Die Eskalation im Asowschen Meer aus internationaler Perspektive

Von Elena Ostanina (IHS Markit Consulting, IHS Markit Consulting (Berlin))

Zusammenfassung
Am 26. November genehmigte das ukrainische Parlament die Verhängung des Kriegsrechts und bestätigte damit eine Entscheidung, die kurz zuvor Präsident Poroschenko und der Nationale Verteidigungs- und Sicherheitsrat getroffen hatten und die auch von der Opposition unterstützt wurde. Die Verhängung des Kriegsrechts, was die Regierung bisher trotz Krim-Annexion und der seit 2014 andauernden militärischen Kampfhandlungen im Donbass stets vermieden hatte, war eine Reaktion darauf, dass drei ukrainische Marineschiffe von russischer Seite mit militärischer Gewalt gestoppt wurden, als sie, auf dem Weg zum Hafen von Mariupol im Asowschen Meer, die Straße von Kertsch passieren wollten. Auf Grundlage des für 30 Tage verhängten Kriegsrechts kann die ukrainische Regierung eine ganze Reihe von Maßnahmen in den zehn Regionen, in denen das Kriegsrecht ab dem 28. November gilt, ergreifen. Eine Verschiebung der Präsidentschaftswahlen, was kurzzeitig zur Debatte stand, ist jedoch vom Tisch. Was sind die internationalen Implikationen der jüngsten Eskalation?

Zunehmende Spannungen in der Region um das Asowsche Meer

Aufgrund ihrer territorialen Lage gehören die Gewässer der Krim (darunter auch die Straße von Kertsch) von Rechts wegen zur Ukraine; seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 beansprucht Russland die Region jedoch faktisch für sich. Ein Kooperationsabkommen über die Nutzung des Asowschen Meers und die Straße von Kertsch von 2003 regelt die ukrainisch-russischen Beziehungen in der Region. Es erklärt die Gewässer zu Inlandsgewässern beider Länder und erlaubt russischen wie auch ukrainischen Schiffen – auch militärischen –, ungehindert durch das Asowsche Meer und die Straße von Kertsch zu navigieren. Seit im Mai 2018 die neu errichtete Kertsch-Brücke auf die annektierte Krim in Betrieb genommen wurde, halten die russischen Behörden routinemäßig Schiffe an, die unter ukrainischer oder europäischer Flagge auf dem Weg in die ukrainischen Häfen Mariupol und Berdjansk sind und dabei die Straße von Kertsch passieren. Auf diese Weise hielt der russische Grenzschutz bereits Hunderte Schiffe an, um sie zu kontrollieren, was manchmal mehr als 100 Stunden dauert. Das führte dazu, dass der Warenumschlag im Hafen von Berdjansk um zwanzig Prozent und im Hafen von Mariupol um zehn Prozent zurückgegangen ist. Die ukrainischen Behörden wiederum verhängten Sanktionen gegen 15 russische Schiffe wegen Überschreitung der ukrainischen Grenzen.

Aufgrund des gestiegenen Risikos eines russischen Militärangriffs – Russland hat seine militärischen Kapazitäten in der Region seit 2014 deutlich erhöht – beschlossen die ukrainischen Behörden, bis 2019 einen Marinestützpunkt im Asowschen Meer zu errichten und begannen, Marineschiffe in den Häfen von Berdjansk und Mariupol zusammenzuziehen.

In diesem Zusammenhang kam es zur jüngsten Eskalation, als am 25. November der ukrainische Schlepper Jany Kapu und zwei kleine bewaffnete Schiffe die Straße von Kertsch passieren wollten. Die ukrainische Marine hat laut eigener Aussage die russische Seite über die geplante Passage zuvor in Kenntnis gesetzt, jedoch keine Reaktion erhalten. Statt die Durchfahrt zu gewähren, blockierten russische Grenzschiffe die ukrainischen Schiffe und rammten das Schleppschiff. Unterstützt von zwei russischen Kampfjets und zwei Ka-52-Kampfhubschraubern eröffneten russische Grenzsoldaten kurzzeitig das Feuer auf die angehaltenen Schiffe, verletzten dabei sechs ukrainische Soldaten und beschlagnahmten alle drei Schiffe mit, so wird gemeldet, 23 ukrainischen Besatzungsmitgliedern. Zudem sperrte ein weiteres russisches Schiff die Straße von Kertsch für einige Stunden für die internationale Schifffahrt. Dass die russischen Behörden die Beteiligung Russlands an der Konfrontation explizit nicht leugnen, unterscheidet diesen militärischen Zwischenfall von der bisherigen Strategie Russlands, seine Beteiligung abzustreiten.

Internationale Bedeutung und militärische Reaktion

Indem Russland die Ukraine wirtschaftlich und militärisch von ihrem eigenen Territorium aus angreift, versucht Moskau, die internationalen Reaktionen auf den derzeit bilateralen Seekonflikt gering zu halten. In der Regel führen derartige Seeblockaden zu harten Reaktionen der internationalen Gemeinschaft (etwa 1967 auf die ägyptische Blockade der Straße von Tiran und 2011/12 auf die iranische Blockade der Straße von Hormuz). Im Fall der Blockade der Straße von Kertsch, die sich in den letzten Monaten bereits angebahnt hatte, sind die Risiken einer militärischen Konfrontation und die daraus folgende Notwendigkeit, die Ukraine zu unterstützen, erst kürzlich auf dem Radar der internationalen Gemeinschaft erschienen. Am 19. November erklärte die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Federica Mogherini, dass die EU plane, »angemessene und gezielte Maßnahmen« in Bezug auf die zu diesem Zeitpunkt noch friedliche Situation im Asowschen Meer zu ergreifen.

Doch weder EU noch NATO haben konkrete Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine angekündigt, von etwaigen militärischen Aktionen ganz zu schweigen. Die NATO hat ihre Präsenz im Schwarzen Meer im letzten Jahr im Rahmen von gemeinsam Militärübungen mit der Ukraine und Georgien zwar deutlich erhöht, sie ist gegenüber der Ukraine jedoch durch keinerlei Vereinbarungen gebunden und wird den russischen Angriff daher wohl kaum militärisch beantworten. Russland hat eindrucksvoll demonstriert, dass es innerhalb von etwa 30 Minuten in der Lage ist, die Straße von Kertsch zu sperren und damit der Ukraine den Zugang zum Asowschen Meer faktisch jederzeit abschneiden kann. Sollte ein Drittstaat die ukrainische Regierung durch militärische Präsenz im Asowschen Meer unterstützen wollen, so würde dies von Russland vermutlich blockiert werden. Die Gewässer in der Region werden so zur Spielfläche zweier Länder, deren Marinekapazitäten sehr unterschiedlich groß sind: der Ukraine und Russlands.

Um größere internationale Unterstützung zu erhalten, forderte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko die UN auf, eine Dringlichkeitssitzung abzuhalten, auf der er die internationale Gemeinschaft auffordern wollte, weitere Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Obwohl es die vorrangige Verantwortung der Vereinten Nationen ist, auf internationaler Ebene Frieden und Sicherheit aufrechtzuerhalten, ist es unwahrscheinlich, dass die UN nennenswerte Sanktionen gegen Russland verhängt, schließlich müssten alle fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats – darunter Russland – solch einer Entscheidung zustimmen. Weil Russland seine Vetomacht seit etlichen Jahren immer wieder zur Blockade einer Reihe von UN-Resolutionen eingesetzt hat, haben die Vereinten Nationen bereits erwogen, ihren ständigen Mitgliedern dieses Recht zu entziehen. Entsprechend befördert Russlands militärisches Vorgehen im Asowschen Meer ein möglicherweise schärferes Vorgehen der UN gegen ihre ständigen Mitglieder. Auch das könnte jedoch kompliziert werden, da die Satzung der Vereinten Nationen vorsieht, dass alle ständigen Mitglieder Änderungen zustimmen müssen.

Pro-ukrainische Allianz in der NATO

Auswärtige Regierungen werden der Ukraine im Fall einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland zwar kaum militärische Unterstützung zusichern. Der russisch-ukrainische Zusammenstoß im Asowschen Meer hat jedoch gezeigt, dass es unter den NATO-Staaten eine pro-ukrainische Lobby gibt. Die drei baltischen Länder – Lettland, Litauen und Estland – haben ihre Unterstützung für die Ukraine zum Ausdruck gebracht, gemeinsam mit den Regierungen Großbritanniens und Polens. Die Unterstützung aus den EU-Ländern könnte sich durchaus auf Überlegungen, eine UN-Friedensmission in die ukrainisch-russische Konfliktzone im Donbass zu entsenden, auswirken – eine Initiative, die Russland durch seine komplizierten Bedingungen seit fast zwei Jahren blockiert.

Wie geht es weiter?

Das Risiko eines direkten Kriegs zwischen Russland und der Ukraine steigt zwar kontinuierlich. Dass die russische Regierung in den nächsten Monaten militärische Angriffe starten wird, ist allerdings eher unwahrscheinlich. Ein Krieg oder jegliche offene militärische Konfrontation in der Region könnten zu zusätzlichen Wirtschaftssanktionen der US-Regierung und der europäischen Staaten gegen zentrale Bereiche der russischen Wirtschaft führen. Dieses Risiko wird die russische Regierung aufgrund der ohnehin schwachen wirtschaftlichen Lage des Landes vermeiden wollen. Ein Abklingen der massiven Aktionen von russischer Seite gegen die Ukraine würde die internationalen Reaktionen dagegen minimieren – und so die Konfrontation auf die ukrainisch-russische Ebene zurücksetzen.

Dennoch könnte sich die russische Regierung erhebliche außenpolitische Vorteile in der Region verschaffen. Durch die Demonstration seiner militärischen Überlegenheit hat Russland die ukrainischen Aufrüstungsbemühungen der Küstenregionen des Asowschen Meers vermutlich bremsen können, genauso wie die potenzielle Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten. Die Ukraine verfügt über keine nennenswerten militärischen Kapazitäten im Asowschen Meer und wird kaum in der Lage sein, Marinewaffen aus einem Drittstaat zu erhalten. Entsprechend wird sie Konfrontationen mit der russischen Marine wohl vermeiden. Dies wiederum bedeutet die weitere wirtschaftliche Blockade des Asowschen Meers durch Russland, ein Ansteigen der Spannungen innerhalb der Ukraine und wahrscheinlich auch Proteste in den betroffenen ukrainischen Küstenregionen Donezk und Saporischschja. Träte der unwahrscheinliche Fall eines Krieges mit Russland ein, könnte das ukrainische Militär zwar auf etwas größere, aber noch immer sehr begrenzte Kapazitäten der Luftstreitkräfte in der Region zugreifen. Es würde entsprechend hohe militärische Verluste erleiden.

Die innenpolitische Dimension

Die Verhängung des Kriegsrechts in zehn Regionen hat wegen der möglichen Verschiebung der für den 31. März 2019 angesetzten ukrainischen Präsidentschaftswahlen und der möglichen Einschränkung von Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit international zu Besorgnis geführt. Die Abhaltung von Wahlen und eines Vorwahlkampfs sind während des Kriegsrechts gesetzlich untersagt. Offizieller Wahlkampfbeginn ist in der Ukraine drei Monate vor dem jeweiligen Wahltermin, in diesem Fall der 31. Dezember 2018. Theoretisch käme eine Verschiebung der Präsidentschaftswahlen Präsident Poroschenko zugute, der in aktuellen Umfragen weit abgeschlagen ist (die Meinungsumfragen sehen seit geraumer Zeit Julia Tymoschenko vorne, die sich vermutlich auch im zweiten Wahlgang gegen alle anderen Kandidaten durchsetzen würde). Auf der außerordentlichen Rada-Sitzung am 26. November wurde das Kriegsrecht jedoch auf 30 Tage verhängt, statt wie zunächst vorgeschlagen auf 60, damit die Wahlen nicht verschoben werden müssen und wie geplant am 31. März stattfinden können.

Entgegen der vielfach geäußerten Annahme, dass der Konflikt Poroschenkos Wahlkampf Auftrieb verleihen könnte, kann die Situation im Asowschen Meer jedoch auch zum Gegenteil führen, denn sein Wahlkampf beruht auf drei Säulen: Glaube, Sprache und Militär. Poroschenko hat sich intensiv um die Autokephalie der Ukrainischen Orthodoxen Kirche bemüht, sich für die Förderung der ukrainischen Sprache eingesetzt und eine Verbesserung der finanziellen und militärischen Ausstattung der ukrainischen Armee, vor allem für die im Donbass stationierten Einheiten, in die Wege geleitet. In Bezug auf das Militär hat die jüngste Konfrontation mit Russland Poroschenko allerdings deutlich geschadet, zeigt sie die relative Schwäche der Armee im Vergleich mit Russland.

Fazit

Es ist nicht absehbar, dass die internationale Gemeinschaft auf die gestiegene Wahrscheinlichkeit eines Kriegs zwischen Russland und der Ukraine in der Region um das Asowsche Meer reagieren wird. Die Regierungen der EU und der USA könnten zwar ein neues Paket von Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängen, doch Deutschland und Frankreich haben bereits signalisiert, dass sie gegen neue Sanktionen sind. Das hätte auf die russischen Aktivitäten im Asowschen Meer jedoch nur sehr begrenzt Einfluss. Die Ukraine selbst verfügt über keine Russland ebenbürtigen militärischen oder wirtschaftlichen Mittel, um angemessen auf den zunehmenden Verlust der Kontrolle über das Asowsche Meer zu reagieren.

International betrachtet zeigt die russische Aggression im Asowschen Meer die weiter an Bedeutung verlierende Rolle der Vereinten Nationen für die Sicherung der internationalen Stabilität in der Region und die zunehmende Rolle regionaler Allianzen. Die Staaten, die über Zugang zum Schwarzen Meer verfügen, vor allem die Ukraine, Georgien und die Türkei (die derzeit mit der Ukraine über Rüstungsgeschäfte verhandelt), werden ihre bilateralen und internationalen Beziehungen sowie auch ihre militärische Kooperation in Zukunft wohl ausbauen, um die eigenen militärischen Kapazitäten zu erhöhen und auf die in Zukunft wohl zunehmenden russischen Ambitionen im Asowschen und am Schwarzen Meer adäquat reagieren zu können.

Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt

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