Die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine im vergangenen Jahr
Nach ersten Schätzungen der Statistikbehörde ist das reale BIP im letzten Jahr um 2,2 Prozent gestiegen, was eine leichte Verlangsamung gegenüber dem Vorjahr 2016 bedeutet. Hier muss allerdings berücksichtigt werden, dass mit der Handelsblockade gegenüber den nicht kontrollierten Gebieten in der Ostukraine ab März 2017 ein negativer Sonderfaktor auftrat, der insbesondere die Industrie betraf. Der dadurch induzierte BIP-Rückgang betrug nach aktualisierten Schätzungen der Nationalbank 0,9 Prozent des BIP, das heißt etwas weniger als ursprünglich erwartet (1,3 Prozent).
Auch die externe Lage war relativ stabil, trotz der angesprochenen Handelsblockade. Der Außenhandel hat sich spürbar belebt, wobei der Anstieg der Warenimporte mit 21,1 Prozent den der Exporte (18,8 Prozent) leicht übertraf. Das Leistungsbilanzdefizit betrug 2017 vertretbare 3,5 Prozent des BIP und ist somit gegenüber dem Vorjahr leicht zurückgegangen. Hier spielten auch höhere Rücküberweisungen von Gastarbeitern im Ausland eine wichtige Rolle (zum Beispiel aus Polen). Der flexible Wechselkurs war relativ stabil und schwankte im Jahresverlauf gegenüber dem US-Dollar zwischen 25,6 und 27,5 Hrywnja pro US-Dollar. Die Nationalbank konnte ihre Devisenreserven langsam erhöhen.
Insbesondere aus fiskalischer Sicht ist das letzte Jahr erfolgreich verlaufen; das Haushaltsdefizit lag mit etwa 1,4 Prozent des BIP (nach nationaler Definition) deutlich unterhalb des ursprünglichen Zielwerts und auch unterhalb des Defizits des Vorjahres. Trotz zusätzlicher Aufwendungen für die Rekapitalisierung von staatlichen Banken (PrivatBank, Oschadbank) konnte im Vorjahr die staatliche Schuldenquote im Vergleich zum BIP erstmals deutlich gesenkt werden: von 81,2 Prozent (2016) auf 73,4 Prozent (2017). Diese Trendwende zeigt spiegelbildlich die Fortschritte im fiskalischen Konsolidierungsprozess.
Die Inflationsentwicklung war im vergangenen Jahr eine der wenigen negativen wirtschaftlichen Überraschungen. Im Jahresdurchschnitt 2017 betrug sie 14,5 Prozent und lag damit höher als im Vorjahr. Bedenklich ist die Tatsache, dass die Nationalbank ihr Inflationsziel (8 Prozent plus/minus 2 Prozentpunkte zum Jahresende) verfehlte; die Inflation betrug im Dezember 13,7 Prozent. Die Gründe für diese Entwicklungen lagen teilweise auf der Angebotsseite (zum Beispiel höhere Preise bei bestimmten Agrarprodukten), aber auch auf der Nachfrageseite. Hier ist insbesondere das starke Lohnwachstum zu nennen, welches zum Teil durch die wirtschaftliche Erholung, zum Teil aber auch durch die Verdoppelung des Mindestlohns im Januar 2017 verursacht wurde. Die angesprochene Migration von Arbeitskräften, insbesondere in Richtung EU scheint ein weiterer Faktor zu sein, der die Löhne in die Höhe treibt.
Stärkeres Wirtschaftswachstum in 2018
Die Tabelle auf der nächsten Seite liefert einen Überblick über die wichtigsten wirtschaftlichen Indikatoren.
Realwirtschaft/BIP
Nach dem Wegfall des Sonderfaktors »Handelsblockade« stehen die Zeichen in diesem Jahr gut für eine moderate Wachstumsbeschleunigung auf 3,2 Prozent. Das globale Umfeld mit hohem Wachstum (insbesondere auch beim Haupthandelspartner EU) ist hierbei hervorzuheben, ebenso die stabilen Rohstoffpreise.
