bestimmungen enthalten, die Zweifel an den aufrichtigen Absichten aufkommen lassen, eine echte Justizreform durchzuführen.

Risiken

Vielleicht haben die Autoren des neuen Justizgesetzes aus Versehen den Gerichtspräsidenten der Janukowitsch-Ära den Vorzug gegeben. Gewöhnt daran, die Instruktionen der Politik zu befolgen, um ihre Posten weitere sieben Jahre zu behalten, geschah dies jedoch wahrscheinlich eher bewusst. Das Gesetz von 2014 beendete ihre Amtszeit; viele Richter haben sie jedoch erneut ins Amt gewählt. 2015 wurden sie als Gerichtspräsidenten das dritte oder sogar das vierte Mal in ihren Ämtern bestätigt, trotz der Beschränkung, die es verbietet, das Amt für mehr als zwei aufeinanderfolgende Wahlperioden innezuhaben. Damals erklärte der Rat der Richter, dass die vorangegangenen Amtszeiten keine Bedeutung haben, da jede der Wahlen zum Gerichtspräsidenten auf einem neuen Gesetz beruht hatte.

Die Logik hinter einer solchen Auslegung geht zurück auf die berühmt-berüchtigte Entscheidung des Verfassungsgerichts zu »Kutschmas dritter Amtszeit«, als das Gericht Kutschmas erste Amtszeit nicht zählte, weil bei seiner Wahl zum Präsidenten noch die frühere Verfassung galt. Dadurch bekam Kutschma grünes Licht für eine dritte Amtszeit, entschied sich aber glücklicherweise dafür, von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch zu machen.

Das neue Gesetz beinhaltet keine Schutzmaßnahmen, um zu verhindern, dass Gerichtspräsidenten zum vierten oder sogar zum fünften Mal gewählt werden, abgesehen von dem Verbot, das Amt für mehr als zwei aufeinanderfolgende Wahlperioden innezuhaben.

Außerdem verlangt das Gesetz vom Präsidenten, in Missachtung der Verfassung, die Ausstellung von Identifikationsbescheinigungen für Gerichtspräsidenten, die von der Richterkommission gewählt werden. Das könnte zu einer Situation führen, in der die Präsidenten der wichtigsten Gerichte vorgeblich vor ein Publikum geladen werden, um ihre Zertifikate zu erhalten, in Wirklichkeit aber, um informelle Kontakte mit präsidentiellen »Agenten« im Justizapparat zu knüpfen.

Trotz der Einführung eines öffentlichen Integritätsrates bekommt die Öffentlichkeit keine wirklich effektiven Instrumente an die Hand, um die Auswahl und Bewertung von Richtern zu beeinflussen. Aufgrund der »informativen« Natur der Stellungnahmen des neu gegründeten öffentlichen Rates für die HEKR kann letzterer diese einfach ignorieren. Mit anderen Worten: Diese Stellungnahmen werden keine entscheidende Rolle in der Bewertung der Integrität eines Richters spielen, weil die HEKR nicht verpflichtet ist, ihre von der Stellungnahme des Rates abweichende Meinung zu begründen oder in der Angelegenheit einstimmige Beschlüsse zu fällen. Darüber hinaus wird der öffentliche Rat überhaupt keinen Einfluss auf die Ausschreibungen für vakante Positionen an Amtsgerichten haben.

Es gibt in der HEKR keine Vertreter der Öffentlichkeit, und Richter machen die Mehrheit ihrer Mitglieder aus. Stattdessen sieht das Gesetz die Aufstockung der HEKR mit zwei zusätzlichen Mitgliedern vor, die vom Leiter der Staatlichen Justizverwaltung und dem Ombudsmann nominiert werden (in der Vergangenheit haben diese Beamte Richter zu HEKR-Mitgliedern ernannt). So bleibt die Gefahr gegenseitiger Vertuschung bestehen.

Was den Obersten Justizrat betrifft, so wird der HJR in seiner Funktion bis 2019 bestehen bleiben. Bisher hat er, auch ein Jahr nach seiner Gründung, dabei versagt, sich als Agent des Wandels innerhalb des Justizapparats zu beweisen. In diesem Gremium bilden Richter auch die Mehrheit und die Gefahr, dass das juristische System in seiner jetzigen Form bestehen bleibt, ist sehr hoch.

Zusätzlich verschiebt das Justizgesetz die Gründung des Obersten Anti-Korruptions-Gerichts auf unbestimmte Zeit, während es gleichzeitig dieses Gericht als erste Instanz für Fälle von Korruption in hohen Ämtern vorsieht. Die Stellung dieses Gerichts sieht keine weiteren Schutzmaßnahmen zur Sicherstellung seiner Unabhängigkeit, wie zum Beispiel ein spezielles Verfahren für die Auswahl der Richter, höhere Gehälter, ein eigenes Budget etc., vor. Der tatsächliche Wille der politischen Obrigkeiten, dieses Gericht wirklich zu einzusetzen, wird sich noch zeigen.

Experten haben außerdem auf große Probleme bei der Verfassungsänderung hingewiesen: Einführung des Monopols der Anwaltskammer auf Prozessvertretung, Erhaltung eines rein politischen Verfahrens zur Ernennung und Entlassung des Generalstaatsanwalts und die Verschiebung der Ratifikation des Römischen Statuts um drei Jahre.

Szenarien für mögliche Entwicklungen

Pessimisten (vielleicht trifft »Realisten« es hier besser) glauben nicht an die aufrichtigen Absichten der politischen Machthaber, ihren Einfluss auf die Justiz aufzugeben, trotz der Abschaffung einiger rechtlicher Einflussmechanismen. Sie befürchten eine Situation, in der die Führung eines neuen Obersten Gerichtshofes dazu benutzt wird, »eigene« Richter zu befördern und »Fremde« auszusortieren, während andere Gerichte das informelle System der Einflussnahme durch Gerichtspräsidenten bewahren werden.

Wenn man sich die Situation mit den Augen eines Optimisten anschaut, dann kann man hingegen erkennen, dass die Veränderungen gute Chancen für eine Justizreform eröffnen: Insbesondere durch die Erneuerung der Hierarchie der Gerichte und die Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit – auch wenn sich das über mehrere Jahre hinziehen wird. Zivilgesellschaftliche Organisationen und die Massenmedien werden alles in ihrer Macht stehende tun, um sicherzustellen, dass diese Chancen in vollem Umfang genutzt werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Ukraine auch bei ihren ausländischen Partnern punkten, wenn es um Bewertung des Niveaus der Einführung europäischer Standards geht. Damit die Verfassungsänderungen ihre volle Effektivität entfalten, ist es noch immer notwendig, ein neues Gesetz zum Obersten Justizrat, Gesetze zur Anwaltskammer und Staatsanwaltschaft sowie ein Gesetz zum Verfassungsgericht zu verabschieden und die Verfahrensvorschriften zu verändern. Und all das innerhalb der nächsten drei Monate.

Der Widerstand der Justiz wird erbittert sein. Es wird erwartet, dass das Verfassungsgericht eine große Anzahl an Verfassungsklagen erhalten wird, die vor allem zum Ziel haben, die wichtigsten Errungenschaften des Gesetzes nach und nach zu beschneiden. Ein schwerer Rückschlag könnte auch die Regierungsebene treffen; angesichts der hastigen Verabschiedung des Gesetzes wird es sicher noch einigen nachträglichen Änderungen unterzogen.

Doch trotz dieser kognitiven Dissonanz scheint es, als wäre letzten Endes ein gewaltiger Schritt in Richtung Reform des Justizsystems getan. Ob dies ein Schritt nach vorne sein wird, wird in vielerlei Hinsicht von jedem von uns abhängen und von unserer Fähigkeit, ein wachsames Auge auf all die Prozesse zu haben und beharrlich um unser Recht auf einen fairen Prozess zu kämpfen.

Übersetzung aus dem Englischen: Alena Göbel

Zum Weiterlesen

Analyse

Die Ukraine – ein streitbarer Rechtsstaat

Von Angelika Nußberger
Die Ukraine versteht sich nach ihrer Verfassung als »Rechtsstaat«. Strittig ist allerdings, wie diese verfassungsrechtliche Vorgabe eingelöst werden kann. Besonders großen Handlungsbedarf gibt es beim Umbau des Justizsystems, bei der Neudefinition der Rolle der Staatsanwaltschaft, bei der Verwirklichung der Grundrechte und bei der Stärkung der Autorität des Verfassungsgerichts. Die anhaltenden politischen Machtkämpfe haben zielgerichtete Reformen über Jahre hin sehr erschwert; seit der Machtübernahme von Viktor Janukowitsch wird versucht, den Reformstau im Eiltempo abzuarbeiten.
Zum Artikel
Analyse

Neues Justizgesetz – alte Probleme

Von Caroline von Gall
Die ukrainische Justiz ist heute weniger unabhängig als noch vor zehn Jahren, eine Bilanz der Orangen Revolution fällt insofern negativ aus. Es ist nicht gelungen, den Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Justiz in der Ukraine zu festigen, denn die notwendigen Reformen scheiterten am politischen Nahkampf der Parteien. Nach der Wahl von Präsident Janukowytsch im Februar 2010 wurde innerhalb kürzester Zeit ein neues Justizgesetz verabschiedet. Damit demonstrierte der neue Präsident Handlungsfähigkeit, die Chancen für eine unabhängige Justiz stiegen indes nicht. Das unter Janukowytsch verabschiedete Gesetz trägt wieder eine stark politische Handschrift. (…)
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS