Einleitung: Abschaffung oder Formalisierung?
Es ist schwierig, den Zeitpunkt auszumachen, an dem die Forschung zur Informalität den Schwung erhielt, den sie heute hat. Der Begriff der Informalität ist derzeit oft eine Worthülse, die in Artikeln, Büchern, Sonderausgaben und einer langen Reihe wissenschaftlicher Arbeiten aus vielen verschiedenen Regionen Verwendung findet. Darüber hinaus haben die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) und die Weltbank informelle Arbeit und Informalität im Allgemeinen als weltweit bedeutsame Themen ausgemacht. Sie fördern Debatten über die Frage, ob informelle Praktiken zur Gänze beseitigt werden sollten, um von Grund auf gleichere und gerechtere Gesellschaften aufzubauen, oder ob stattdessen die existierenden informellen Strukturen erhalten, jedoch formalisiert werden sollten.
Das Problem der Dichotomie von »Abschaffung/Formalisierung« hat zwei Seiten. Zunächst gibt es keinen obersten Richter, der – objektiv und/oder in gutem Glauben – eindeutig bestimmen könnte, welche Praktiken abgeschafft und welche erhalten werden sollten. Jede informelle Praxis kann kontextabhängig verschiedene Bedeutungen haben, so dass es nicht die eine Informalität gibt, sondern viele. Es können zwar generell »zwei Informalitäten« unterschieden werden, von denen sich die erste gegen den Staat richtet, während die andere ihm hilft, trotz vorherrschenden staatlichen Dysfunktionalitäten und Idiosynkrasien zu funktionieren. Selbst formal gegen den Staat gerichtete Praktiken können jedoch domestiziert oder sogar institutionalisiert werden, so dass sie letztlich dem Staat oder seiner Gesellschaft zugutekommen.
Es ist auch angesichts der vielen verschiedenen Bedeutungen, die Informalität im Laufe der letzten Jahre bekommen hat, unmöglich, sich für eine Position hinsichtlich der Formalisierung oder Abschaffung informeller Praktiken klar zu entscheiden. Denn das Konzept der Informalität wird heutzutage zur Erklärung von Entwicklungen in so unterschiedlichen Bereichen wie Architektur, Governance oder Korruption verwendet. Dies gilt vor allem für postsowjetische Räume, in denen die Forschung Informalität eine besondere Bedeutung unterstellt.
Die Vielschichtigkeit von Informalität sollte einen jedoch nicht davon abhalten, nach einem möglichen Interpretationsrahmen zu suchen. In etlichen Jahren der Forschung zur Ukraine sind mir einige zentrale Bedeutungen von Informalität begegnet: Entweder sie schadet dem Staat, aber nicht der Gesellschaft, oder sie schadet beiden oder sie nutzt sogar beiden, Staat wie Gesellschaft. Das Problem ist, dass nicht alle der von internationalen Organisationen als schädlich angesehenen Praktiken notwendigerweise auch schädlich sind oder von der Gesellschaft als schädlich wahrgenommen werden.
Genauso erzielen nicht alle gemäß internationaler und/oder normativer Standards für gut befundenen Praktiken notwendigerweise die gewünschten Ergebnisse, wie die Beschäftigung mit den vier in der Ukraine am häufigsten anzutreffenden Ausprägungen von Informalität zeigen soll.
Vier Facetten von Informalität: das Beispiel Ukraine
Elitär: Informelle Governance und »Sistema«
Betrachtet man in einem nationalen Kontext politische Institutionen, die (laut Theorie) kaum richtig funktionieren können, stellt man mitunter erstaunt fest, dass sie deutlich bessere Ergebnisse erzielen als erwartet. Damit lassen sich mindestens zwei Phänomene in der heutigen Ukraine erklären: Zum einen, dass sich die politischen Institutionen – um nicht zu sagen das ganze Land – ständig am Rande des Zusammenbruchs zu befinden scheinen, aber dennoch nicht zusammenbrechen. Zum anderen, dass externe Akteure, die in der Hoffnung, nicht in die bestehenden Dynamiken hineingezogen zu werden, ins System eingesetzt wurden, nicht in der Lage sind, diese Dynamiken zu durchschauen und so zu agieren, dass sie ihre Aufgaben erfolgreich bewältigen können. Das scheint zumindest aus der Ernennung diverser Ausländer zu Entscheidungsträgern in der Ukraine gefolgert werden zu können, etwa der von Alexander Kwitaschwili, der als Gesundheitsminister eingesetzt wurde, oder von Aivaras Abromavičius, dem ehemaligen Wirtschafts- und Handelsminister. Die ursprüngliche Hoffnung war, dass sie Neutralität und Effizienz garantieren können, da sie kein reales Interesse an der Begünstigung einzelner Personen haben würden. Beide gaben ihr Amt jedoch nach etwas über einem Jahr mit der Begründung auf, sie würden es einfach nicht schaffen, irgendetwas zu verändern.