Angebotsseitig sollten die Industrie und die Landwirtschaft einen Beitrag leisten. Nachfrageseitig werden Investitionen und der private Konsum vergleichbare Impulse für das Wachstum setzen, während Nettoexporte belasten. Die Investitionen sind dabei eng mit dem wirtschaftlichen Erholungsprozess verbunden, während der Konsum die hohe Einkommensdynamik widerspiegelt, die auch im Kontext der anstehenden Wahlen 2019 zu sehen ist. Nach erfolgter Anhebung von Mindestlohn und Renten in 2017 wurde der Mindestlohn zum Jahresanfang abermals erhöht, allerdings deutlich moderater als 2017 (damals Verdoppelung). Gleichzeitig kann eine weitere Erhöhung im Vorfeld der Wahlen zum Jahresende nicht ausgeschlossen werden.
Inflation
Als Reaktion auf die negative Inflationsentwicklung hat die Nationalbank seit Oktober 2017 bereits vier Mal die Leitzinsen angehoben, zuletzt um einen Prozentpunkt im März 2018 auf aktuell 17 Prozent. Im Jahresdurchschnitt sollte die Inflation auf 10 Prozent fallen, allerdings erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass zum Jahresende 2018 das Inflationsziel der Nationalbank (zwischen 4 und 8 Prozent) erreicht werden kann. Dies dürfte erst im Jahresverlauf 2019 der Fall sein.
Leistungsbilanz
Exporte und Importe werden auch in diesem Jahr weiter expandieren, möglicherweise in einem etwas reduzierten Tempo. Die Verringerung des Leistungsbilanzdefizits dürfte sich dabei auch in diesem Jahr fortsetzen; ein Defizit in Höhe von 3 Prozent des BIP ist zu erwarten. Eine moderate Entwicklung der externen Situation, die auch die Wechselkursentwicklung einschließt, würde es der Nationalbank ermöglichen, ihren graduellen Prozess der Liberalisierung von administrativen Devisenrestriktionen fortzuführen. Gleichzeitig arbeitet die Nationalbank auch daran, das gesamte System der Devisenregulierung auf eine zeitgemäße Basis zu stellen, und viele postsowjetische Regularien zu entfernen. Vor kurzem wurde ein solcher Devisengesetzentwurf beim »Nationalen Rat für Reformen« vorgestellt und positiv bewertet. Der Gesetzentwurf, der unter dem Motto »Alles, was nicht explizit verboten ist, ist erlaubt« steht, soll nun zügig zur Lesung in das Parlament eingebracht werden.
Staatsverschuldung und Haushaltssaldo
Der im Dezember 2017 angenommene Haushalt 2018 sieht ein Defizitziel von 2,5 Prozent des BIP vor, was in Bezug auf die Höhe im Einklang mit den Zielvorgaben des IWF-Programms steht. Angenommen es finden keine weiteren verschuldungsrelevanten Transaktionen statt (zum Beispiel im Hinblick auf die Bankenrekapitalisierung oder auf Naftogaz), sollte dies dazu führen, dass der Schuldenstand im Verhältnis zum (wachsenden) BIP in diesem Jahr auf 66 Prozent weiter fällt.
Reformpolitik seit 2014
Einer der wichtigsten Bereiche der ukrainischen Reformpolitik ist der Bankensektor, der sich seit 2014 – entgegen den Interessen vieler Oligarchen – radikal verändert hat: Von den ursprünglich 180 Banken Anfang 2014 sind nun nur noch 86 aktiv; das größte Kreditinstitut, die insolvente PrivatBank, wurde verstaatlicht. Insgesamt funktioniert die Bankenaufsicht deutlich besser als zuvor. Dank des harten Durchgreifens der Nationalbank und ihrer ehemaligen Chefin Hontarewa sind makroökonomische Risiken in Form einer Wechselkurs- oder Finanzkrise deutlich zurückgegangen. Außerdem lässt die Entkopplung von Oligarchen und Kreditwirtschaft auf ein »level playing field« für Kreditnehmer hoffen. Während früher viele Kredite an Oligarchen gingen, die die Banken selber besaßen, sollten in Zukunft die Kredite an die besten Investitionsprojekte gehen. Dies ist eine zentrale Voraussetzung für die Umstrukturierung der Wirtschaft zugunsten eines Mittelstands.
Auch die Reformen im Energiebereich sind beachtlich. 2014 betrug das Defizit von Naftogaz über 7 Milliarden US-Dollar (5,5 Prozent des BIP); inzwischen ist das Unternehmen der größte Steuerzahler im Lande und schüttet substanzielle Dividenden aus. Darüber hinaus hat das Land die Sicherheit der Energieversorgung erhöht.
Schließlich ist die viel bessere Kontrolle über die Staatsausgaben zu erwähnen, die unter anderem dank der transparenten elektronischen Vergabeplattform »ProZorro« erreicht wurde. Die oben genannten Beispiele machen deutlich, dass das Land seit 2014 in vielen Bereichen unbestritten Reformfortschritte aufzuweisen hat.
Gleichzeitig darf nicht verschwiegen werden, dass in zentralen Bereichen nach wie vor ein enormer Reformbedarf besteht. Dies gilt in erster Linie für die Justiz beziehungsweise die Rechtsstaatlichkeit (»rule of law«), aber auch für die Zollbehörde und teilweise für die Steuerverwaltung. Die mangelnden Reformen in diesen Bereichen erklären auch das nach wie vor problematische Geschäftsklima.
Aber auch in Bezug auf die Staatsunternehmen ist die Situation nicht zufriedenstellend. Zum einen ist die Governance weiterhin problematisch, zum anderen kommt die Privatisierung nicht voran. 2017 sollten die Privatisierungserlöse laut Haushaltsplan 17 Milliarden Hrywnja betragen, tatsächlich wurden lediglich 3,4 Milliarden Hrywnja erzielt.
Zum Reformtempo seit 2014
Das Forschungsnetzwerk »VoxUkraine« hat einen Index entwickelt, um das Reformtempo der Ukraine zu messen. Die Werte können zwischen minus fünf und plus fünf liegen. Die in Bezug auf verschiedene Bereiche (zum Beispiel Geschäftsklima und öffentliche Finanzen) aggregierte Reformperformance der Ukraine liegt seit der Etablierung des Index 2014 zwischen null und plus zwei. (siehe dazu Grafik 1 am Ende des Textes) Der positive Wert deutet darauf hin, dass das Land mit Reformen vorankommt. Der niedrige Wert macht aber deutlich, dass das Reformtempo zu gering ist. Aus Sicht von VoxUkraine wäre ein Tempo von über plus zwei akzeptabel.
Aber auch die geringen Ausländischen Direktinvestitionen deuten auf ein recht moderates Reformtempo hin. 2017 sind 2,1 Prozent des BIP als Direktinvestitionen ins Land geflossen; ein niedriger Wert im regionalen Vergleich. (siehe dazu Grafik 2 am Ende des Textes)
Neueste Entwicklungen: Grund zur Sorge
Das Reformtempo hat sich in letzter Zeit deutlich verlangsamt; in einigen Bereichen sind sogar Rückschritte zu verzeichnen: So sollten die Gaspreise automatisch – anhand einer Formel – angepasst werden; das ist aber nicht passiert. Das Moratorium für den Verkauf landwirtschaftlich genutzter Flächen ist abermals verlängert worden, und die neu geschaffenen Antikorruptionsbehörden werden von der Generalstaatsanwaltschaft stark unter Druck gesetzt. Auch das geforderte Antikorruptionsgericht wurde bisher nicht geschaffen; der in erster Lesung angenommene Gesetzentwurf berücksichtigt wichtige Empfehlungen internationaler Experten nicht. Somit bleibt die To-do-Liste des IWF sehr umfangreich; die Zukunft des Programms ist damit weiterhin unklar. Auch die EU hat die letzte Tranche der Makrofinanzhilfen nicht ausgezahlt, auch wenn sie zur Auflegung eines neuen Programms prinzipiell bereit ist. Dazu kommen tendenziell populistische Maßnahmen, wie die starke Anhebung der Renten und die erneute Anhebung des Mindestlohns nach dessen Verdoppelung Anfang 2017.
Der vorläufige Höhepunkt der Rückschritte aber ist der Gesetzentwurf »Kauf ukrainisch, bezahle Ukrainer« (Kupuj ukraïns’ke, plati ukraïncjam), welcher bereits die erste Lesung im Parlament passierte. Laut Entwurf sollen ukrainische Produkte bei öffentlichen Ausschreibungen ihren ausländischen Konkurrenten vorgezogen werden, selbst wenn sie bis zu 40 Prozent teurer sind. Diese protektionistische Maßnahme ist weder mit der vertieften und umfassenden Freihandelszone (DCFTA) noch mit der Welthandelsorganisation (WTO) kompatibel. Sie belastet darüber hinaus den Steuerzahler, kreiert bürokratische Hemmnisse und Korruptionsrisiken. Eine wichtige Reformleistung, die Etablierung der Vergabeplattform ProZorro unter dem 1. Vizeminister für Wirtschaft Max Nefjodow, würde im Falle einer Verabschiedung des Gesetzes massiv torpediert werden.
Wie sind diese negativen Entwicklungen zu erklären?
Einige Faktoren haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Erstes ist die Ukraine nun weitgehend makroökonomisch stabilisiert und nicht im gleichen Maße auf internationale Kredite angewiesen wie noch 2014/2015. Zweitens hat das Land nach mehrjähriger Abwesenheit nun wieder Zugang zum internationalen Kapitalmarkt: Im September 2017 wurde ein 15-jähriger Eurobond in Höhe von 3 Milliarden US-Dollar erfolgreich platziert; eine weitere Emission in diesem Jahr ist geplant. Drittens betonen politische Analysten, dass der EU seit Eintritt der Ukraine in die DCFTA und nach der Visaliberalisierung die Instrumente fehlen, um weitere Reformen von außen anzustoßen. Schließlich finden 2019 sowohl Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen statt; und vor den Wahlen werden bekanntlich ungern Reformen durchgeführt.
Gretchenfrage des weiteren Reformprozesses: Fortsetzung des IWF-Programms?
Eine sowohl für die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität als auch für die weitere Reformpolitik der Ukraine zentrale Frage liegt in der weiteren Zusammenarbeit mit dem IWF. Es sei daran erinnert, dass die letzte Kredittranche im April 2017 geflossen ist. Nach damaligem Planungsstand hätten in der Zwischenzeit bereits vier weitere Tranchen ausgezahlt werden sollen; tatsächlich wurde aber kein weiteres Geld überwiesen.
Gleichzeitig steht das Land vor hohen finanziellen Herausforderungen: So sind im Vorwahljahr 2018 beziehungsweise im Doppelwahljahr 2019 (Präsidentschafts- und Parlamentswahlen) über 10 Milliarden US-Dollar Schuldendienst für staatliche beziehungsweise staatsnahe Verbindlichkeiten zu leisten. Die offiziellen Devisenreserven betragen im Vergleich gegenwärtig 18,4 Milliarden US-Dollar. Auch wenn seit letztem Jahr wieder die Möglichkeit besteht, auf den internationalen Kapitalmärkten Eurobonds zu begeben, erscheint es fraglich, ob auf diesem Wege der gesamte Betrag zu einem vertretbaren Zins zu refinanzieren ist.
Vor diesem Hintergrund ist eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit dem IWF sehr wichtig. Es ist gegenwärtig jedoch unklar, wie es 2018 mit der Reformpolitik weitergeht. Der Einfluss des IWF und der internationalen Geber ist nach der erfolgreichen makroökonomischen Stabilisierung und der Visaliberalisierung durch die EU deutlich geringer geworden. Gleichzeitig positionieren sich ukrainische Politiker bereits für die Wahlen 2019; dies reduziert deutlich die Bereitschaft für weitere Reformen.
Angesichts dieser Ungewissheiten ist es für die internationalen Geber wichtig, die Situation genau zu verfolgen. Hierbei spielen auch Personalentscheidungen eine zentrale Rolle. Insbesondere darf mit Spannung erwartet werden, wer Nachfolger von Frau Hontarewa an der Spitze der Nationalbank wird; die Stelle ist bereits seit Mai 2017 vakant, und sollte so schnell wie möglich durch eine qualifizierte Fachperson besetzt werden. Unlängst wurde durch den Präsidenten der geschäftsführende Gouverneur Herr Smolij vorgeschlagen. Dieser Vorschlag muss jedoch noch vom Parlament bestätigt werden, was immer noch nicht passiert ist. Neben der Nationalbank spielen für die Wirtschaftspolitik auch das Finanzministerium und das Wirtschaftsministerium eine zentrale Rolle. Auch hier sollte beobachtet werden, wie sich reformorientierte Kräfte angesichts der dargestellten Herausforderungen positionieren.