Die Identität der russischsprachigen Staatsbürger der Ukraine

Von Volodymyr Kulyk (Institut für Politische und Ethnische Studien der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, Kiew)

Zusammenfassung
Auf Grundlage einer Analyse von Meinungsumfragen aus den Jahren 2012, 2014 und 2017 wird die Identität von russischsprachigen Staatsbürgern der Ukraine beschrieben. Es wird gezeigt, dass ihre stärkere Verbundenheit mit der Ukraine auf kleineren Veränderungen in ihrer ethnonationalen Identität in den vorangegangenen Jahren beruht. Statt eine Gemeinschaft zu formen, die sich durch ihre bevorzugte Sprache von anderen abhebt, haben die russischsprachigen Staatsbürger der Ukraine eine allmähliche Verwandlung von Sowjetbürgern zu Ukrainern vollzogen – und das ohne ihren Sprachgebrauch groß zu verändern. Die meisten von ihnen sprechen weiterhin vorwiegend Russisch. Dies ist jedoch nicht entscheidend für ihre Selbstidentifikation.

Einleitung

Im ersten Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren sowohl Experten vor Ort als auch im Westen der Ansicht, dass Russen und Russischsprachige die gesellschaftliche Stabilität oder gar die territoriale Integrität der neuen unabhängigen Staaten, in denen sie sich nun befanden, möglicherweise gefährden könnten. Selbst in Ländern wie der Ukraine, in denen die Russen eine kulturelle Nähe zur Titularnation aufzuweisen schienen, glaubten die meisten Autoren nicht, dass sich die Minderheit mit den nationalisierenden Maßnahmen, die vom Staat angeblich ergriffen wurden, abfinden würde. Der Widerstand der Russen wurde angesichts ihrer ganz eigenen ethnokulturellen Identität und ihres starken Interesses, diese zu erhalten, für unvermeidlich gehalten.

Zwei Jahrzehnte nach jenen Schlussfolgerungen ist klar, dass es sich bei dieser Sicht der Dinge um eine Fehleinschätzung gehandelt hat. Statt erfolgreich zu mobilisieren, um ihre Gruppeninteressen zu verteidigen, haben die Russischsprachigen in der Ukraine viel von der ihnen eigenen ethnokulturellen Identität verloren, die eine solche Mobilisierung hätte befördern können. Vor dem Hintergrund der Aggression Russlands im Jahr 2014 haben sich die meisten Russischsprachigen in der Ukraine, selbst in den vermeintlich prorussischen Regionen im Osten und Süden, eher mit ihren Mitbürgern als mit ihren sprachlichen »Brüdern« auf der anderen Seite der Grenze verbündet. Wie die folgende Analyse zeigen wird, beruht die beachtliche Hinwendung der Russischsprachigen zur Ukraine auf kleinen, allmählichen Veränderungen ihrer ethno-nationalen Identität in den vorhergehenden Jahren.

Statt eine Gemeinschaft zu formen, die sich durch ihre bevorzugte Sprache von anderen abhebt, haben die russischsprachigen Staatsbürger der Ukraine ohne einschneidende Veränderung ihres Sprachgebrauchs eine allmähliche Verwandlung von Sowjetbürgern zu Ukrainern vollzogen. Während die meisten von ihnen weiterhin vorwiegend Russisch sprechen, ist dies nicht entscheidend für die Frage, wie sie sich identifizieren.

Nationale Identifikation im Vergleich

Meine Analyse des Wandels der ethno-nationalen Identität der ukrainischen Bevölkerung basiert auf drei landesweiten Umfragen, die vom Kiewer Internationalen Institut für Soziologie (KIIS) zu unterschiedlichen Zeitpunkten vor und nach den Euromaidan-Protesten und der Aggression Russlands durchgeführt wurden: im Februar 2012, im September 2014 und im Februar 2017 (siehe Tabellen und Grafiken am Ende des Textes). Da die annektierte Krim und die besetzten Teile des Donbas für ukrainische Soziologen in den letzten Jahren nicht mehr zugänglich waren, habe ich die befragten Bewohner dieser Gebiete auch aus den zwei ersten Umfragen ausgeschlossen, um die Daten vergleichbar zu machen. Daher spiegeln die statistisch bedeutsamen Veränderungen der in den Tabellen präsentierten Ergebnisse (bedeutsam sind, grob gesagt, jene Veränderungen, die größer sind als 3 Prozent), die Veränderungen der öffentlichen Wahrnehmung in den Gebieten wider, die von der ukrainischen Regierung kontrolliert werden.

