Der Fall Saakaschwili: Politiker töten das Recht

Von Jewgenij Zacharow (Charkiw)

Am 25. Juli 2017 entzog der ukrainische Präsident Petro Poroschenko per speziellem Erlass Micheil Saakaschwili die ukrainische Staatsbürgerschaft, während sich Saakaschwili in den USA aufhielt. Am 10. September kehrte Saakaschwili trotzdem in die Ukraine zurück. Über beide Ereignisse wurde bereits viel und von vielen geschrieben. Trotzdem möchte ich die Aufmerksamkeit noch auf einige bisher ignorierte Aspekte richten, die mir wichtig erscheinen.

In Teil 1, Artikel 25 der ukrainischen Verfassung ist festgelegt, dass ukrainischen Staatsbürgern die Staatsbürgerschaft nicht entzogen werden kann und das Recht auf Änderung der Staatsbürgerschaft bedeutet, dass die Annahme und Aufgabe der ukrainischen Staatsbürgerschaft eine Frage der Entscheidung und Initiative der konkreten Person ist. Eine andere Interpretation ist aus rechtsstaatlicher Perspektive nicht möglich. Die Regelung in Teil 26, Artikel 106 der ukrainischen Verfassung über die Befugnisse des Präsidenten, dass der Präsident »die Entscheidung über die Annahme und Aufgabe der ukrainischen Staatsbürgerschaft sowie den Flüchtlingsstatus in der Ukraine trifft«, bedeutet, dass er als Garant der Rechte und Freiheiten der Menschen die Entscheidung der betroffenen Personen bei der Annahme bzw. Aufgabe der ukrainischen Staatsbürgerschaft bestätigen soll – mehr nicht. Der willkürliche Entzug der Staatsbürgerschaft gegen den Willen des Betroffenen ist meistens eine Verletzung der nationalen Verfassung.

Des Weiteren ist allgemein bekannt, dass Saakaschwili ausschließlich die ukrainische Staatsbürgerschaft besaß. Artikel 19 des Gesetzes über die Staatsbürgerschaft verbietet explizit den Entzug der Staatsbürgerschaft in den Fällen, in denen die betroffene Person dadurch staatenlos wird. Genau deswegen ist nach meiner Überzeugung der Präsidialerlass, der Saakaschwili die Staatsbürgerschaft entzieht, ein Zeichen politischer Willkür, eine vorsätzliche Verletzung der Verfassung und des Gesetzes über die Staatsbürgerschaft durch den Präsidenten. Falls in diesem Fall der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angerufen wird, ist zu erwarten, dass er die Maßnahme des ukrainischen Staates als unmenschliche Behandlung gemäß Artikel 3 der Europäischen Konvention von 1950 beurteilen wird.

Der Entzug der Staatsbürgerschaft von Saakaschwili ist eine eklatante Menschenrechtsverletzung, die einen Politiker trifft, der sich beim Präsidenten unbeliebt gemacht hat, so dass sie auch als typische politische Verfolgung einzuschätzen ist. Es ist bitter dies festzustellen, aber nach der moralischen Logik und dem ethischen Muster ähnelt dies sehr der politischen Verfolgung in der Sowjetunion als Menschenrechtsaktivisten – wie Peter Grigorenko, Lew Kopelew, Raissa Orlowa oder Jefim Etkind – während eines vorübergehenden Auslandsaufenthaltes die Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Dabei darf man auch nicht vergessen, dass der Entzug der Staatsbürgerschaft in der Sowjetunion als politisch-strafrechtliche Maßnahme bis fast zum Ende der 1960er Jahre offiziell vorgesehen war. Aber unser demokratischer Staat sollte sich doch von all diesen Überbleibseln und Vorurteilen der sowjetischen Vergangenheit lösen und diese nicht nachahmen und sei es unbewusst!

Wie geht es nun weiter? Saakasschwili hat angekündigt, dass er für die Rückgabe seiner Staatsbürgerschaft kämpfen wird. Wenn stimmt, was die ukrainischen und ausländischen Medien schreiben, ist der offizielle Grund für den Entzug der Staatsbürgerschaft, dass er in Einbürgerungsdokumenten nicht erwähnt hat, dass er in Georgien strafrechtlich verfolgt wird. Das heißt, er hat bewusst falsche Angaben zur eigenen Person gemacht. Saakaschwili selbst erklärt, dass die Unterschrift unter dem entsprechenden Dokument nicht von ihm stammt.

Der Grund für den Entzug der ukrainischen Staatsbürgerschaft erscheint aber sowieso lächerlich, weil zum Zeitpunkt der Verleihung der ukrainischen Staatsbürgerschaft allgemein bekannt war, dass gegen Saakaschwili in Georgien ein strafrechtliches Verfahren eingeleitet worden war, was in der Ukraine damals als Zeichen politischer Verfolgung durch seine Gegner interpretiert wurde. Wenn es darüber hinaus stimmt, dass Saakaschwili das gesetzlich vorgeschriebene Formular gar nicht selber unterschrieben hat, was sollen wir dann über die Arbeit des Staatlichen Dienstes für Migration und der Kommission für Fragen der Staatsbürgerschaft halten, die die volle Verantwortung für ordnungsgemäße Durchführung entsprechender Verfahren haben.

Allerdings kann genau aus dem Grund, dass die Dokumente für die Verleihung der Staatsbürgerschaft nicht ordnungsgemäß erstellt wurden, das Verwaltungsgericht Saakaschwili seine Staatsbürgerschaft nicht zurückgeben, weil diese gesetzwidrig verliehen wurde. So folgt auf eine gesetzwidrige Handlung die nächste. Diese Kette führt zu einer ausweglosen Situation, in der jede mögliche Lösung gesetzwidrig erscheint.

Am 10. September 2017 durchbrachen Anhänger Saakaschwilis die ukrainisch-polnische Grenze am Übergang Medyka in der Nähe des Ortes Schehyni und geleiteten Saakaschwili durch einen Korridor auf ukrainisches Territorium. Grenzbeamte und Polizei hatten die Anweisung, keine Gewalt anzuwenden. Dem war ein Versuch Saakaschwilis vorausgegangen, mit dem Zug aus Polen in die Ukraine einzureisen. Der IC Przemysl-Kiew wurde für einige Stunden in Polen aufgehalten. Nach einer späteren Erklärung der ukrainischen Bahngesellschaft befand sich im Zug ein Mensch, der kein Recht hatte in die Ukraine einzureisen.

Saakaschwili ist so durch eine illegale Einreise in die Ukraine zurückgekehrt. Dafür ist er vor Gericht zu einer Geldstrafe von 3.400 Hrywnja (umgerechnet ca. 110 Euro) verurteilt. Er erklärte, dass er gegen die Entscheidung Einspruch einlegen wird. Außerdem behauptete er, dass die Grenzbeamten seinen ukrainischen Pass beim Grenzübertritt gestohlen haben, statt ihn als ungültig zu beschlagnahmen.

Aus meiner Sicht ist die Hoffnung Saakaschwilis auf die Wiederherstellung seiner Staatsbürgerschaft durch ein ukrainisches Gericht irreal. Es ist daher zu erwarten, dass er sich an internationale Gerichte wenden wird. Auf diesen ersten Blick sind die Aussichten hier nicht schlecht. Wie oben dargestellt, verstößt der Erlass zum Entzug der Staatsbürgerschaft gegen ukrainisches Recht. Das internationale Recht sieht den Entzug der Staatsbürgerschaft nur ausnahmsweise vor, wenn eine legitime Begründung auf gesetzlicher Grundlage vorliegt und der Entzug zielführend und verhältnismäßig ist. Als Ausnahme zählt aber auch der Erhalt der Staatsbürgerschaft durch Betrug, indem bewusst irreführende Angaben und gefälschte Dokumente vorgelegt werden. Das bewusste Ignorieren der in Georgien laufenden Strafverfahren zum Zeitpunkt der Verleihung der Staatsbürgerschaft und der nachträgliche Verweis auf eben diese Strafverfahren als Begründung verletzt aber den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der politisch motivierte Entzug der Staatsbürgerschaft verstößt a priori gegen die Vorgaben des internationalen Rechtes. Aus diesen Gründen ist es schwierig, ohne das Gesicht zu verlieren, dem erneuten Auslieferungsantrag der georgischen Staatsanwaltschaft zu folgen.

Gleichzeitig wissen wir nicht, ob Georgien neue bisher unbekannte Informationen zur Begründung für den Auslieferungsantrag vorgelegt hat. Deshalb sollten keine voreiligen Schlussfolgerungen gezogen werden. Vielmehr muss die Begründung der staatlichen Juristen bezüglich der Verhältnismäßigkeit des Entzugs der Staatsbürgerschaft unter Einbeziehung der Schwere der Saakaschwili vorgeworfenen Straftaten abgewartet werden.

So hat Präsident Poroschenko eigenhändig dem fast schon vergessenen georgischen Politiker zu neuem politischen Gewicht verholfen. Saakaschwili ist jetzt wieder ein aktiver Spieler im ukrainischen Machtkampf, der den Präsidenten scharf kritisiert.

Es ist der Fluch unserer Politiker, dass Poroschenko und Saakaschwili in diesem Fall wie Zwillinge ähneln, indem sie nach politischer Zweckmäßigkeit handeln und dabei das Recht ignorieren, wenn das Recht ihnen im Wege steht. Solange Saakaschwili als Freund und Verbündeter des Präsidenten erscheint, wird er zum Gouverneur einer Region ernannt und erhält dafür schnell die Staatsbürgerschaft, obwohl es formale Hindernisse gibt. Sobald er zum Gegner wird und stört, erinnern wir uns an die formalen Probleme und entziehen ihm die Staatsbürgerschaft, obwohl Verfassung und Gesetz dies verbieten.

Übersetzung aus dem Russischen: Lina Pleines

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