Ein System, das funktioniert, wenn es das nicht sollte, allerdings nicht so, wie es die Theorie vorsieht, ruft unter Wissenschaftlern und Praktikern große Verwunderung hervor. Wie kann es sein, dass in einer scheinbar ineffektiven und zu weiten Teilen korrupten Umgebung Ergebnisse erzielt werden können – und sogar ganz ansehnliche? Wir sprechen hier etwa vom Gesundheitssektor, der ein gewisses Maß an Unterstützung bietet, obschon er hochgradig in der Kritik steht, oder vom Bildungsbereich, der trotz aller Missstände in der Lage ist, Studierende auszubilden. Diese Idiosynkrasie liegt der Definition von informeller Governance zugrunde und macht das Prinzip aus, das es internationalen Organisationen (darunter der EU-Kommission oder den Vereinten Nationen) erlaubt, irgendwie zu funktionieren. Zudem kommen Mechanismen von informeller Governance häufig zum Tragen, um Konflikte zwischen multinationalen Unternehmen, oder zwischen mächtigen und bürokratischen Institutionen zu regulieren und möglichst beizulegen.
Die Wissenschaftlerin Alena Ledeneva hat sich in ihrer Forschung wohl am intensivsten mit Informalität im postsowjetischen Raum beschäftigt. Ausgehend von der Rolle langfristig angelegter Beziehungen und der Praxis des »blat« (in Deutschland am ehesten mit »Vitamin B« zu vergleichen) in der russischen Gesellschaft und Politik hat sie den Begriff »sistema« (dt. System) geprägt, um über »Methoden informeller Governance« zu sprechen. »Sistema« bezieht sich auf eine Situation, in der hochgradig unzuverlässige und ineffektive Institutionen einzig durch das Handeln einer einzelnen einflussreichen Person (in ihrem Fall der russische Präsident Wladimir Putin) funktionieren. Diese Person weiß, welche Fäden zu ziehen sind, wer anzurufen ist und wie Schlüsselfiguren motiviert werden können, um Pläne in die Tat umzusetzen. Diese Illusion von Effektivität scheint zwar kurzfristig perfekt zu funktionieren, ist jedoch vom Handeln einer einzelnen Person – und eventuell ihrer Entourage – abhängig, so dass Strukturen und Abläufe nicht wiederholt werden können, wenn diese Person nicht mehr da ist.
Für die Ukraine hat Keith Darden eine weniger umfangreiche, aber ähnliche Untersuchung vorgelegt, die die paradoxe Effektivität eines Parlaments (unter Präsident Leonid Kutschma) zeigt, das im Vergleich zu anderen, ähnlich instabilen Ländern eine unerwartet hohe Anzahl von Gesetzen und Entscheidungen erarbeitet hat – und das in einer hochgradig korrupten und instabilen Umgebung. Mit anderen Worten: Das System hat funktioniert. Nicht in einer Weise, die erwartet wurde oder externen Beobachtern verständlich ist. Die verabschiedeten Gesetze können natürlich kritisiert werden, in der Ukraine wie auch anderswo. Im Hinblick auf die gesetzgeberische Funktion des Parlaments hat die Ukraine jedoch wesentlich größere Fortschritte gemacht als eine Reihe anderer Länder unter ähnlichen Bedingungen, die es nicht geschafft haben, ein arbeitsfähiges Parlament einzusetzen. Sollte eines Tages ein radikaler Reformversuch unternommen werden, könnte es also sinnvoll sein, zu versuchen, etwas von dem Wissen und den Synergien zu erhalten, die die Arbeit des Parlaments ermöglicht haben – statt zu versuchen, alles abzuschaffen und von Null wiederaufzubauen.
Klassisch: Schattenökonomie und Schwarzarbeit
Wie in den meisten Ländern der Welt werden auch in der Ukraine Einnahmen versteckt, Unternehmen »vergessen«, sich zu registrieren, und Löhne werden den Arbeitern (zumindest teilweise) unter der Hand bezahlt. Das ist keine randständige Praxis. Einigen Schätzungen zufolge liegt das Niveau der Schattentransaktionen in der Ukraine bei annähernd der Hälfte des Bruttosozialprodukts. Warum ist das so? Die Gründe sind vielfältig und beginnen bei Hürden, die Firmen von der Registrierung für die Steuer abhalten. Die Steuern für Firmen sind nach wie vor sehr hoch, so dass diese lieber einmal im Jahr Steuerprüfer bestechen oder »Schmetterlingsfirmen« betreiben (»firma babotschka«). Die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, ist auch deshalb gering, weil die meisten Ukrainer nicht glauben, dass ihr Staat genug für sie tut, indem er Steuergelder in Sozialleistungen investiert. In einer Umfrage vom Dezember 2015 glaubten 80 Prozent der Befragten nicht, dass der Staat ihre Interessen vertritt. 78,8 Prozent widersprachen auch der Aussage, die Regierung würde dem Wohl des Landes dienen. Mit einem so weit verbreiteten Misstrauen fällt es Unternehmen und ihren Managern schwer, außerhalb der Schattenökonomie zu operieren.
Zudem sind staatliche Kontrollen selten. Es gibt natürlich Steuerprüfungen und andere Maßnahmen, die die Kooperation der Steuerzahler forcieren sollen. Diese werden aber oft missbraucht, indem sie etwa von Unternehmen gegen ein konkurrierendes Unternehmen als Druckmittel oder Drohung eingesetzt werden, oder sie stellen einfach einen Versuch von Seiten der Finanzbehörden dar, eine Bestechung herbeizuführen.
Die Ukraine ist in dieser Hinsicht keineswegs einzigartig. Auf der ganzen Welt werden Arbeiter prekär eingestellt, und der informelle Sektor macht im Schnitt fast zwei Drittel der Nationalökonomien aus. Im Falle der Ukraine sind die Forschungen über diesen Aspekt jedenfalls weit fortgeschritten – eine große Menge Datenmaterial liegt vor und kann diskutiert werden.
Weit verbreitet: Informelle Zahlungen und Korruption
Dies ist die vielleicht am weitesten gefasste Kategorie von Informalität. Fasst man sie etwas flexibel, so kann jeglicher Austausch zwischen zwei oder mehr Akteuren als Korruption klassifiziert werden: eine Extrazahlung an eine Krankenschwester oder einen Arzt für eine Leistung; eine Zahlung zur Reduzierung der Wartezeit in einem öffentlichen Krankenhaus; eine Zahlung an einen Polizisten, um ein Bußgeld abzuwenden, oder an einen Uni-Dozenten für das Bestehen einer Prüfung. Mit der Zusammenfassung aller informellen Zahlungen in einer Kategorie geht ein doppeltes Problem einher. Zum einen umfasst diese Kategorie sehr unterschiedliche Arten von Zahlungen: die Zahlung mehrerer Millionen an einen Politiker, um den Abschluss eines millionenschweren Kontrakts zu erreichen, genauso wie eine Handvoll Euro, die einem Arzt gezahlt werden, um ihm für umsonst erbrachte Leistungen zu danken. Zum anderen kann dieselbe Geste abhängig vom Kontext verschiedene Bedeutungen haben. Eine vor einer medizinischen Untersuchung geforderte Zahlung kann als Erpressung angesehen werden, eine Zahlung nach erbrachter Leistung stattdessen als Zeichen der Dankbarkeit.
Statistiken über die Korruption im Land zeigen, dass diese sehr verbreitet ist und immer weiter zunimmt. Besonders stark betroffen sind der Gesundheitssektor und die Polizei. Der Begriff der Korruption wird allerdings in Bezug auf alles Mögliche verwendet. Die Kategorie umfasst immer mehr und bezieht sich nun schon auf soziale Phänomene wie das Geschenkemachen und gegenseitige Unterstützung; beides wird immer häufiger mit Korruption gleichgesetzt. Ich behaupte nicht, dass Geschenke nicht in einigen Fällen tatsächlich mit Korruption gleichgesetzt werden können. Es muss aber zwischen sozial bedeutsamen und rein ökonomischen Transaktionen unterschieden werden. Dieser in vielen Untersuchungen über das Land und die Region zentrale Aspekt hat mich veranlasst, Korruption als Unterkategorie von Informalität anzusehen, bei der die Monetarisierung von Austauschprozessen und die langfristigen Konsequenzen einer Transaktion betrachtet werden sollen.
Aufkommend: Informalität und Politikgestaltung
Man stelle sich einen Bürger vor, der durch sein Verhalten eine bestimmte Regel verletzt oder ein Gesetz übertritt. In einer Standardsituation würde er für deviant oder, in einem extremeren Fall, für kriminell gehalten werden. Multipliziert man diese Situation um das Tausendfache und wendet sie auf eine große Zahl von Bürgern an, erhält man, was James Scott als »Infrapolitik« definiert hat – eine Situation, in der die millionenfach wiederholte Akkumulation kleinerer widerständiger Handlungen sich stark auf die Politik eines Landes auswirken kann. In der Ukraine gibt es eine Reihe von Beispielen für diesen Trend, der mitunter als informelle Politikgestaltung oder informelle Governance bezeichnet wurde.