Zunächst wurde jeweils nach der primären Selbstbezeichnung gefragt (»Als was sehen Sie sich in erster Linie?«) und eine Reihe möglicher Antworten mit Bezug auf territoriale Gebilde verschiedener Größe gegeben. Vergleicht man die Ergebnisse der zwei zeitlich am weitesten auseinanderliegenden Umfragen (2012 und 2017), stellt man eine Zunahme der Verbundenheit der Menschen mit der Ukraine fest, im Vergleich zu einer abnehmenden Verbundenheit mit den meisten alternativen Gebilden sowohl regionaler als auch überstaatlicher Art. Dabei handelt es sich um eine Veränderung, die insbesondere durch den Euromaidan und den Krieg herbeigeführt wurde.

Tabelle 1 am Ende des Textes zeigt, welche Bedeutung unterschiedliche räumlich definierte Identitäten für jene Befragten hatten, die angaben, dass sie in ihrem Alltag ausschließlich oder überwiegend Russisch sprechen – vor dem Hintergrund der Umfrageergebnisse für die gesamte ukrainische Bevölkerung. Darüber hinaus werden die Antworten der Russischsprachigen nicht nur für die Gesamtukraine präsentiert, sondern auch für ihre beiden geographischen »Hälften«, von denen die eine den Westen und das Zentrum und die andere den Osten und den Süden umfasst. In diesen »Hälften« ist nicht nur der Anteil der Russischsprachigen sehr unterschiedlich groß, sondern auch die Geschichte der Ansiedlung der russischsprachigen Bevölkerung eine jeweils andere.

Tabelle 1 zeigt deutlich, dass sowohl die ukrainische Bevölkerung als Ganzes als auch ihr vorwiegend Russisch sprechender Teil dabei sind, eine stärkere Verbundenheit mit dem Land ihres Wohnsitzes zu entwickeln, und daher dazu neigen, sich in erster Linie unter nationalen Gesichtspunkten zu identifizieren. Gleichzeitig ist diese Identifikation unter den Russischsprachigen weniger stark ausgeprägt als unter denjenigen, die hauptsächlich Ukrainisch sprechen oder beide Sprachen gleichermaßen benutzen, und die Identifikation der Russischsprachigen mit ihrer näheren Umgebung bleibt ausgeprägter als bei anderen Sprachgruppen. Ferner bleibt der Abstand zwischen der russischsprachigen Bevölkerung in den beiden geographischen Hälften des Landes nicht nur bestehen, sondern vergrößert sich noch, da sich die russischsprachige Minderheit im Westen und Zentrum der ukrainischsprachigen Mehrheit zunehmend annähert, während die russischsprachige Mehrheit im Osten und Süden bei der Identifikation mit dem ukrainischen Staat und der ukrainischen Nation hinterherhinkt. Dieser Abstand zeigt deutlich, welche entscheidende Rolle die regionale Dimension bei Identifikationsprozessen in der Ukraine spielt.

Verschiedene Identitäten im Vergleich

Die zweite Frage setzte die Identifikation mit der Ukraine nicht nur zu anderen räumlichen Identifikationsmöglichkeiten in Bezug, sondern auch zu weiteren weit verbreiteten Identifikationen, wie zu denen über Geschlecht, Religion, Beruf, Ideologie, Ethnizität und Sprache. Leider wurde diese Frage nur in der Umfrage vom September 2014 gestellt (siehe Tabelle 2 am Ende des Textes), daher können wir zwar die damaligen Prioritäten analysieren, nicht aber ihre Entwicklung im Zeitverlauf. Gefragt, welche der angeführten zwanzig Begriffe sie am besten charakterisierten (es durften höchstens drei genannt werden), nannten die Befragten den Begriff »Ukrainer« häufiger als alle anderen Begriffe, wobei »Mann« bzw. »Frau« fast genau so populär waren. Obwohl unklar ist, was genau der Begriff »Ukrainer« für den einzelnen Befragten bedeutet – ob er staatsbürgerlich, ethnisch oder als eine Kombination aus beidem verstanden wird –, es ist eine Tatsache, dass diese Selbstwahrnehmung in der heutigen Ukraine extrem bedeutsam ist.

Es ist nicht verwunderlich, dass Menschen, die ihre Nationalität als »russisch« bezeichneten, deutlich seltener dazu tendierten, sich selbst als Ukrainer zu sehen, als jene, die »ukrainisch« als Nationalität angaben. Es überrascht allerdings, dass ein Achtel der sich selbst als Russen definierenden Befragten der Ansicht war, dass es wichtig sei, sich auch als Ukrainer zu sehen, woraus sich schließen lässt, dass sie letztere Identität vor allem staatsbürgerlich und erstere vor allem ethnisch verstanden. Für all jene Befragten, die im Alltag hauptsächlich Russisch sprachen, zeigte sich, dass sie sich weitaus häufiger als Ukrainer denn als Russen bezeichneten, was der oben erwähnten Prophezeiung der frühen 1990er Jahre, es werde sich eine sich klar abgrenzende russischsprachige Gemeinschaft bilden, deutlich widerspricht. Zwar tendierten die Russischsprachigen weniger stark dazu, sich als Ukrainer zu bezeichnen als jene, die vorwiegend Ukrainisch oder beide Sprachen gleichermaßen sprachen, doch identifizierten sich die meisten von ihnen nicht in erster Linie über Sprache sondern über Geschlecht, Wohnort (lokal/regional) oder über Religion.

Erneut gab es zwischen dem westlichen und östlichen Teil der Ukraine große Unterschiede in Bezug auf die Identifikationsmuster, insbesondere bei den russischsprachigen Bewohnern. Im Westen und im Zentrum tendierten Russischsprachige deutlich häufiger dazu, sich als Ukrainer zu bezeichnen, als im Osten und Süden, wo im Gegensatz dazu die lokale und regionale Identifikation weiter verbreitet war. Die Unterschiede zwischen den geographischen Hälften waren nicht nur vergleichbar mit denen zwischen den beiden sprachlichen Gruppen, die interregionale Differenzierung war in der Gruppe der Russischsprachigen stärker ausgeprägt als in der Gruppe der Ukrainischsprachigen. Selbst im Südosten, und das ist vielleicht am bemerkenswertesten, bezeichneten sich die hauptsächlich Russisch sprechenden Menschen eher als »Ukrainer« denn als »Russischsprachige« oder als »Russen«, und das trotz einer starken Betonung der russischen Sprache und Kultur als entscheidendem Element der eigenen Identität durch die lokalen Eliten.

Identität und Sprachgebrauch

Man sollte allerdings zur Kenntnis nehmen, dass das zunehmende »Ukrainischsein« der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine bedeutet, dass die meisten dieser Menschen nicht aufhören, Russisch zu sprechen, während sie (mehr) zu Ukrainern werden. Tatsächlich hat der Anteil derjenigen, die im Alltag hauptsächlich Russisch sprechen, in den Jahren der Unabhängigkeit nur geringfügig abgenommen, nicht zuletzt weil die junge Generation die ukrainische Sprache aufgrund der stärkeren Verwendung im Bildungswesen zwar besser spricht, sie aber nicht häufiger benutzt als die älteren Generationen, die unter dem Sowjetregime aufgewachsen und zur Schule gegangen sind. Obwohl in bestimmten Bereichen, wie im Bildungswesen, in der öffentlichen Verwaltung und in der familiären Kommunikation, mehr Ukrainisch gesprochen wurde, blieb die durch die Sowjetzeit verursachte Vormachtstellung des Russischen weiter bestehen oder wurde sogar noch ausgeprägter, besonders am Arbeitsplatz und beim Medienkonsum.

Der Euromaidan und der Krieg führten zu einer stärkeren Verbundenheit mit dem Ukrainischen, der als Nationalsprache empfundenen Sprache, und zur Entfremdung vom Russischen, das für viele Menschen die Sprache des Aggressors geworden ist. Trotzdem brachten sie einen großen Teil der Bevölkerung der Ukraine nicht dazu, den Sprachgebrauch radikal zu verändern. Obwohl viele Menschen, die zuvor fast ausschließlich Russisch gesprochen haben, nun stärker bereit zu sein scheinen, etwas Ukrainisch zu verwenden, zumindest in bestimmten Bereichen, handelt es sich dabei keineswegs um einen umfassenden Wechsel von einer Sprache zur anderen.

Die Umfragen von 2012 und 2017 zeigen eine nahezu identische Verteilung in Bezug auf die von den Befragten im Alltag hauptsächlich genutzte Sprache, sowohl für die Gesamtukraine als auch für die geographischen Hälften. Im öffentlichen Diskurs, insbesondere in den sozialen Medien, konnte man für beides zahlreiche Beispiele finden, sowohl für individuelle Erklärungen des Verzichts auf die unauslöschlich befleckte Sprache als auch für Widerstand gegen die als solche empfundene Verletzung des Rechts, diese zu benutzen. Die meisten Russischsprachigen bewegten sich jedoch zwischen diesen beiden Extremen, verließen sich auf ihre gewohnte Sprache, ohne diese Entscheidung zu kommentieren, und manifestierten so die Wahrnehmung derselben als ganz und gar normal.

Geringe Bedeutung einer russischsprachigen Identität

Der Hauptgrund für die geringe Bedeutung einer russischsprachigen Identifikation ist wohl das Fehlen klarer Grenzen zwischen der russischsprachigen Bevölkerung und dem Rest der Bevölkerung der Ukraine. Was in Umfragen, in denen mehr oder weniger willkürliche Kriterien für die Definition von »Russischsprachige« angesetzt werden, eindeutig erscheint, stellt sich im wirklichen Leben als großes Durcheinander heraus, in dem sowohl der Sprachgebrauch als auch die ethno-linguistische Identität alles andere als klar abzugrenzen sind. Die meisten Menschen in der heutigen Ukraine nutzen sowohl Ukrainisch als auch Russisch in ihrem Alltag – wenn auch zu einem sehr unterschiedlichen Anteil –, und sehr viele (laut Umfrage von 2017 handelte es sich gemäß Selbsteinschätzung um 21 Prozent) kombinieren die beiden Sprachen in mehr oder weniger gleich großen Teilen. Darüber hinaus betrachten selbst von denen, die überwiegend Russisch sprechen, sehr viele Ukrainisch als ihre Muttersprache (in der Umfrage von 2017 lag ihr Anteil bei 13 Prozent, während weitere 36 Prozent angaben, zwei Muttersprachen zu haben).

Ob diese Wahl nun von der ethnischen Herkunft, von der Idee des Ukrainischen als der Nationalsprache für alle Bürger oder von anderen Erwägungen geprägt wurde, den Menschen bedeutet ihre als solche wahrgenommene Muttersprache nicht weniger als die Sprache, die sie für gewöhnlich sprechen – wie in ihren Einstellungen zur Sprachsituation und Sprachenpolitik in einer Reihe von Umfragen deutlich wurde. Dieser Gegensatz zwischen ethno-linguistischer Identität einerseits und Sprachgebrauch andererseits wurde durch die Sowjetpolitik hervorgerufen, die einerseits die Identifikation der Ukrainer mit der ukrainischen Nation und »ihrer« Sprache und andererseits die Benutzung der russischen Sprache als der Hauptsprache gesellschaftlicher Mobilität und interethnischer Einheit förderte. Nach der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung blieb dieser Gegensatz bestehen und wurde sogar noch ausgeprägter, da sich immer mehr Menschen als Ukrainer ansahen ohne die namensgebenden Sprache gut zu sprechen. Wie die Analyse zu Anfang gezeigt hat, ist diese Tendenz nach dem Maidan und dem Ausbruch des Krieges noch stärker geworden, folglich nahm der Gegensatz weiter zu.

Damit eine einzelne Erscheinung aus der ethno-linguistischen Vielfalt stärker heraussticht, müsste der Staat oder ein anderer einflussreicher Akteur diese Erscheinung in seiner Politik und in seinen Diskursen betonen. In den fünfundzwanzig Jahren der Unabhängigkeit hat sich der ukrainische Staat zumeist mit einer solchen Betonung zurückgehalten, selbst wenn er der ukrainische Sprache den Vorrang eingeräumt hat und auf diese Weise ihren Sprechern einen gewissen Vorteil verschafft hat.

Die Förderung des Ukrainischen, die für gewöhnlich keineswegs aggressiv vonstattenging, führte nicht zu einer systematischen Diskriminierung der Russischsprachigen, die ihre bevorzugte Sprache am Arbeitsplatz, bei der Kommunikation mit Staatsbeamten und bei anderen Gelegenheiten meist weiter nutzen konnten. Selbst im Bildungswesen, in dem die Verschiebung zum Ukrainischen vielleicht am stärksten wahrnehmbar war, hatten die meisten, die ihre Kinder auf Russisch unterrichten lassen wollten (und das waren bei Weitem nicht alle, die selbst hauptsächlich Russisch sprachen), keine Probleme, eine entsprechende Schule zu finden.

Gewiss, viele Russischsprachige hatten den Eindruck, sie selbst oder Menschen wie sie würden diskriminiert, und dieser Eindruck kam bei ihnen häufiger vor als bei denjenigen, die hauptsächlich Ukrainisch sprachen. Allerdings hatte dieses asymmetrisch vorhandene Gefühl von Diskriminierung viel damit zu tun, dass Erstere gewohnt waren, die ganze Palette kommunikativer Praktiken in der von ihnen bevorzugten Sprache nutzen zu können, eine Gewohnheit, die Letztere sich nie zu eigen machen konnten. Dennoch gaben selbst 2006 auf dem Höhepunkt der Förderung der ukrainischen Sprache unter Präsident Wiktor Juschtschenko 57 Prozent der russischsprachigen Befragten in einer Umfrage des Zentrums für soziologische Forschung »Hromadska Dumka« an, sie hätten nie sprachliche Diskriminierung gegenüber Russischsprachigen erlebt, und nur 13 Prozent der Befragten sagten, sie hätten eine derartige Diskriminierung recht häufig erlebt.

Politischer Kontext

Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Fehlen einer weitreichenden Diskriminierung der Russischsprachigen und der starken Präsenz politischer Akteure, die die Interessen der russischsprachigen Wähler vertreten. Da russischsprachige Staatsbürger der Ukraine in vollem Umfang politische Rechte genießen, konnten sie jene Politiker, von denen sie glaubten, diese würden ihr Recht, die bevorzugte Sprache zu sprechen, schützen, in die Gemeinderäte, ins nationale Parlament und mitunter sogar zum Präsidenten wählen. Das bekannteste Beispiel für ein solches Wahlergebnis mit Bezug zur Sprache ist der Sieg von Leonid Kutschma in den Präsidentschaftswahlen von 1994, der durch die überwältigende Unterstützung von Russischsprachigen zustande kam, was viel mit Kutschmas Versprechen zu tun hatte, der russischen Sprache mehr Rechte einzuräumen. Obwohl Kutschma nach der Wahl keine Schritte unternahm, den uneingeschränkten Gebrauch des Russischen in allen gesellschaftlichen Bereichen zu garantieren, brachten die Stimmen der Russischsprachigen wiederholt ausreichend russischfreundliche Kandidaten ins Parlament, die es dann bewerkstelligten, die radikalsten Ukrainisierungsmaßnahmen während der Präsidentschaften von Kutschma und Juschtschenko aufzuhalten. Ferner sicherten diese Stimmen schließlich den Sieg von Wiktor Janukowytsch, der eine Gegenoffensive gegen die Ukrainisierung startete, deren Höhepunkt das neue Sprachgesetz von 2012 war, das die Position des Russischen deutlich stärkte und damit den de facto bestehenden Vorrang des Russischen in den meisten gesellschaftlichen Bereichen gesetzlich untermauerte.

Dieser Sieg, wie auch die früheren Erfolge von Janukowytschs Partei in den Parlamentswahlen von 2006 und 2007, waren das Ergebnis einer Mobilisierung der Wählerschaft im Osten und Süden durch Eliten, die die Orange Revolution ablehnten und die die Nähe zu Russland und die Benutzung der russischen Sprache für zentrale Werte jener Regionen hielten. Während diese Mobilisierung der Entstehung einer stärkeren Identifikation mit der Ukraine natürlich nicht zuträglich war, gab sie allerdings nicht der Identifikation über Sprache den Vorrang, sondern der über Region und Wohnort. Diese Mobilisierung hat nicht nur zum Überwiegen der regionalen und lokalen Identifikation im Osten und Süden beigetragen, sondern auch zur Entfremdung ihrer Bewohner von den Menschen im Westen und im Zentrum und damit zu einer Spaltung der russischsprachigen Bevölkerung.

Allerdings mussten die politischen Eliten um Janukowytsch, da sie die Macht in der gesamten Ukraine und nicht nur in ihrem südöstlichen Teil anstrebten, ein Gleichgewicht zwischen der Unterstützung der russischen Sprache und der Anerkennung der Bedeutung des Ukrainischen herstellen, genau wie ihre Gegner zumeist eine explizite Delegitimierung des Russischen und seiner Sprecher unterließen. Keine der großen politischen Parteien in der Ukraine trat ausschließlich als Vertreterin nur einer der beiden wichtigsten Sprachgruppen oder geographischen Hälften des Landes auf, auch wenn diese Sicht in Bezug auf einige Parteien weit verbreitet war. Die nicht stattfindende Institutionalisierung ethno-linguistischer Differenzen war nicht weniger wichtig für die nationale Einheit als es die Repräsentation verschiedener Gruppen in den Organen der Machtausübung und der Einfluss jener Gruppen auf die Politikgestaltung war.

Resümee

Während Politiker die fragile Balance zwischen den Interessen von Ukrainisch- und Russischsprachigen aufrechterhielten, nahmen sich die Mitglieder dieser vermeintlichen Gruppen zunehmend als ukrainische Staatsbürger oder einfach als Ukrainer wahr, was mit ihrer Partizipation in vielzähligen Bereichen, in denen diese Identität wichtig war, zu tun hatte – wie im Bildungswesen, bei Reisen mit dem ukrainischen Pass oder beim Mitfiebern mit ukrainischen Sportmannschaften, die gegen ausländische Teams antraten.

Nach zwei Jahrzehnten Unabhängigkeit setzte sich diese Identifikation sowohl in den beiden wichtigsten Sprachgruppen als auch in allen Makroregionen der Ukraine durch, auch wenn die »anti-orange« Mobilisierung die Verbreitung der Identifikation unter den Russischsprachigen im Osten und Süden etwas einschränkte. Der Ausbruch des Krieges mit Russland im Jahr 2014 bescherte den ukrainischen Staatsbürgern die neue Erfahrung, ihr Land zu verteidigen und/oder mit dem Angriff einer fremden Armee zu rechnen, eine Erfahrung, die, wie weithin angenommen wird, sowohl zur Zunahme der Identifikation mit der Ukraine als auch zur Entfremdung von Russland führte.

Infolgedessen nehmen sich Menschen, die überwiegend Russisch sprechen, keineswegs in erster Linie als Russischsprachige oder als Russen war. Die Popularität dieser beiden Identifikationsmuster zusammen genommen übertraf in der Umfrage aus dem Jahr 2014 die Popularität der Identifikation mit der Ukraine nicht. Im Westen und im Zentrum war die Identifikation mit der Ukraine deutlich stärker ausgeprägt. Sowohl die großen regionalen Unterschiede bei der russischsprachigen Identifikation als auch deren geringe Bedeutung im Vergleich zur Identifikation mit der Ukraine zeigen deutlich, dass es eine einheitliche russischsprachige Identitätsgruppe nicht gibt, sondern einfach nur Menschen außerhalb Russlands, die weiterhin vorwiegend Russisch sprechen.

Übersetzung aus dem Englischen: Katharina Hinz

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