Insbesondere denke ich hierbei an die Sprachenkonkurrenz in der Ukraine. Seit der Orangen Revolution hat sich die Einstellung zum Ukrainischen stark verändert und das Ukrainische hat an Bedeutung gewonnen. Dennoch ist das Land von der quasi totalen Einsprachigkeit, die die Verfassung 1996 vorgeschlagen hat, in der Russisch den Status einer Minderheitensprache hat, weit entfernt. In etlichen Gegenden wird viel Russisch gesprochen, wobei das von einigen Narrativen, die behaupten, in der Ukraine werde ausschließlich Ukrainisch gesprochen, nicht anerkannt oder gar geleugnet wird. Die Aushandlung der verwendeten Sprache geschieht in solchen Gegenden informell, indem einige Bürger situationsbezogen Russisch sprechen. Entscheidet sich ein einzelner Bürger fürs Russische, kann das noch als Ausnahme gelten. Wenn aber eine erhebliche Zahl von Bürgern regelmäßig »eine Ausnahme macht«, lässt sich ein Widerstand gegen staatliche Vorgaben beobachten, der diese – zumindest in einigen Fällen – de facto zersetzt. Politik zielt auf die Veränderung bestimmter Verhaltensweisen oder Einstellungen ab. Als informelle Politikgestaltung wird ein Szenario bezeichnet, in dem der Staat eine Politik oder eine Regel einführt, gegen die offiziell wenige protestieren, die aber viele ignorieren, wobei es dem Staat in der Folge nicht gelingt, die Kontrolle zu übernehmen oder diejenigen zu bestrafen, die seinen Anordnungen nicht Folge leisten.
Das ist eine noch kaum genutzte Betrachtungsweise von Informalität, die bislang von nur sehr wenigen Forschungsarbeiten aufgegriffen wurde. Sie ist es jedoch wert, weiter erkundet zu werden. Die Nichteinhaltung einer bestimmten Maßnahme kann bedeuten, dass eine Politik gescheitert ist, oder dass sie auf anderen Wegen umgesetzt werden muss, so dass Informalität für die Politik ein Feedbackmechanismus und Werkzeug sein kann.
Schluss: eine, zwei, viele Informalitäten
Der Begriff Informalität wird auf (zu) viele verschiedene Situationen, Kontexte und Dynamiken bezogen, bis Informalität nicht mehr in den Dichotomien von gut oder schlecht, schädlich oder harmlos, nützlich oder unnütz gedacht werden kann. Anhand der oben beschriebenen Situationen wird deutlich, dass jede Manifestation von Informalität einige Vor- und einige Nachteile mit sich bringt. Entsprechend hängt die Entscheidung, einen bestimmten Ausdruck von Informalität zu tolerieren, zu beseitigen oder gar zu fördern, davon ab, welches Ziel man erreichen will. Dem Umstand, dass eine bestimmte Politik voraussichtlich bestimmte Ergebnisse erzielen wird, liegt eine Reihe von Annahmen zugrunde, die in der Theorie zutreffen, im lokalen Kontext jedoch verzerrt werden. Informalität kann als für diese Verzerrung zentral verantwortliches Element angesehen werden, das die konkrete Umsetzung einer Politik beeinflusst. Mit einem besseren Verständnis der Vor- und Nachteile von Informalität und ihrer Effekte in bestimmten Kontexten können mögliche Ergebnisse einer bestimmten Politik in einem gegebenen Kontext genauer eingeschätzt werden.
Es ist also wichtig, die möglichen Vor- und Nachteile eines bestimmten Typs von Informalität in einer bestimmten Sphäre zu berücksichtigen. Die nachfolgende Tabelle stellt einen solchen Versuch dar. Auf hoher politischer Ebene und in staatlichen Institutionen von Ländern mit einem exzessiven bürokratisch-administrativen Apparat scheint Informalität kurzfristig zweckmäßig, da sie die Funktionalität der Institutionen befördert. Langfristig wird sie die Entwicklung und Verbesserung der staatlichen Kapazitäten allerdings eher behindern. Genauso ermöglicht Informalität in Form von Schattenökonomien und informellen Zahlungen Menschen, zu überleben und Dinge ad hoc zu bewältigen. Wie auch die politische Informalität unterminiert ihr dauerhaftes Bestehen allerdings die Beziehung zwischen dem Staat, seinen Institutionen und Repräsentanten auf der einen und den Bürgern auf der anderen Seite. Hier wird die Notwendigkeit von Vertrauensbildung und besseren Governance-Strukturen deutlich. Gleichzeitig wird evident, dass Informalität nicht auf einen Schlag beseitigt werden kann, ohne den Bürgern für die Übergangsperiode zwischen einem Staat, der sie abschreckt, und einem Staat, der allmählich in der Lage ist, Verantwortung für ihre Bedürfnisse zu übernehmen, Überlebensstrategien anzubieten.
Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt